Popkultur: Die letzte Bastion des Politischen

Popkultur Ist Popkultur politisch? Diese Frage bewegt den Neomarxismus seit Adornos populären Thesen über die Kulturindustrie. Ein Plädoyer für ein politisches Popverständnis

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Popkultur: Die letzte Bastion des Politischen

Foto: Leon Neil/ AFP/ Getty Images

Für Adorno und Horkheimer war die Kulturindustrie kaum mehr als ein Erfüllungsgehilfe der kapitalistischen Ideologie. Die ganze kapitalistische Welt "wurde durch das Filter der Kulturindustrie geleitet". Durch dem es gelang "die Macht des ökonomisch Stärksten", die "technische Rationalität", auf die gesamte Gesellschaft auszudehnen.

Wenn man die weit verbreitete und etwas vulgäre Gleichsetzung von Kulturindustrie und Popkultur zu nächst akzeptiert, dann hat sich die Sichtweise auf die populäre Kultur in den neueren neomarxistsichen Theorien deutlich gewandelt. So sieht Slavoj Žižek in der Popkultur die einzig verbliebene Bühne des Klassenkampfes.

Dabei geht im Kern diese Auffassung der Popkultur von einem unglaublichen Siegeszug des Kapitalismus aus, dem es gelungen ist in den westlichen Dienstleistungsgesellschaften (wenn auch auf niedrigen Niveau) die physischen Grundlagen des Überlebens für jedes Individuum zu sichern, einen gewissen Wohlstand ab der sozioökonomischen Mittelschicht zu ermöglichen und somit scheinbar den revolutionären Klassenkampf den Nährboden entzogen zu haben. Unter diesen gesellschaflichen Umständen wird sowohl aus der etablierten Politik als auch aus den politischen Protesten nur noch eine entpolitisierte Verwaltung der Verhältnisse. Im Feld der Politik existiert heute keine Politik mehr.

Anhand der Reaktionen auf die zahlreichen Widersprüche des Systems wird dieses Konzept der entpolitisierten Politik deutlich. Diese Widersprüche sind unter anderem:

  • die immer weiter aufklaffende Schere zwischen Arm und Reich,
  • die deutlich niedrigere Lebenserwartung armer Bevölkerungsschichten,
  • das Funktionieren der Illusion der Chancengleicheit ausschließlich für die höheren sozioökonomischen Schichten,
  • der Ausbreitung des Rassismus in die Mitte und den Führungsetagen der Gesellschaft und
  • die Praxis die Kosten (ökonomischer) Katastrophen von den Verursachern auf die Opfer umzuwälzen (z. B. Wirtschafts- und Eurokrise).

Insgesamt ist es seit der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg gelungen den Kapitalismus zu einem globalen System der ökonomischen, ökologischen und sozialen Ausbeutung zu erheben, in dem der realativ hohe Lebensstandard der westlichen Mittel- und Unterschicht tagtäglich mit Menschleben in Indien, China oder Taiwan erkauft wird.

Dieses globale System der Ausbeutung sorgt im wesentlichen dafür, dass sich der Protest der, immer noch von den schärfsten sozialen Ungleichheiten weit entfernten deutschen Mittel- und Unterschicht in fragmentierten und entpolitisierten Klein- und Kleinstprotesten äußert.

Diese wenden sich mal gegen die Atomenergie, mal gegen das Transatlantische Freihandelsabkommen oder die Modernisierung von Bahnhöfen. Revolutionär, radikal oder politisch ist an diesen Protesten allerdings überhaupt nichts. Sie fragmentieren den Klassenkampf in Klein- und Kleinstproteste, die sich am kapitalistischen Effizienzkriterium orientieren.

In dem es den Protestierenden um das Erreichen konkreter Ziele, dem Atomausstieg, den Stop des Freihandelsabkommens oder eines Bahnhofsbaus und nicht um die Veränderung der Gesellschaft als Ganzes geht, ziehen sich nicht nur sich selbst jedweden revolutionären Zahn, sondern machen aus ihrem "politischen" Protest ein effizienzorientiertes öknomischen Projekt. Aus den Protestierenden werden so kostenlose Zuarbeiter für die etablierte Politik und Ökonomie, deren kritische Expertise dankbar angenommen wird. Nur ein wenig tröstlich ist es dabei, dass es ihnen zumindest gelingt das ganze System ein klein wenig erträglicher zu gestalten.

Durch diese weitesgehende Aufgabe revolutionärer Proteste und nicht durch den Niedergang des Staatssozialismus scheinen wir das Ende der Geschichte, das Reich des tausendjährigen Kapitalismus, erreicht zu haben.

Aber genau in diesem Triumph liegt, so Paradox es klingt und so unentdeckt wie es von Adorno und Horckheimer geblieben ist, die Chance zur Überwindung des Kapitalismus. Denn, sobald man sich vom Neomarxismus der Frankfurter Schule abwendet und sich den klassischen Werken Karl Marxs zuwendet, liegt gerade ein der Entfaltung des Kapitalismus die Grundlage für seine Überwindung. Dabei sind aus meiner Perspektive drei kapitalistische Entwicklungen seit dem Zweiten Weltkrieg, die besonders vielversprechend sind.

Dies ist die bereits Eingangs erwähnte:

  • immense Wohlstandssteigerung, die inzwischen auch die Bevölkerungsriesen Indien und China erreicht hat
  • die Entwicklung des Internets
  • die Entwicklung und Ausbreitung einer globalen populären Kultur

In der auf der Steigerung der landwirtschaftlichen und industriellen Produktion basierenden immensen Wohlstandssteigerung liegt der Kern der Überwindung des Kapitalismus. Durch diese sind bereits heute in Deutschland und anderen westlichen Dienstleistungsnationen nur noch knapp 25 % der Menschen mit der Produktion von materiellen Gütern (Industrie und Landwirtschaft) beschäfftigt.

Die restliche, weitesgehend von der Erbringung lebensnotwendiger Arbeiten befreite menschliche Leistungs- und Kreativkraft kann in ein Gesellschaftsystem münden, in dem es nicht mehr um die Erwirtschaftung eines Gewinns sondern um die möglichst gerechte Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens geht. Wird darüber hinaus noch die Masse an unproduktiver Produktion (funktionale Überproduktion von Nahrungsmitteln, Automobilen, Unterhaltungselektronik, etc.) verzichtet und die immer noch mehr als ausreichend produzierten Güter gerechter verteilt, ergibt sich durch eine sinkende Wirtschaftsleistung ein globales Weniger an Ausbeutung.

Koordiniert werden kann diese Gesellschaft, in der die Hauptaufgabe der meisten Menschen in der gerechten Gestaltung der Gesellschaft liegt, durch die Erfindung des Internets.

Durch die Radikalität des sozialen Wandels durch das Internet, der den sozialen Wandel durch die Dampfmaschine und den Buchdruck bei weitem übersteigt, sind zum ersten mal in der Geschichte der Menschheit die technologischen Vorraussetzungen für eine globale Demokratie vorhanden. Während Karl Marx Ende 1847 im Manifest noch von der Ausbreitung des Klassenkampfes mit Hilfe der Eisenbahn innerhalb weniger Jahre träumte, so würde er heute mit Hilfe des Internets von einer Ausbreitung innerhalb weniger Sekunden träumen.

Das Internet bildet also das technologische Rückgrat um die Organisation der Gesellschaft in die Hände der Menschen selbst und nicht mehr in die Hände einer politischen und wirtschaftlichen Eliten zu legen. Hierzu bedarf es aber zunächst der populären Kultur. Denn wenn Politik weitesgehend entpolitisiert ist, dann muss sich das emanzipatorische Politische zunächst eine neue Heimat zu suchen.

Populäre Kultur kann so eine neue Heimat sein. In ihr und mit ihrer Hilfe können neue Formen des demokratischen Zusammenlebens, der Organisation und des Wirtschaftens gefördert und erprobt werden. Und dies ist der schließlich der Kern des Politischen. Um den ideologischen Kern der populären Kultur, verstanden als Kultur für und von den Massen, herum können Räume geschaffen werden, in denen die Produktion von Kultur nicht mehr dem abstrakten Gewinnstreben der Kulturindustrie untergordnet ist, sondern der Befriedigung von Bedürfnissen dient.

Und schließlich kann durch eine globale, durch das Internet kommunzierende populäre Kultur eine Brücken zu anderen Menschen und Kulturen geschlagen werden. Und dies kann die die Grundlage einer globalen Demokratie bilden.

Wer in diesem Kontext der Popkultur eine Amerikanisierung der deutschen Kultur vorwirft übersieht, dass es im Kern um die Überwindung des Nationalstaates als Ordnungsprinzip und somit um die Überwindung des Deutschen und des Amerikanischen an sich geht.

Popkultur kann einen Raum bieten in dem es nicht mehr um systemstabilisierende politische Forderungen, sondern um das Erschaffen und Leben von ökonomischen, politischen und sozialen Alternativen in der Netzwerkgesellschaft geht. Sie kann die politisierte Alltagswelt der Netzwerkgesellschaft bilden, von der aus neue emanzipatorische politische Bewegungen entstehen können. Sie kann der Kern des neuen und gleichzeitig sehr alten Politischen sein.

Philipp Adamik CC-BY-SA-3.0 2014

Dieser Artikel stellt die inhaltliche Positionierung meines Blogs digital realism dar und wurde ursprünglich hier mit weiteren Ergänzungen zum Blog veröffentlicht

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Philipp Adamik

Philipp Adamik war wissenschaftlicher Assistent am soziologischen Seminar der Universität Basel. Er ist Herausgeber des Blogs thedigitalisedworld.org.

Philipp Adamik

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden