Wer sich in dieses Buch begibt, fühlt sich nach wenigen Seiten in einer Zeitmaschine gefangen. Denn die pluralistischen, widersprüchlichen, undeutlichen und manchmal auch ratlosen 1970er Jahre wirken einfach zu entrückt, als dass man sie noch irgendwie der Gegenwart zurechnen und mit der eigenen Biografie verknüpfen könnte. Das würde vielleicht gerade noch mit den späten 1980ern samt Mauerfall funktionieren. Die 70er sind dagegen Historie, sie haben mit unserer Lebenswirklichkeit nichts mehr zu tun.
Man könnte sich diese Zeitmaschine als ein altes Pan-Am-Flugzeug vorstellen, das gerade über das Gebiet der ehemaligen DDR hinwegschießt, während der langhaarige Sitznachbar versucht, die Zigarette in den Aschenbecher der Armlehne zu friemeln, einen schmalen Handke-Band auf seinem Schoß. Mit dem Titel Die Jahre der wahren Empfindung wortspielt der Literaturkritiker und Essayist Helmut Böttiger natürlich mit Peter Handkes todessehnsüchtiger Erzählung Die Stunde der wahren Empfindung, die nicht erst 1975 mit ihrem Erscheinen zu schlagen begann. Sie ist zugleich das Leitmotiv seiner Überlegungen. Denn was man zu Beginn jenes Jahrzehnts unter die Begrifflichkeiten „Neue Subjektivität“, „Neue Innerlichkeit“ oder „Neuer Irrationalismus“ zu subsumieren begann, artikulierte sich als das große Unbehagen vieler Autoren an den ewigen gesellschaftstheoretischen Abstraktionen, die das Ende der 60er dominiert hatten und die sich gleichgültig gegenüber den Befindlichkeiten der Individuen gezeigt hatten.
Ja, ja, „Tod der Literatur“
Die Autoren wollten endlich darüber schreiben, wie sie sich an der sozialen Umgebung und den familiären Verhältnissen in der Nachkriegszeit wund gerieben hatten. Die Auseinandersetzung mit der Vätergeneration spielte dabei naturgemäß eine entscheidende Rolle.
Ja, es gab „eine Leerstelle der Gefühle“, so Böttiger, nach all den Phrasen der Politisierung und nach dem vermeintlichen „Tod der Literatur“, den Hans Magnus Enzensberger 1968 in einem berühmt-berüchtigten Aufsatz des Kursbuchs Nr. 15 heraufbeschworen hatte. Enzensberger sah relevante Literatur nur durch eine politische Alphabetisierung im Entstehen. Günter Wallraffs Reportagen und Ulrike Meinhofs Kolumnen waren der Maßstab. Und Enzensberger sollte mit einer Gedichtzeile später ironisch auf seiner Einschätzung der 70er Jahre beharren: „Dass irgendwer ihrer gedächte, wäre zu viel verlangt.“
Doch genießen wir zunächst in unserer imaginären Maschine den Anflug auf West-Berlin – ein Epizentrum der damaligen Literatur –, den der Schriftsteller Peter Schneider so grandios am Anfang seiner essayistischen Meistererzählung Der Mauerspringer aus dem Jahr 1982 beschrieb. Also zu einem Zeitpunkt, als diese wilde Dekade mit Überlänge laut Böttiger erst enden sollte (begonnen habe sie auch nicht am 1. Januar 1970, sondern bereits 1968).
Doch mit einem anderen Werk Schneiders beginnt Böttigers stattliche Literaturgeschichte. Die Erzählung Lenz von 1973 über einen jungen Intellektuellen, der durch die Großstadt irrlichtert, wirkte wie ein Einschlag mit enormer Sprengkraft auf das literarische Leben der Bundesrepublik. „Das Neue und Aufregende dabei war“, so Böttiger, „dass diese Erzählung zum ersten Mal Politisches und Privates untrennbar miteinander verwob und das Grundgefühl ausdrückte, dass sich eine zunächst euphorische Aufbruchstimmung plötzlich in eine schleichende Depression verwandelt hatte.“ Um dies nicht nur abstrakt, sondern auch literarisch zu belegen, zitiert er aus dem Buch: „Er schaute auf die Hosen der Männer und fand heraus, auf welcher Seite ihr Schwanz lag. Er stellte sich ihre Schwänze in Erregung vor und dann die Folge von Veränderungen der Körper, die stattgefunden haben mussten, bis alle wieder so sitzen und sprechen konnten.“
Schneider ist nicht der Einzige, dem sich Böttiger umfassend widmet. Zig Schriftstellerbiografien werden hier zu einem subjektiven, ja empfindsamen Epochen-Strauß – die Figur Botho Strauß steht dagegen explizit für die heranbrechenden Achtziger – zusammengebunden. Klare, präzise Textexegese, Anekdoten und eigene Gespräche, die Böttiger mit einigen Autoren führen durfte, mit eingeschlossen. Ähnliches glückte Böttiger bereits mit dem Band Die Gruppe 47, für den er 2013 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde.
Böttiger weiß natürlich um die Komplexität seines Stoffes, wenn er schreibt, dass die 70er Jahre „schwer auf einen Nenner zu bringen“ seien, „sie sind keineswegs mit dem Terrorismus und einem ‚deutschen Herbst‘ gleichzusetzen. Es war nicht ausschließlich die Zeit einer ‚BRD noir‘, sondern auch die verschiedenster ekstatischer Augenblicke.“ Sodann widmet er sich der sogenannten feministischen Literatur (auch jenseits von Bachmann) und erinnert an Karin Stucks Klassenliebe, die neben der Frage „nach einer Identität und nach den konkreten Gefühlen“ als eines der ersten Bücher die „Körperlichkeit und zwar explizit weibliche Körperlichkeit“ behandelt habe. Die faszinierende Gabriele Wohmann, die man seinerzeit machohaft (das waren die 70er naturgemäß immer noch) als „Juliette Gréco an der Schreibmaschine“ titulierte, bringt Böttiger auf wenigen Seiten nicht nur in Erinnerung, sondern auch zum Leuchten.
Klar, dass Böttiger nicht an den üblichen Verdächtigen aus dem Westen wie Günter Grass, Heinrich Böll, Martin Walser, Uwe Johnson oder Friedrich Christian Delius (inklusive dessen Kabbeleien mit dem Verleger Klaus Wagenbach) und an den Großen aus dem Osten (Christa Wolf, Sarah Kirsch, Wolf Biermann oder Heiner Müller) vorbeikommt. Für Österreich treten besagte Ingeborg Bachmann, Thomas Bernhard und Handke auf. Für die Schweiz aber nicht die, die man erwartet hätte: „Friedrich Dürrenmatt und Max Frisch überstrahlten zwar auch noch die 70er Jahre, hatten ihre große Zeit aber bereits hinter sich.“
Darum beschäftigt sich Böttiger lieber mit Fritz Zorns Mars. Diesen 1976 posthum erschienenen Roman deutet er als ein „Schreiben gegen Tod, und genau dies ist auch das Thema des Buches“. Es erzählt von der Krebserkrankung eines jungen Mannes, der zunächst einem Christian-Kracht-Roman entstiegen zu sein scheint: „Ich bin jung und reich und gebildet; und ich bin unglücklich, neurotisch und allein. Ich stamme aus einer der allerbesten Familien des rechten Zürichseeufers, das man auch die Goldküste nennt“, so beginnt der Roman.
Reaktionäre Pointen
Die wiederum oftmals prekären Zustände der subkulturellen Literaturszene, die Zeitschriften wie Sprachlos, Gießkanne oder Das Nebelhorn zu verantworten hatte und sich mit Gegenbuchmessen, Raubdrucken und Minipressen über Wasser hielt, auch sie beschreibt Böttiger. Und wer an dieser Stelle noch tiefer ins Thema hinabsteigen will, der sollte sich die 2019 erschienene – teils krass drogendurchtränkte – „kollektive Autobiografie ‚alternativer‘ Autoren“ genehmigen, die sich Die untergründigen Jahre (herausgegeben von Günther Emigs Literatur-Betrieb) nennt.
Bei so viel linkem, subversivem Aktionismus könnte man nun getrost zum heute als bräsig geltenden Böll überleiten. Denn Böttiger setzt sich für eine neue Lesart seines Klassikers Die verlorene Ehre der Katharina Blum ein: „Die von Böll beschriebenen Prozesse der manipulierenden Meinungsbildung erzielen mittlerweile durch Internetforen manchmal eine noch stärkere Wirkung, als es damals die Bild-Zeitung vermochte. Desinformationskampagnen, Wutbürgertum, gegenseitige Bestärkung primitivster Ressentiments.“ Solche moralisierenden Urteile – in der Sache zweifellos richtig – wären dem Romancier und Journalisten Jörg Fauser, einem Ex-Junkie im Versicherungsvertreter-Anzug, nicht über die mit Tabakkrümeln behafteten Lippen gekommen. Der Außenseiter hatte für viele Autoren, die in den 70ern (noch) publizierten, nur ein Gähnen übrig. Aber schön, dass Böttiger seine Zeitreise mit Fauser, dem gerade posthum eine dritte aufwendige Werkausgabe bei Diogenes zuteilwird, beschließt – mitsamt einer irren Anekdote.
Natürlich müssen in dieser Literaturgeschichte, die immerhin fast 480 Seiten umfasst, Protagonisten fehlen. Das ist unvermeidlich. Auch Jurek Becker ist nicht dabei, der nach seinem Welterfolg Jakob der Lügner von 1969 in beiden Teilen Deutschlands bewundert wurde. Warum ausgerechnet er in Böttigers Geschichte der „Neuen Subjektivität“ nicht auftaucht, hat Peter Schneider vielleicht in einem bewegenden Nachruf an seinen Freund im September 1997 unbewusst vorweggenommen: Seine „Erfahrungen und Begabungen eigneten sich wohl nicht für die ‚neue Subjektivität‘ und nicht für die neue Reinlichkeit und deren Verbote, die von der ‚endgültigen Überwindung des Realismus‘, vom ‚Ende des Erzählens‘, von der ‚reaktionären Funktion der Pointe‘ und vom ‚Schreiben über das Schreiben‘ sprachen. Man kam wohl auch nicht damit zurecht, dass er, ein Überlebender des Holocaust, unter anderem ein großer Unterhaltungskünstler war und kraft dieser Begabung ziemlich viel Geld verdiente.“ Diese Zeitreise kann also getrost noch ein wenig weitergehen.
Info
Die Jahre der wahren Empfindung. Die 70er – eine wilde Blütezeit der deutschen Literatur Helmut Böttiger Wallstein 2021, 473 S., 32 €
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