Wo bleibt die Entrüstung?

NSA-Skandal Die Geheimdienste spionieren mithilfe des Internets massiv die Bürger aus. Aber kaum jemanden scheint das wirklich zu stören
Ausgabe 26/2013
Während im Hotel "Air Express" des Moskauer Flughafens Edward Snowden über den Bildschirm flimmert, geht eine Rezeptionistin ihrer Arbeit nach
Während im Hotel "Air Express" des Moskauer Flughafens Edward Snowden über den Bildschirm flimmert, geht eine Rezeptionistin ihrer Arbeit nach

Von Edward Snowden gibt es nur ein einziges Bild. Es zeigt einen unscheinbaren jungen Mann, der ernst in die Kamera blickt. Inzwischen ist dieses Bild weltweit zur Ikone geworden: ein Mensch, der sich gegen das Überwachungssystem gestellt hat, dem er bisher gedient hat. Der den Mut aufbrachte, die Supermacht USA herauszufordern. Und vor dessen Enthüllungen Regierungen und Geheimdienste nun rund um den Globus ziemlich Angst haben.

Aber das ist nicht alles. Die Berichte über die gigantischen Überwachungsaktionen der USA und Großbritanniens haben auch das Vertrauen in die Freiheit des Internets erschüttert. Dass man mit seinen Angaben über Kreditkarten oder die Privatsphäre im Netz vorsichtig sein soll, ist eine Binsenweisheit im Web 2.0, die in jedem Datenschutzbericht nachzulesen ist. Aber das wirkt lächerlich, wenn wir Dank Snowden nun wissen, dass Großbritannien standardmäßig große Teile der gesamten Kommunikation abhört.

Allein 600 Millionen Telefongespräche bleiben jeden Tag in den Netzen der digitalen Späher vom britischen Geheimdienst Government Communications Headquarters (GCHQ) hängen – und das ist noch längst nicht der gesamte Fang. Dazu kommt noch die Online-Kommunikation über Mails und soziale Netzwerke. Wie umfassend die Überwachung ist, weiß niemand zu sagen. Nur so viel ist sicher: Die Abhörspezialisten vom britischen GCHQ rühmten sich in einem Dokument, aus dem der britische Guardian zitiert, sie produzierten „viel größere Mengen an Metadaten“ als die US-Abhörkonkurrenten von der National Security Agency. Und die speichern im Monat bis zu 67 Milliarden Datensätze. Das Klischee vom „Großen Bruder“, der alles überwacht, ist längst Wirklichkeit geworden – und zwar ohne, dass es die demokratischen Gesellschaften so richtig mitbekommen haben.

Snowden, der Idealist

Es gibt ein Interview mit Snowden, in dem er sich über seine Beweggründe äußert. Es wurde online geführt, die Fragen stellten die Leser des Guardian. Snowden postete: „Ich möchte nicht in einer Welt leben, in der alles, was ich mache und sage, aufgezeichnet wird. Ich will das nicht unterstützen und bin nicht bereit, das zu akzeptieren.“ Das klingt idealistisch und ist wahrscheinlich die einzige Haltung, mit der man dem enormen Druck, der auf dem 30-Jährigen lastet, standhalten kann.

Vier Jahre lang hat Snowden für die NSA gearbeitet, mit einem Jahreseinkommen von rund 200.000 Dollar. Sein bürgerliches Leben auf Hawaii, seine Freundin, sein Haus, all das ist seit Ende Mai Vergangenheit. Als er aufbrach, sagte er zu seiner Freundin nur, er werde ein paar Wochen weg sein – nichts Ungewöhnliches in Geheimdienstkreisen. Der NSA erklärte er, er müsse wegen seiner epileptischen Anfälle für mehrere Wochen behandelt werden. Dann flog er nach Hongkong.

Für die USA ist Snowden nun zum Staatsfeind Nummer eins geworden. Die Behörden werfen ihm Geheimnisverrat vor, im Falle einer Verurteilung droht ihm lebenslange Haft. Aber Snowden ist momentan nicht zu fassen. Stattdessen spielt er Katz und Maus mit der Obama-Administration. Nach einer Zwischenlandung in Russland auf dem Weg von Hongkong nach Ecuador, wo er Asyl beantragt hat, verliert sich seine Spur auf dem Moskauer Flughafen. Derweil ist zwischen den Vereinigten Staaten und China eine neue Eiszeit ausgebrochen, die Amerikaner nehmen es den Chinesen sehr übel, dass sie Snowden nicht ausgeliefert haben. Russland hingegen belauern sie mit einem gewissen Argwohn; was hat Wladimir Putin mit Edward Snowden vor?

Die Parallelen zu Bradley Manning, der vor drei Jahren Zehntausende von geheimen Regierungsunterlagen an die Enthüllungsplattform Wikileaks weiterreichte und dem derzeit in Fort Mead der Prozess gemacht wird, liegen auf der Hand. Und doch gibt es einen gravierenden Unterschied. Die Enthüllungen von Wikileaks bezogen sich alle auf Regierungshandeln oder auf Einsätze der US-Armee im Irak oder Afghanistan. Sie schadeten massiv dem Ansehen der USA und ihrer Politik.

Die Veröffentlichung von Snowden dagegn geht über diese Wirkung weit hinaus. Plötzlich sind wir alle von dem Abhörskandal betroffen – und zwar direkt. Mit der Massenausspähung steht ein integraler Bestandteil der westlichen demokratischen Gesellschaften zur Disposition: der Schutz der Privatsphäre. Sie ist der Rückzugsraum, ohne den freie Meinungsbildung nicht möglich ist. Früher dachte man, nur Diktaturen versuchen, ihre eigenen Bürger möglichst total zu überwachen. Das hat sich geändert. Das gilt nun auch für Demokratien.

Möglich ist dies durch das Internet geworden. Als Teil des täglichen Lebens nutzen wir es nicht nur zur Kommunikation, wir informieren uns, kaufen ein, buchen Reisen und bestellen Bücher. Aber wer dort Informationen sammeln kann, hat die Möglichkeit, nicht nur Individuen auszuspähen. Er kann ganze Gesellschaften durchleuchten.

Jene Fragen nach dem Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Sicherheit – wieweit das eine auf Kosten des anderen zu haben ist und wie eine ständig neue Balance aussehen könnte –, diese Fragen interessieren offensichtlich immer weniger Menschen. Anders ist nicht zu verstehen, warum die Reaktionen auf Snowdens Enthüllungen so zaghaft sind. In der Politik, aber vor allem in der Gesellschaft. Wo bleibt die Entrüstung? Der Widerstand in der alten Bundesrepublik gegen die Volkszählung 1983 mutet heutzutage wie ein Anachronismus an. Die damaligen Proteste mündeten in ein bis heute eindrucksvolles Verfassungsgerichtsurteil zur informationellen Selbstbestimmung. Alles Schnee von gestern. Heute hört man immer öfter: „Ich habe ja nichts zu verbergen. Lasst sie doch meine Daten lesen.“ Da ist etwas in Bewegung geraten, von dem man noch nicht weiß, wohin es führen wird. Offenbar hat das Internet nicht nur unsere Art zu kommunizieren verändert. Auch unser Verständnis von Privatheit und Öffentlichkeit scheint sich zu ändern.

Digitale Aufrüstung

Aber der Glaube an die Hybris der Geheimdienste, daran, dass die Privatsphäre künftig nicht mehr von Gesetzen geschützt wird, sondern von der Datenflut selbst, in der man hofft, dass die eigenen individuelle Informationen untergehen, das ist doch reichlich naiv. Viele Staaten, darunter auch Deutschland, stecken enorme Summen in die digitale Aufrüstung. Es ist nur eine Frage der Zeit (und des Geldes), bis die Überwachungsalgorithmen so ausgefeilt sein werden, dass sie Informationen und Zusammenhänge auch an den entlegensten Orten aufspüren können.

Wie weit Geheimdienste inzwischen gehen, um an die Daten der Bürger heranzukommen, konnte man Anfang der Woche im Guardian nachlesen. Schon vor zwölf Jahren schilderte ein Bericht des Europäischen Parlaments, wie die „Five Eyes“ USA, Großbritannien, Kanada, Australien und Neuseeland bei der Beschaffung von Daten zusammenarbeiten. In den meisten Fällen werden Glasfaserkabel, über die die gesamte Kommunikation von Telefon- und Onlinediensten läuft, einfach angezapft. Diese Kooperation hat es in sich. Denn es besteht seit Langem der Verdacht, dass sich die Dienste untereinander über die Beschaffung von Informationen absprechen. Wenn gewisse Methoden in einem Land gesetzlich verboten sind, übernimmt die Ausspähung ein Partnerland und reicht die Infos weiter. Man nimmt sich gegenseitig die schmutzige Arbeit ab. Auch Deutschland ist ja, wie nun bekannt wurde, Ziel des britischen Überwachungsprogramms Tempora.

Aber insgesamt fielen die Reaktionen auch auf diesen neuerlichen Skandal zaghaft aus. Das Innenministerium schickte einen Fragenkatalog an den britischen Botschafter. Eine interministerielle Taskforce soll gebildet werden. Und Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) verfasste einen Brief an Justizminister Christopher Grayling und Innenministerin Theresa May und bat um Aufklärung. Schließlich kommt so etwas nicht alle Tage vor. Doch ob die Briten reagieren werden? Bisher jedenfalls gehörte Transparenz ja leider nicht zu den Top-Prioritäten von Geheimdiensten.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Philip Grassmann

Chefredakteur des Freitag

Philip Grassmann

Die Vielfalt feiern – den Freitag schenken. Bewegte Zeiten fordern weise Geschenke. Mit dem Freitag schenken Sie Ihren Liebsten kluge Stimmen, neue Perspektiven und offene Debatten. Und sparen dabei 30%.

Print

Für 6 oder 12 Monate
inkl. hochwertiger Weihnachtsprämie

Jetzt sichern

Digital

Mit Gutscheinen für
1, 6 oder 12 Monate

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden