In Berlin-Mitte, hinter dem Galeriehaus in der Brunnenstraße, ist es am Montagmorgen still im Hinterhof. Jemand aus der Medienagentur in der Remise raucht eine Zigarette, sonst ist niemand da. Die Treppe hinauf, im Hinterhaus, hat die NGO Tactical Tech ihren Sitz. Auf dem Treppenabsatz liegt, wahrscheinlich zufällig, eine Guy-Fawkes-Maske aus dünnem Plastik, wie sie durch die Anonymous-Hacker berühmt geworden ist. In der großen, vollgestellten Altbauwohnung mit herausgebrochenen Wänden ist es auch still, hier arbeiten Menschen an Computern, an den Wänden hängen Ausdrucke: Karten, Fließdiagramme, Visualisierungen. „Berlin“, sagt Stephanie Hankey, Mitbegründerin der Organisation, „steht im Fokus – ein guter Ort, um etw
etwas zu beginnen.“ Die NGO hat seit 2012 ihren Hauptsitz in Berlin.Für die Berlin Art Week und das Festival „Spy on Me #4: New Companions“ kooperiert Tactical Tech mit dem Theater Hebbel am Ufer (HAU), und zwar in Form einer großen Ausstellung mit dem Titel Everything Will Be Fine. Sie hat ihren Platz in einem durchscheinend weißen Gebilde, das vor dem Deutschen Technikmuseum gegenüber dem HAU stehen wird. Der temporäre Bau, ein aufblasbarer horizontaler Ring aus Heißluftballonstoff, wurde von dem tschechischen Architekturbüro Kogaa gestaltet – Titel: Air Square – und für die Schau adaptiert. Die Struktur – der Ring ruht auf hölzernen Pfeilern – wurde noch nie zuvor für eine Ausstellung benutzt, und die Arbeiten werden innen und außen zu sehen sein. Der Bau ist, so sagen die Architekt*innen, transportabel und soll dazu dienen, ungenutzten städtischen Raum zu aktivieren und Öffentlichkeit zu schaffen. Nachts leuchtet die Konstruktion.Misstrauen gegen DesignBeide Mitglieder des Management Board von Tactical Tech, Stephanie Hankey und Marek Tuszynski – der andere Gründer der Organisation –, haben Abschlüsse in Kunstgeschichte und einen Hintergrund in Design. Das sei ungewöhnlich, sagt Hankey, wenn man in NGOs arbeite. Ihnen ist ein Interesse an den politischen Implikationen von Technologie und Design gemein. Als Hankey um die Jahrtausendwende das Royal College of Art in London absolvierte, gab es keine Organisation und keine Gruppe, die sich mit genau dieser Art von Arbeit befasste, nämlich „Storytelling, um Menschen beim Lernen zu helfen. Denn“, sagt sie, „wir haben nicht genug Metaphern und Denkmodelle.“Tactical Tech will Abhilfe schaffen, zum Beispiel mit einem Handbuch über die Visualisierung von Informationen. „Wir haben mehr als 50 Workshops mit Aktivist*innen veranstaltet und das Ergebnis als Buch herausgegeben.“ Das Buch umfasst 50 Fallstudien von Organisationen, die sich gegen Folter, für Umwelt, Kinder- und Frauenrechte engagieren. „Immer, wenn wir ein neues Toolkit herausgebracht haben, fragen die Leute: ‚Warum produziert ihr das, ihr seid doch ein Non-Profit!‘“ – ein Misstrauen dem Design gegenüber, denn wenn die Oberfläche zu gut aussieht, muss es etwas zu verbergen geben, so ein altes Vorurteil. „Dabei kostet es nicht viel mehr, etwas gut zu gestalten.“In einem anderen Projekt recherchierten sie zu Datensammlungen über Menschenrechtsorganisationen und Journalist*innen, in einem weiteren untersuchten sie, wie politische Kampagnen auf der ganzen Welt digitale Daten nutzen, und das vor dem Skandal um Cambridge Analytica unter anderem bei der Bundestagswahl 2017. Das US-amerikanische Unternehmen soll Nutzerdaten verwendet haben, um Wähler*innen durch Werbung mittels sogenannten Mikrotargetings zugunsten rechtspopulistischer Bewegungen und Politiker zu beeinflussen.Aus den Projekten gehen oft Publikationen hervor, zum Beispiel ein Leitfaden, der erklärt, wie man seine Privatsphäre online schützt, ein Daten-Detox-Kit für den gesunden digitalen Lebensstil gewissermaßen.Placeholder infobox-2Immer wieder kommt Hankey auf The Glass Room zu sprechen, eine Ausstellung, die 2016 als Experiment im Berliner Haus der Kulturen der Welt begann, dann nach New York, London und schließlich San Francisco wanderte. „Eine Intervention in der Einkaufsstraße, die einen Laden übernahm“, sagt Hankey. „Politisch und provokant in dieser Umgebung.“ The Glass Room spielt mit der Idee eines Tech-Ladens. Er sieht ein bisschen aus wie ein Apple Store, bloß dass es nichts zu kaufen gibt.The Glass Room passt genau in unsere digitale Gegenwart. Die 20.000 Besucher*innen, die in zwei Wochen in New York die Ausstellung sahen, waren mit einem gestalterischen Konzept konfrontiert, für das der Autor Kyle Chayka einmal den Begriff „Air Space“ geprägt hat. Orte also, die überall auf der Welt gleich wiedererkennbar aussehen und in die man fast widerstandslos hineinschweben kann, von einem plattformkapitalistischen Service zum nächsten, vom Mietwagen zur Ferienwohnung in den Coworking-Space, und bei all dem hinterlassen Nutzer*innen eine Spur aus Daten. Die Architektur tut dabei so, als wäre sie unaufdringlich und immateriell, wie aus Luft. Das ist natürlich in das Denken der Unternehmen eingebaut, sagt auch Stephanie Hankey: „Die behaupten, alle Probleme lösen zu können. Für The Glass Room haben wir uns Firmen angesehen, die Plastik- und Metallobjekte verkaufen, aber eben auch eine Ideologie, die vage mit Frieden und Freiheit zu tun hat. In frühen Apple Stores hingen Bilder von John Lennon, Yoko Ono und Nelson Mandela.“Dabei hat Tactical Tech gelernt, das Verhältnis zu Daten und Technologie zugänglich zu vermitteln. „Wir machen weder Kunst noch reine Bildungsarbeit“, sagt Hankey, aber die NGO arbeitet mit Künstler*innen, und zwar solchen, die aus Institutionen herausgehen und die Öffentlichkeit suchen. Bei der Ausstellung in Berlin gehe es um neue Themen, nämlich unsere Reaktion auf Krisen: Verlust von Biodiversität, Klima, Pandemie. „Wir haben das Konzept 2020, am Anfang des Lockdowns, geschrieben. Das Projekt wollten wir draußen, auf der Straße, versuchen.“Everything Will Be Fine ist anders als The Glass Room, es geht nicht mehr nur um Daten und Demokratie, sondern um Krisen und die Antworten darauf. Die Schau ist eine Art Hybrid von grafischen Elementen und digitalen, sichtbar auf dem Handy. Jedes Werk hat eine digitale Komponente, die es näher erklärt. Einige der Künstler*innen machen Augmented-Reality-Kunst. „Wir sind daran interessiert, Online und Offline zu vermischen. Unsere Anwesenheit in der Welt ist schließlich auch nicht mehr nur analog.“Es wird atmosphärischIn der Ausstellung gibt es eine Arbeit von Joana Moll, die Überwachungsbilder von Migrant*innen an Grenzen untersucht hat, oder Planet City, Liam Youngs schöne, spekulative Architekturvision, die er in einem Film und einem Buch entworfen hat. Darin präsentiert er eine Welt, in der die Menschheit in einer einzigen Riesenstadt lebt, während der Rest der Erde unberührt bleibt. Der Künstler Egor Kraft befasst sich mit Künstlicher Intelligenz, anderen geht es um Ökologie und Biodiversität. Probleme und Lösungen unserer digitalen und intensiven Gegenwart liegen hier beieinander. Außen, am Ring, werden eher Kunstwerke zu sehen sein, es werde atmosphärisch zugehen, erklärt Hankey, im Inneren hingegen erinnert der Raum an ein Museum.„Wir wollten einen Ort schaffen, den das Publikum leicht finden kann, aber es ist überraschend schwer, eine Genehmigung für eine temporäre Struktur auf einem öffentlichen Platz zu bekommen.“ Daher steht der umschlossene Raum auf dem eher halböffentlichen Gelände vor dem Museum und wirkt so federleicht, dass er an die Versprechen der Tech-Plattformen und ihrer Architektur denken lässt: reibungslose Offenheit und einfache Lösungen für alle Probleme. Aber gerade das will Tactical Tech ja verkomplizieren.Placeholder infobox-1
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