Ein Buch kann kaum einen schöneren Titel haben als „Bei Regen in einem Teich schwimmen“
Foto: Roc Canals/Getty Images
Ausgerechnet die Russen. Nun ja, streng genommen ist auch ein „Provinzler aus der Ukraine, ein bisschen Muttersöhnchen“, unter ihnen: der Erzähler Nicolai Gogol. Er muss sich in diesem romandicken Buch über die Kunst der Short Story neben Tschechow, Tolstoi und Turgenjew behaupten. Auf den ersten Blick ein unfaires Machtverhältnis, da Tschechow allein drei der insgesamt sieben darin enthaltenen Erzählungen für sich beanspruchen kann. Aber natürlich völlig zu Recht, wie jeder weiß, der sich ein wenig mit diesem literarischen Genre auskennt. Der amerikanische Schriftsteller George Saunders hat diese sieben Meisterwerke ausgewählt, weil er sie über alles „liebt“. Und erfreulicherweise verzichtet er zum Teil auf die
die üblichen Verdächtigen wie etwa Tschechows Die Dame mit dem Hündchen.In einer Geschichte geht es dann auch um einen „überzeugenden Fiesling“. Tolstoi hat ihn für Herr und Knecht erfunden, und „wie wir aus dem wahren Leben wissen, bleiben Fieslinge manchmal Fieslinge. Wir fürchten eine allzu einfache Verwandlung. Würde Tolstoi eine unplausible Methode der Veränderung vorschlagen (…) dann wäre die Erzählung als Propaganda entlarvt und fiele auseinander“, weiß Saunders.Dass man aktuell als Leser dieses Assoziationsgewitter bezüglich Putin, Krieg und (hoffentlich irgendwann) Frieden im Kopf aufziehen sieht, ist wohl unvermeidlich. Dabei ist das Buch Bei Regen in einem Teich schwimmen – der Titel ist eine inhaltliche Anspielung auf die furiose Tschechow-Geschichte Stachelbeeren und gleichzeitig auf die immense Bedeutung von Wetter-Metaphern in einer Kurzgeschichte – bereits vor einem Jahr im Original in den USA erschienen. Es trägt den Untertitel Von den russischen Meistern lesen, schreiben und leben lernen; der in Buchform gegossene Stoff, mit dem Saunders zuvor nur die Studenten seiner Master Class versorgen konnte.Um dieses Thema kreisten auch die legendären polemischen Vorlesungen über russische Literatur, die ein gewisser Vladimir Nabokov einst an der Universität von Cornell hielt. „Ein einziges Jahrhundert, das 19., hatte in einem Land, das praktisch über keine literarische Tradition verfügte“, ließ Nabokov uns wissen, „zur Schaffung einer Literatur ausgereicht, die in ihrem ästhetisch-literarischen Wert, in ihrer grenzüberschreitenden Wirkung, in allem außer ihrem Umfang der glorreichen Leistungen Englands und Frankreichs an die Seite gestellt werden kann“.Intuition oder Intention?George Saunders steigt von diesem hohen Ross herab. Er verspricht, es soll ja nur ein „Spaziergang“ durch die russische Literatur werden. „Ich bin kein Kritiker, kein Literaturwissenschaftler und kein Experte in russischer Literatur, nichts dergleichen“, gibt er sich bescheiden. Und spricht seine Leser, die „wohlmeinende tapfere Leserin“, gern kumpelhaft mit „aber hey“ an, oder es rutscht ihm ein „Ähm“ heraus. Seit zwei Jahrzehnten unterrichtet Saunders kreatives Schreiben an der Syracuse University im Bundesstaat New York und verantwortet dort ebenjenen Kurs über die russische Kurzgeschichte des 19. Jahrhunderts. Ansonsten ist Saunders selbst für seine aberwitzigen Short Storys bekannt und besonders bei seinen Schriftstellerkollegen beliebt. Er ist ein Writers’ Writer, wie es eher abschreckend oft heißt. Also somit ein schlauer Fuchs, der einen solchen in der Brief-Fabel Fuchs 8 berichten lässt oder einen Chor der (Un-)Toten auf dem Friedhof für sein Romandebüt Lincoln im Bardo aufstellt, für das er 2017 dann auch prompt den Man Booker Prize erbeuten konnte.Nun also das „ohne Übertreibung beste Buch über das Schreiben, das ich jemals gelesen habe“, wie Daniel Kehlmann kürzlich verlauten ließ. Hierfür muss man die sieben Geschichten erst einmal gelesen haben. Sie sind sicherheitshalber vollständig abgedruckt. Im Anschluss einer jeden geht Saunders sie mit uns penibel durch: Wie funktioniert überhaupt eine Kurzgeschichte? Warum haben sich die Autoren so entschieden? War es Intention oder Intuition? Wozu taugt jetzt diese Abschweifung – schließlich ist der Raum einer Kurzgeschichte naturgemäß ziemlich limitiert? Auch vergleicht Saunders diverse Übersetzungen ins Amerikanische miteinander – beziehungsweise sein deutscher Übersetzer Frank Heibert die deutschen. Und dann geht es noch um die „Grundprinzipien der Form“, um Effizienz, Steigerung oder die Kunst der Figurenbeschreibung.Das alles klingt ziemlich akademisch, ist es aber nicht. Dafür sind die gesammelten Essays viel zu anekdotisch. Saunders erzählt etwa, wie er damals versuchte, in Hemingways Spuren zu stapfen: „Nachdem ich den Berg Hemingway erklommen hatte, so hoch ich kommen konnte, nachdem ich erkannt hatte, dass ich da oben beim besten Willen nur ein Jünger sein konnte, und beschloss, die Sünde der Imitation nie wieder zu begehen, stolperte ich wieder ins Tal zurück und stieß auf einen kleinen Scheißhügel, der ein Schild trug: ‚Berg Saunders‘. ‚Hmmm‘, dachte ich. ‚Ist der klein. Und aus Scheiße.‘ Aber es stand mein Name drauf.“ Vom Privaten schwingt sich Saunders dann schnell wieder zu den weltgeschichtlichen Fragen auf, die diese Literatur in sich birgt: „Keiner der Autoren, deren Texte wir hier lesen, hätte sich die Schrecken des Holocaust (oder der Russischen Revolution oder der stalinistischen ‚Säuberungen‘) vorstellen können, auch Gogol nicht, aber ich glaube, Gogol hätte sie erzählen können.“Und Tipps zum Schreiben hat Saunders auch parat. So warnt Saunders junge Autor:innen davor, in einer Erzählung ihre „Meinung“ zu äußern: „Handwerklich verträgt die Literatur Meinungsstärke nicht gut.“ Zudem werde sich „jede Erzählung, die moralische Schwächen aufweist (die also sexistisch, rassistisch, homophob, transphob, pedantisch, aneignend, plagiiert wirkt und so weiter)“, als „handwerklich fehlerhaft herausstellen“. Dagegen klingt es fast wie eine Binse, wenn er schreibt: „Die großen Fragen finden allein durch Stunden am Schreibtisch ihre Antworten.“ Das hat Tschechow, wie wir aus den Erinnerungen Ivan Bunins (auch so ein großer russischer Meister der Short Story) wissen, dann irgendwie eindringlicher formuliert: „Zum Schreiben hinsetzen soll man sich, wenn man sich kalt fühlt wie Eis.“Placeholder infobox-1
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