„Selbst die Taxifahrer in Kiew haben aufgehört, Unsinn über Politik zu erzählen“
Interview Seit dem russischen Überfall auf ihr Land kommentiert die Künstlerin Alewtyna Kachidse fast täglich ihre Lage. Im März stellten wir ihre Zeichnungen vor. Wie geht es ihr heute?
Die internationalen Großausstellungen in diesem Jahr reagierten blitzschnell auf den Ukraine-Krieg. Mittendrin ist immer wieder Alewtyna Kachidse, die nach Kriegsausbruch in ihrem Haus und Atelier bei Kiew blieb. Es folgten Einladungen zur Venedig-Biennale, zur Manifesta nach Pristina und eine Gruppenausstellung im Pinchuk Art Centre. 2013 nahm die in der Ostukraine geborene Künstlerin an den Maidan-Protesten teil, und sie zeichnete: Barrikaden und die Gewalt gegen Demonstrant*innen. Seit dem 24. Februar 2022 reagiert sie mit täglichen Zeichnungen auf die brutale Invasion. Eigentlich versteht sich Kachidse aber als Konzeptkünstlerin, und ihre Performances handeln von Identität und den komplizierten moralischen Fragen in einem Krisengebiet. Im Interview spricht sie
ie über Ökologie und Invasion und darüber, was der Krieg mit dem Denken anstellt.der Freitag: Frau Kachidse, wie geht es Ihnen?Alewtyna Kachidse: Ich bin am Leben! Gerade bin ich in Pristina, auf der Manifesta 14, wo ich eine Graphic Novel mit meinen Zeichnungen zeige, außerdem habe ich einen 360°-Film für die Ausstellung gemacht. Wenn ich mir diese Arbeit ansehe, bin ich überrascht, wie mir das gelungen ist. Der Film hat am längsten gedauert – ich habe daran ab Ende Mai gearbeitet, nachdem ich quer durch Europa gereist bin.Sie sind in der Venedig-Biennale vertreten, nun sind Sie auf der Manifesta in Pristina. Wie erleben Sie die Reaktion der Kunstwelt auf den Krieg?Die Menschen zeigen Empathie, und sie interessieren sich für die praktischen Seiten des Krieges. Sie fragen, ob Ukrainer*innen noch zur Arbeit gehen, und ob die Galerien noch geöffnet haben. In Pristina hingegen kennt man den Krieg noch, und man bekommt gleich eine Umarmung angeboten. Meine Freund*innen in Venedig hatten Tränen in den Augen, daraufhin habe ich den Witz gemacht, dass nicht einmal ich geweint habe, als sich die Panzer näherten. Erst als die Fische im Aquarium gestorben sind, weil es keinen Strom mehr gab, da kamen mir die Tränen.Sie haben die russische Künstlerin Victoria Lomasko kritisiert, die gemeinsam mit dem Zeichner Joe Sacco einen Comic im Magazin The New Yorker veröffentlicht hat. Dort schildert sie ihre Erfahrungen mit den Sanktionen und der kollektiven Schande des Kriegs. Finden Sie es unfair, dass sich russische Künstler*innen als Opfer des Konfliktes darstellen?Ich denke, das ist den Leser*innen gegenüber unfair, die diese Manipulation konsumieren: Lomasko stellt sich im New Yorker selbst als Geflüchtete dar, was nicht korrekt ist. Viele russische Künstler*innen zeigen sich so. Sie vergessen, dass wir, anders als sie, unser Leben zu verlieren haben. Ich würde mich freuen, wenn sie stattdessen etwas zum Verständnis der Ereignisse beitragen würden. Es gibt aber auch einen verallgemeinernden Blick aus der westlichen Kunstwelt, über den ich eine Zeichnung angefertigt habe, wo es heißt: Der Ukrainekrieg kämpft gegen andere Kriege. Die Versuchung ist groß, diesen Krieg durch Parallelen mit anderen Konflikten zu verstehen.Kommt die Aufmerksamkeit für ukrainische Künstler*innen zu spät?Wir standen viele Jahre im Schatten Russlands. Und es stimmt zum Teil auch, dass Ukrainer*innen nur wegen der Invasion zu Großausstellungen eingeladen wurden. Schade eigentlich, denn in Wirklichkeit dauert der russisch-ukrainische Krieg schon acht Jahre an, und damit beschäftigen wir uns auch. Er kommt in meiner Arbeit seit 2014 vor.Worum geht es in dem Film, den Sie jetzt auf der Manifesta zeigen?Echte Menschen treten in einem gestellten Dokumentarfilm auf. Alle spielen sich selbst. Wir gehen durch die Ruinen von Irpin bei Kiew, wo auch viele Bäume durch den Beschuss zerstört sind, und unterhalten uns, wobei die Geschichte der russischen Invasion mit der Geschichte von invasiven Pflanzen verwoben ist. Das ist übrigens ein ganz gegenwärtiges Phänomen: Lokale Pflanzen werden von fremden Spezies aus anderen Klimazonen verdrängt. Ich habe den populären Botaniker Olexii Kovalenko vom Nationalen Naturkundemuseum eingeladen, der ein Buch zu dem Thema geschrieben hat. Olexii erklärt, wie Menschen für die Übergriffigkeit bestimmter Pflanzen verantwortlich sind, denn seit Schiffe und Flugzeuge erfunden wurden, bringen wir sie von Kontinent zu Kontinent.Ökologie ist ein wichtiger Teil Ihrer künstlerischen Arbeit, obwohl Ihre Zeichnungen in der letzten Zeit die meiste Aufmerksamkeit bekommen haben. Haben Sie noch Gelegenheit, mit Pflanzen zu arbeiten?Natürlich!Gärtnern Sie auch noch?Sehen Sie, ich bin keine Gärtnerin. Ich forsche zu Gärten, beobachte Pflanzen, und Botaniker*innen haben immer einen Anteil an meiner Arbeit. Zum Beispiel auf der Manifesta zeige ich Herbarien mit Seidenpflanzen und Solidago, die ich im vergangenen Herbst in Nordamerika gesammelt habe. Dort dienen sie der Koexistenz verschiedener anderer Arten. In der Ukraine allerdings gelten sie als invasiv – Besatzer, wenn Sie so wollen. Stabile Ökosysteme geraten in Unordnung, wenn die über Jahrtausende entstandene Koexistenz instabil wird. In der Ostukraine – zum Beispiel – gab es einst Steppe, die mittlerweile von Landwirtschaft und Bergbau zerstört ist. Dort verläuft auch die Front. Jeder Beschuss öffnet eine Bresche für invasive Pflanzen.Sind die Pflanzen für Sie eine politische Metapher?Ja, denn als Erstes müssen Sie verstehen, dass Menschen für die Übergriffigkeit von Pflanzen verantwortlich sind. Zweites dürfen Sie nicht vergessen, dass sich die lokalen Spezies nicht verteidigen können. Und genauso kann sich die Ukraine ohne Hilfe nicht gegen Russland verteidigen. Es ist ein viel kleineres Land, die meisten Waffen wurden nach dem Ende der Sowjetunion weggegeben.Placeholder infobox-1Sie haben einmal gesagt, dass Pflanzen pazifistisch sind.Ja, aber lassen Sie mich ergänzen: Pflanzen sind pazifistisch so gut sie können. Sie können natürlich nicht zurückschlagen. Aber wenn ein Teil der Pflanze beschädigt ist, dann wächst er nach. Das funktioniert bei uns Menschen nicht.Ein Baum hat ja auch keine Subjektivität.Das ist fraglich! Sie haben sicher eine Art Bewusstsein und treten in Kontakt miteinander. Aber sie können nicht fliehen, sie können nur fehlende Teile nachwachsen lassen. Vielleicht können wir unsere Institutionen nach dem Modell von Pflanzen aufbauen. Diesem Beispiel folge ich bereits, denn während des Krieges hatte ich Angst, mein Archiv zu verlieren, schließlich stecken darin ungefähr zwanzig Jahre meines Lebens. Ich habe von jedem Projekt ein Stück aus der Ukraine mitgenommen, um die Teile als Sprösslinge wieder wachsen zu lassen.Haben Sie eine Strategie, Ihre Kunstwerke zu retten?Eigentlich nicht. Mein Archiv ist im Prozess, das fertige Werk ist der Abschluss von etwas Vergangenem, das Archiv ist für die Zukunft.Das Archiv als Modell für die Zukunft, das gefällt mir. Als wir das letzte Mal gesprochen haben, war nicht klar, wie lange dieser Krieg dauern würde. Nun ist kein Ende in Sicht. Was glauben Sie, was die Zukunft der Ukraine bringt?Ich treffe keine Prognosen mehr. Ich haushalte mit der Energie, um zu überleben und gesund zu bleiben – mental und körperlich. Als ich an meinem Film gearbeitet habe, fühlte ich Freude, Scham und Schuld zugleich. Denn ich kann nur als Künstlerin arbeiten, weil es Menschen gibt, die mit Waffen an der Front mein friedliches Leben schützen. Darunter sind einige meiner Freund*innen. Können Sie sich das vorstellen?Ich habe von vielen gehört, die sich freiwillig gemeldet haben und noch nie eine Waffe in der Hand hatten.Wer möchte, kann sich nach sehr kurzer Ausbildung der Armee anschließen. Ich habe mit einer Freundin gesprochen, die Journalistin war und nun Soldatin ist. Als sie fünf Tage Heimaturlaub hatte, wollte sie Kunst sehen, und sie kam in meine Ausstellung. Ehrlich gesagt, ich mache mir jeden Tag Sorgen um sie. Im Moment macht sich in der Ukraine jede*r Sorgen um jemanden – eine Kaskade besorgter Menschen. Selbst die Taxifahrer in Kiew haben aufgehört, Unsinn über Politik zu erzählen.Placeholder image-1Sie arbeiten mit Kindern in Muzychi, Ihrem Wohnort, und Sie sagten einmal, dass es in postsowjetischen Gesellschaften einen Mangel an Vorstellungskraft gibt. Sie werde von Traumata zerstört, las ich kürzlich. Aber in der Ukraine scheint die Fantasie nie verschwunden zu sein.Als ich zuletzt dort war, konnte ich die Kinder aus Muzychi nicht treffen, denn viele von ihnen wurden ins Ausland in Sicherheit gebracht. Ich würde immer noch sagen, dass wir uns ohne Gedächtnis nichts vorstellen können. Aber es kann auch schmerzhaft sein, diese Erinnerungen zu behalten.Der Krieg wird wahrscheinlich Konsequenzen haben, die wir noch nicht absehen können. Denken Sie darüber auch nach?In meiner Vorstellung bin ich im fortlaufenden Gespräch mit dem Philosophen Bruno Latour, der sich in einem Essay mit dem Ukraine-Krieg befasst und zugleich mit der Klimakrise – und er kann sich nicht entscheiden, was Priorität hat. In diesem imaginären Gespräch würde ich ihm raten, die Ukraine als Tragödie Nummer eins zu betrachten, denn der Krieg hat einen großen Einfluss auf das Klima. Im Süden und Osten, wo die Kämpfe mit der russischen Armee toben, wachsen normalerweise Getreide und Sonnenblumen, auch das wirkt sich auf den Klimawandel aus. Ich träume davon, dass diese Felder mit mehrjährigen Arten bepflanzt werden, um Emissionen aus der Landwirtschaft zu verringern. Diese Gedanken und Träume sind Teil meiner Graphic Novel für die Manifesta.Klimakrise und Krieg lassen sich scheinbar nur in verschiedenen Geschwindigkeiten erzählen. Das Klima ist eine lange Geschichte, die sich langsam bemerkbar macht. Der Krieg hingegen ist schnell, ein Ereignis folgt auf das andere.Sehen Sie, ich spreche nicht nur über den Ukraine-Krieg. In jedem Krieg wird Geld für Waffen ausgegeben und nicht für die Forschung zu, sagen wir, mehrjährigen Getreidesorten. Darüber denke ich täglich nach, und ohne den Traum vom Frieden brauchen wir auch keinen Sieg. Jeden Tag drehe ich mich um philosophische Fragen, aber nicht, weil ich Philosophin bin, sondern weil ich nicht mehr an das alltägliche Leben denken kann. Viele Ukrainer*innen hängen jetzt dieser Art von Philosophie an.
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