„Nur in Wien“ von Wolfgang Freitag: Mülleimer, nobilitiert

Stadtmöbel Phänomenologie der Dinge: In „Nur in Wien: Von den kleinen Dingen, die die große Stadt bedeuten“ lässt Wolfgang Freitag Wiens Wahrzeichen aufscheinen – ganz im Sinne Walter Benjamins
Ausgabe 17/2023
Gibt's nur in Wien: Die Würfeluhr
Gibt's nur in Wien: Die Würfeluhr

Foto: Imago/viennaslide

Ein oberflächlicher Blick aufs Cover in der Bahnhofsbuchhandlung könnte zu einer Lektüreenttäuschung werden. Denn Wolfgang Freitags Nur in Wien verspricht nicht, ein origineller Kaffeehausführer zu sein, der den Touristen zu den Geheimtipps jenseits des 1. Bezirks lotst, um ihm bei dieser Gelegenheit noch ein hübsches Bonmot aus seligen k.u.k.-Zeiten zur Melange zu reichen. Man muss schon das Kleingedruckte auf dem Buchdeckel lesen: Von den kleinen Dingen, die die große Stadt bedeuten. Und sich die Abbildungen näher anschauen, die einem tief verborgene Erinnerungen ins Gedächtnis rufen: diese seltsame Würfeluhr, das quadratische Kanalgitter, die Litfaßsäule und die Bänke, auf denen man einst in der Ringstraße saß und sich ausruhte, als wäre man zu Hause.

Ja, Straßen sind „die Wohnung des Kollektivs“, schrieb Walter Benjamin in seinem Passagen-Werk. All diese meist einfachen und vor allem funktionalen Objekte, wie ein Straßenschild, ergeben eine Ikonologie des städtischen Lebens. Jeder Hydrant hat seinen Daseinsgrund und seine Historie. Und hierfür muss er auch nicht gleich den Geist des Fin de Siècle in sich tragen und aus der Modellreihe einer Armaturenfirma mit dem wunderschönen Namen Rostenthal & Kafka strammen.

Diese Stadtmöbel, wie sie auch genannt werden, sind die Erkennungszeichen einer jeden Metropole. Man weiß bei ihrem Anblick sofort, wo man sich befindet, in welcher fremden Wohnung man gerade zu Besuch ist. Ein Gebäude sofort einer Stadt zuzuordnen – außer es handelte sich um das Burgtheater – ist dagegen nicht so leicht. Diese Bedeutsamen Belanglosigkeiten, so der Titel einer Phänomenologie des Architekturtheoretikers Vittorio Magnago Lampugnani, symbolisieren die wirklichen Wahrzeichen. „Selbst so unscheinbar anmutende städtische Gegenstände wie Schachtdeckel erweisen sich bei näherem Hinschauen als ergiebige Geschichtenspeicher“, schreibt er mit Blick auf ganz Europa. Freitag konzentriert sich dagegen auf seine Heimat Wien.

Man erfährt in diesem hübsch gestalteten Buch, was es mit dem berühmten Otto-Wagner-Grün, das die Stadtbahngeländer ziert – amtskorrekt heißen sie „Absturzsicherungen“ –, auf sich hat. Mit Freitag lernen wir Menschen kennen, die in der „Magistratsabteilung 33 für Wiens Würfeluhren“ zuständig sind. Freitag führt Interviews mit Architekten, etwa mit solchen, die buchstäblich Stadtmöbel hervorgebracht haben: die Sitzmöbel in den Höfen des Museumsquartiers.

Nun wissen wir auch, was man unter dem imposanten Begriff der „Wartehalle“ zu verstehen hat: „Wie winzig ein Unterstand, ein Flugdach oder sonstiges mit Regenschutz auch immer sein mag, an einer Haltestelle errichtet, wird es im offiziellen Sprachgebrauch umgehend zur Halle nobilitiert.“ Selbst Mülleimer haben eine bewegte Geschichte. Eine traurige wurde dem Entwurf des Architekten Luigi Blau zuteil. Seinen stylischen Eimer möchte man sich am liebsten im Arbeitszimmer neben den Schreibtisch hängen, so schön ist er. Doch Blaus Objekte lösen sich wie Rauch aus dem Stadtbild auf, „da der Magistrat das grassierende Zigarettenstummel-Problem durch die zusätzliche Montage von sogenannten Aschenrohren lösen“ musste. Blau ist sauer: „Die haben die Aschenrohre einfach auf meinen Papierkorb draufgesetzt. Und da hab ich mich aufgeregt, man kann ja nicht einfach einen Entwurf so ändern.“ Und letztlich werden auch Cineasten dazulernen und den Klassiker Der dritte Mann künftig mit anderen Augen sehen: Einige Stadtmöbel taugen in Wirklichkeit gar nicht für Schlüsselszenen des Films.

Zuweilen lassen Freitags akribische Objektbeschreibungen den leichtfüßigen Sound eines Flaneurs vermissen, dann wirken die Mythen des Alltags im Sinne von Roland Barthes etwas blass. Dennoch ist dieses Buch eine eigenwillige Bestandsaufnahme all dieser Dinge, die vielleicht einmal verschwinden werden. Und so blickt man das nächste Mal in Wien anders auf den Mülleimer, wenn man sich auf einer Ringstraßenbank niedergelassen hat. Weit zum nächsten Kaffeehaus ist es dann auch nicht mehr.

Nur in Wien: Von den kleinen Dingen, die die große Stadt bedeuten Wolfgang Freitag Czern in 2023, 240 S., 25 €

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