A–Z: Dostojewski

Lexikon Vor zweihundert Jahren wurde ein Russe geboren, der von Thomas Mann ebenso verehrt wurde wie von Susan Sontag. Fjodor Dostojewski stand oft vor dem Ruin, saß zehn Jahre im sibirischen Knast und war ein wandelbarer Europäer
Ausgabe 45/2021
A–Z: Dostojewski

Foto: Chalkie Davies/Getty Images

A

Arrest Michel Houellebecqs griesgrämige Antihelden machen sich manchmal dümmer, als sie sind: So raunt sein altes weißes Alter Ego in Serotonin: „ ‚Gedemütigt und in den Arsch gefickt‘, das war ein guter Titel, Dostojewski für Arme, und hatte Dostojewski nicht auch über die Gefängniswelt geschrieben, vielleicht ließ sich das übertragen, nun ja, ich hatte nicht die Zeit, das zu überprüfen.“ Ich habe mir die Zeit genommen: Der fesselnde Bericht heißt „Aufzeichnungen aus einem toten Haus“. Dorthin wurde der damals noch sozialromantische Träumer geschickt, nachdem er 1849 als Teil einer linken, „staatsgefährdenden“ Gruppierung eine Scheinhinrichtung über sich hat ergehen lassen müssen. Das Urteil wird umgewandelt: zehn Jahre Sibirien! Vier davon in Ketten und ohne Bücher in einer Festungsanlage. Der Schock lässt die bereits schlummernde Epilepsie ausbrechen (Body-Shaming).

B

Body-Shaming Selbst mit dem aufgewecktesten Social-Media-Team wäre ein Dostojewski-Instagram-Auftritt heute ein Rohrkrepierer. Sein Autorenfoto bliebe für immer im Buchumschlag versteckt. Schon die damaligen Kommentierungen waren verheerend: Ein „Pickel“ auf der Nase der Literatur sei dieser Autor. Okay, das war Kollegen-Bashing (von Iwan Turgenjew) und vielleicht nur metaphorisch gemeint. Aber als „mager, klein, blond, mit einer krankhaften Gesichtsfarbe“ beschrieb eine Frau des Dichters Gestalt. Ein anderer wählte die Worte: „unbedeutend, etwas steif, sein Bart leicht rötlich schimmernd“. Am Ende seines Lebens noch dieses verheerende Urteil: „Niemals habe ich auf einem menschlichen Antlitz einen solchen Ausdruck angehäuften Leidens gesehen.“ Hätte es für Dostojewski heute einen Twitter-Beistand wie 2019 unter dem Hashtag #dichterdran gegeben, der dümmlichen Porträtjournalismus aufs Korn nahm? Über Houellebecqs Äußeres (Arrest) macht sich doch schließlich auch keiner lustig!

C

Cuckold Niemand darf den Autor mit seinem Werk verwechseln. Wir pfeifen jetzt einmal auf diese Binse, schon allein aus boulevardesker Neugier. Früher hätte man den Dichter wohl als einen „Hahnrei“ tituliert; in unseren eher kosmopolitischen Zeiten hat sich „Cuckold“ durchgesetzt. Einen solchen müssen wir uns als einen glücklichen Menschen vorstellen, sobald er seine Geliebte in den Armen eines anderen sieht. Diese Demütigung erregt ihn. In der Erzählung Weiße Nächte hilft ein junger Mann dem Nebenbuhler, die Frau, die er liebt, zu gewinnen: „Wie könnte ich auch nur eine der zarten Blüten zerdrücken, die du dir in die schwarzen Locken flichst, wenn du mit ihm zum Altare gehst?“, denkt sich dieser Cuckold am Ende. Im wahren Leben verliebt sich Dostojewski nach Absitzen seiner Haft in Sibirien in die Frau eines Beamten. Ihr Gatte (ein Säufer) stirbt, er macht ihr einen Antrag. Sie scheint nicht abgeneigt, hat aber schon einen Neuen. Dostojewski freundet sich mit dem Rivalen an und lässt Maria die Nacht vor der Hochzeit am 6. Februar 1857 mit diesem genießen (Widersacher). So weiß es eine historische Quelle. Eine andere berichtet lediglich, dass der Konkurrent der Trauzeuge wird. Na ja, aber ist das nicht schlimm genug?

D

Doors Von Susan Sontag, der Grenzgängerin zwischen Hoch- und Populärkultur, stammt das Zitat: „Wenn ich zwischen den Doors und Dostojewski wählen müsste, dann würde ich – selbstverständlich – Dostojewski wählen. Aber muss ich denn wirklich wählen?“ Vielleicht war es der Alliteration geschuldet, dass sie sich nach den Doors (➝ Hip) für Dostojewski entschied und nicht für einen anderen aus ihrer 8.000 Bücher umfassenden Bibliothek am Hudson River. In dieser stieß sie jedenfalls nicht auf jenen hinreißenden Roman über Dostojewski, den sie mit einem Essay aus der Vergessenheit reißen sollte. Sie hatte das Buch aus einer Kiste vor einem Londoner Antiquariat herausgefischt: Leonid Zypkins Ein Sommer in Baden-Baden, ein in Endlossätzen gehaltener Bewusstseinsstrom, eine kühne Annäherung an Dostojewski – und auch an dessen Antisemitismus, wie Sontag zeigt.

E

Europa Russland könne von Europa nichts lernen, so das Fazit des Reiseberichts Winterliche Aufzeichnungen über sommerliche Eindrücke (1863). Eine von Dostojewskis Beobachtungen: Das Londoner Proletariat sucht seine Rettung im Gin und in der Ausschweifung“ (➝ Cuckold). Er war wandelbar: liberal, religiös (verbissen oder zaudernd). Eine Figur in Der Jüngling sagt: „Ich bin im Verkehr mit Deutschen ein Deutscher, wenn ich mich mit den alten Griechen abgebe, ein Grieche, und eben dadurch bin ich im höchsten Grade ein Russe.“ Cheers!

H

Hip Jonathan Franzen schreibt längst so ausufernd wie Dostojewski (was seine Romane nicht automatisch besser macht). Als junger Künstler zählte der Russe zu den „Autoren, die ich absolut unhip gerne las“, lässt er uns in seiner Essay-Sammlung Anleitung zum Alleinsein (2002) wissen. Welch Hipster-Potenzial aber Dostojewski in sich trägt (➝ Doors), bewies die türkischstämmige Amerikanerin Elif Batuman 2010 mit der romanesken Literaturgeschichte „Die Besessenen“. Nach dieser Dostojewski-Titel-Hommage (dessen Buch ist auf Deutsch auch bekannt als Böse Geister und Die Dämonen) legte sie mit der Idiotin nach. Die Kritiker liebten sie dafür. Auf Englisch hat das Buch naturgemäß einen genderneutralen Namen und heißt The Idiot.

J

Journalismus Dass er mit seinem Bruder Die Zeit gründete, eine Monatszeitschrift, zu der Edelfedern wie Gontscharow (Oblomow) oder Turgenjew Texte beisteuerten, war schon ein journalistischer Coup. Ein noch größerer, dass er in einem Roman den Werbeslogan für ein Nachrichtenmagazin vorwegnahm, das viele heute aus den Wartezimmern ihrer Zahnärzte kennen: „Fakten, Fakten und nochmals Fakten, vor allen Dingen so kurz wie möglich“, heißt es in Böse Geister beziehungsweise Die Besessenen (Hip). Und weil man schon damals als freier Schriftsteller kräftig hinzuverdienen musste, nahm Dostojewski nach der Einstellung seiner „Zeit“ aus Geldnot einen Redakteursjob bei der reaktionären Zeitung „Der Bürger“ an. Wohl mit der Aussicht, als Feuilletonist würde es nicht so schlimm werden. Doch nach 15 Monaten kündigte er: Die Tendenz des Blattes war ihm unerträglich, zudem litt er unter den literarisch indiskutablen Beiträgen seines Chefs. Dostojewski bleibt in dieser Hinsicht ein Vorbild für jeden Journalisten.

K

Krokodil Es gibt da dieses Krokodil, es heißt Karlchen und gehört einem deutschen Schausteller. Das Reptil verschluckt einen russischen Vater. Dem gefällt es aber im Bauch des Reptils sehr. „Das Krokodil“ ist eine kleine Erzählung, eine Groteske auf den Kapitalismus, in der Lacoste wie später in den bundesrepublikanischen 80er-Jahren noch nicht als Bösewicht punkten kann. Der große Humorist Eckhard Henscheid, Autor von Die Vollidioten, besteht mit fast belehrendem Prediger-Habitus darauf, dass Dostojewski nicht nur in Short Storys, sondern auch in Der Idiot und all seinen anderen dicken Büchern Humor bewiesen habe. Der Witzbold Thomas Mann meinte über die Aufzeichnungen aus dem Kellerloch (beziehungsweise „… aus dem Untergrund“) auch schon, dass Dostojewski es verstehe, „das Ernsteste, Böseste, Abgründigste in einem höchsten Sinne amüsant zu machen“ (Europa). Henscheid verschweigt Mann nicht in seiner fast 300 Seiten langen Abhandlung Dostojewskis Gelächter. Aber dennoch wirkt sie wie ein Witz, der einfach nicht zünden will.

V

Verbrechen und Strafe Die Frau, die sich traute, Dostojewskis Schuld und Sühne endlich den Titel zu geben, der dem Original am nächsten kommt, indem sie ihn vom deutschen Pathos befreite, war die große Übersetzerin Swetlana Geier (1923 – 2010). Und als dieses Jahrhundertwerk mit dem Titel Verbrechen und Strafe neu herauskam, und ich das Literarische Quartett Ende März 1994 sah (das Datum musste ich recherchieren), in dem es genau darum ging, winkte ich müde ab: Ich hatte den laut Thomas Mann „größten Kriminalroman aller Zeiten“ (➝ Krokodil) zehn Jahre zuvor gelesen. Lektüreerlebnisse als kleiner Junge wirken nach, sie werden so schnell nicht vergessen.

Ich las also erst einmal Die Brüder Karamasow und anderes. Als mich aber vor einigen Monaten nicht nur Corona, sondern auch ein Fußbruch für Monate in den Sessel fesselte (ich bildete mir stets ein, er habe Ohren, wie im Buch Holzfällen des Dostojewski-Bewunderers Thomas Bernhard), besorgte ich mir die Geier-Version als E-Book. Aus Angst, ich würde enttäuscht, blätterte ich lieber noch ein bisschen in Tschechow herum. Und dann ruft plötzlich Woinitzki in der Möwe: „Hätte ich normal gelebt, dann wäre ein Schopenhauer, ein Dostojewski aus mir geworden … Ach, was rede ich nur zusammen! Ich verliere den Verstand.“ Also begab ich mich dann doch in diesen ganzen psychologischen Wahnsinn, in dieses irre, schöne, lebendige und grausame Buch. Mann hat mal wieder recht: Es ist der größte Krimi aller Zeiten.

W

Widersacher Auch Dostojewski konnte sich seine Verehrer nicht aussuchen, schon gar nicht posthum. Heinrich Himmler hatte neben Oscar Wilde (sic!) seine Werke im Regal, Albert Speer las im Spandauer Kriegsverbrechergefängnis Dostojewski (Arrest), da er zu der „Lamento-Literatur von Böll bis Walser“ keinen Zugang habe finden können. Dostojewskis bekanntester Widersacher ist Vladimir Nabokov, er arbeitete sich an ihm ab wie eine wahnsinnige Dostojewski-Figur. Er diktierte 1964 einem Playboy-Redakteur in den Block: „Ein schwafelnder Journalist und ein schludriger Komödiant. Ich räume ein, dass einige seiner Szenen, einige seiner gewaltigen, farcenhaften Streitereien außerordentlich lustig sind. Aber seine empfindsamen Mörder und gemütvollen Huren hält man keinen Augenblick lang aus – ein Leser wie ich jedenfalls.“ Nur den Doppelgänger ließ Nabokov gerade noch gelten. Das mag den Galiani-Verlag freuen: Dort ist das Buch gerade auf Deutsch in der „Urfassung“ neu erschienen.

Z

Zocker Dass Dostojewski vom Glücksspiel besessen war und finanziell auf seinen Reisen durch Deutschland (aber auch in der Schweiz) vor dem Ruin stand, dass er den Roman Der Spieler wegen eines Knebelvertrages schneller schrieb, als sich eine Roulettekugel dreht, all das ist bekannt. Darum steht dieser Lexikoneintrag als „Rien ne va plus“ (Europa) am Ende. Dass alles ein Happy End mit dem Zocker nahm, und warum er das seiner zweiten Frau zu verdanken hat, das wissen aber nicht alle. Dem Slawisten Andreas Guski haben wir eine sorgfältige Dostojewski-Biografie zu verdanken (C.H. Beck), um alles im Detail nachzulesen. Über das Spiel des Lebens und ein Leben wie aus einem Roman.

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