Guckkasten Internet

Reality-Web-TV 2.0 Ein britischer TV-Moderator hat sich in eine Kiste einsperren lassen. Dem Finder winkt eine Belohnung. Die Werbeerlöse gehen an eine Charity. Heiligt der gute Zweck alle Mittel?

Sollten Sie in den nächsten Tagen auf eine verloren wirkende Blechkiste stoßen, dann machen Sie sofort Halt. Entweder Sie öffnen das Ding direkt oder Sie wenden sich an justin.tv. Es kann nämlich gut sein, dass Sie gerade eben für die Befreiung von Tim Shaw gesorgt und noch dazu 30.000 Pfund abgeräumt haben.

Worum geht es? Der bekannte britische Fernseh- und Radiomoderator Tim Shaw hat sich vergangenen Montag in einer Blechkiste einsperren lassen. Und wenn es nach den Machern von „Man in box“ geht, soll er für die nächsten 30 Tage auch dort bleiben. Die Kiste, die 0,9 x 1,2 x 2,4 m groß ist und lediglich eine kleine Öffnung für Essen und Trinken besitzt, befindet sich aber nicht publikumswirksam am Trafalgar Square oder baumelt vom Big Ben, sondern ist an einem geheimen Ort versteckt. Das Ganze wird auf justin.tv gestreamt.

Wer die Kiste ausfindig machen will, sollte online dabei bleiben: Abgeschirmt von der Umwelt, will Tim Shaw nämlich sein bisheriges Leben rekapitulieren. Da die Kiste an einem „Ort mit persönlicher Relevanz für Tim Shaw“ versteckt sein soll, müssten so auch Hinweise auf den Standort zu bekommen sein. Dem Finder der Kiste – ein Google Maps-Interface steht unterstützend zur Verfügung – winken 30.000 britische Pfund.

Wer Spaß daran hat, mag fleißig miträtseln, wo das Leben des 36-jährigen Moderators seinen geografischen Bezugspunkt finden könnte. Und auf genau diesen Voyeurismus setzen die Macher von "Man in box" ja auch. Wenn Aufmerksamkeit die Währung unserer Tage ist, stellt sich freilich schon die Frage, ob man für derlei Events mit seiner Zeit bezahlen soll.

Der Maßstab, der mit der Erstausstrahlung von „Big Brother“ 1999 in den Niederlanden gesetzt wurde, gilt im internationalen Reality-TV-Geschäft auch heute noch: Personen psychisch bis zur Nacktheit zu entkleiden und ihr Seelenleben vor einem Millionen-Publikum breitzutreten, ist das eine. Was danach kommt, wenn man wieder ins "wirkliche" Leben entlassen wird und jeder die eigenen Unzulänglichkeiten kennt, daran denken weder die Zuschauer, die das Ganze aus sicherer Bildschirm-Distanz beobachten, noch diejenigen, die sich beobachten lassen.

Watch live video from Man In Box on Justin.tv

Auch wenn die Werbe-Einnahmen bei „Man in box“ dem Hilfsprojekt „Help for heroes“ zur Unterstützung von verwundeten britischen Soldaten zukommen, ist der eigentliche Zweck des Ganzen doch ein anderer: die Aktion soll in erster Linie für ausreichend Publicity für das Reality-Format sorgen - und Links auf die üblichen Social Media wie Youtube, Twitter oder Facebook dazu ihren Beitrag leisten.

Dass für den Menschen in der Kiste extra noch Psychologen, Berater und Tagebuchschreiber engagiert und werbegerecht mit Konterfei auf der Startseite platziert wurden, sagt alles über den wahren Show- und Werbecharakter der ganzen Sache.

Reality-Formate im Internet haben, zynisch gesprochen, einen großen Vorteil gegenüber vergleichbaren TV-Formaten: Durch die zusätzlichen Funktionen wie Kommentieren, Mit-Freunden-Teilen, Streamen oder sogar die Interaktion mit dem zur Schau gestellten Objekt selbst, wird ein "Mehrwert" geschaffen, den das Fernsehen (noch) nicht bieten kann. Ob wir dabei zusehen wollen, wie ein Mensch gleich einem Tier im Käfig in totaler Apathie versinkt, muss jeder von uns für sich selbst entscheiden.

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