Frédérique Aït-Touati bittet mich, zehn Dinge aufzuschreiben, die für mein Leben und Überleben notwendig sind. Auf einem Blatt Papier notiere ich: Internetverbindung, Fahrrad, Wohnung, während in einer anderen Ecke des hellen hohen Museumssaals ein Mann mit Tusche einen Zeitstrahl auf aneinandergeklebte Papierstreifen malt. Er beginnt bei 1900 und endet 2050, über den Jahreszahlen eine Zickzacklinie. Besucher*innen stehen um die hüfthohen Holztische, einige schreiben, wie ich, Listen, andere zeichnen bunte Diagramme. Durch den zentralen Raum im Berliner Gropius-Bau huschen freundliche Helfer, die assistieren und so schnell verschwinden, wie sie auftauchen. Gruppen bilden sich, kurze Gespräche entstehen, dann lösen sie sich auf. Lockere Gesc
eschäftigkeit, wie in einem Co-Working-Space, wo keine Deadlines drohen.Aït-Touati ist Wissenschaftshistorikerin und Theaterregisseurin, die mit dem Philosophen Bruno Latour zusammenarbeitet. Gemeinsam haben sie zuvor in Frankreich Arbeitsräume eingerichtet, in denen Teilnehmer*innen lernen sollen, ihre unmittelbare Umgebung zu kartografieren. Das gehört zu einem Masterprogramm in politischer Kunst am renommierten Institut Sciences Po in Paris. Und nun sind eben auch hier für die Dauer der Ausstellung Down to Earth Besucher*innen eingeladen, ihr Leben auf Karten zu begreifen. Beziehungsweise zu „landen“, wie es in Latours 2018 auf Deutsch erschienen Buch Das terrestrische Manifest heißt.Dieser Raum ist Teil einer Gruppenausstellung, deren Untertitel Klima Kunst Diskurs verspricht. Ein anderer Raum, kuratiert von Stefanie Hessler, mit Fotografien von Armin Linke und Objekten von Femke Herregraven, ist den Ozeanen gewidmet. Einen weiteren Raum hat der Künstler Asad Raza mit Erde gefüllt, die durch industrielle Verschmutzung unbrauchbar geworden ist. Hier soll sie wieder zu fruchtbarer Pflanzenerde werden. Davon dürfen sich die Besucher*innen einen kleinen Stoffbeutel mitnehmen. Hinter dem mächtigen Gropius-Bau ist auf recycelten Konferenztischen ein Garten angepflanzt, dessen Salate am Ende der Ausstellung bei einem gemeinsamen Abendessen verspeist werden. Konzerte, Vorträge und Workshops zum nachhaltigen Bauen begleiten die Ausstellung.Die Schau ist das finale Kapitel der Reihe „Immersion“. Seit 2016 steht der Begriff im Zentrum des Programms der Berliner Festspiele, und das aus dem Lateinischen entlehnte Wort bedeutet eigentlich nur: Eintauchen. Es bezeichnet jenen wohligen Moment, wenn man bei der Romanlektüre seine Umwelt vergisst, sich bei einem Game als Teil der Spielwelt fühlt oder bei einer Serie maximal empathisch mitfiebert. Subjekt und Objekt zerfasern, und die Grenze zwischen Ich und Welt scheint für einen Moment durchlässig. „Immersion“, sagt der Intendant Thomas Oberender auf der Terrasse des Museumscafés bei der Pressekonferenz, „führt von einer sauber sortierten dialektischen Welt herüber in ein neues Weltverhältnis.“Eine andere Lesart des Begriffs empfahl Allan Kaprow, als er die Regeln für ein Happening darlegte: „Go in instead of look at“. Das gilt als Motto der Reihe. Die Auftaktausstellung von Mona el Gammal war 2016 ein Virtual-Reality-Film, Ed Atkins schuf pure Melancholie aus HD-Videos und alten Opernkostümen, das Rollenspielkollektiv Omsk Social Club rief Besucher auf, revolutionäre Zellen zu bilden, Philippe Parrenos schoss eine schillernde Botschaft aus der Zukunft, das megalomane Film-Theater-Rollenspielprojekt DAU scheiterte an der Zustimmung der Berliner Behörden.Licht aus jetztJetzt bricht das finale Kapitel an. Oberender, seit 2012 Intendant, findet immer noch, dass Immersion ein Schlüsselphänomen unserer Zeit ist. Wahr ist, nach dem Hype um diese komplizierte Formel ist es zuletzt etwas ruhiger geworden – Immersion, der Zustand, der immer auch für das Eintreten in die Virtual Reality benutzt wurde, wirkt etwas verbraucht. Das Konzept scheint in seiner Künstlichkeit nicht mehr eine Gegenwart auszudrücken, deren Probleme und Präsenz zu irre drängen.Oder doch? Die Immersion, der Traum, die Grenze von Subjekt und Objekt aufzulösen, ist so alt wie die Kunst selbst. Immersion ist auch insofern ein Coup der Festspiele, als sich darin die Interessen von Künstler*innen und Techies genauso überlappen wie die von Intellektuellen und Kulturmanagern. Das wandelbare Konzept ist gut geeignet, um über Jahre Relevanz zu erzeugen. Die Berliner Festspiele sind ein Ausstellungshaus ohne Sammlung und ein Festspielhaus ohne Ensemble. Deshalb ähneln viele Projekte den experimentellen Vermittlungsprogrammen von Latour und Aït-Touati, nur im größeren Maßstab. Kreative kooperieren für die Dauer eines Festivals, die Vernetzung ist wichtiger als Hierarchien: Go in instead of look at.Kunst und Diskurs drehen sich nun um Klima und Nachhaltigkeit: Die Ausstellung verzichtet auf künstliches Licht, die Klimaanlage ist ausgeschaltet, es gibt keine elektrischen Geräte. Latour schrieb in seinem terrestrischen Manifest, es ließen sich die Fragen unserer Zeit – politischer Populismus, Migration – nur verstehen, wenn man der Klimafrage einen zentralen Platz einräume. Wir sind schließlich mittendrin. Ist also alles irgendwie Immersion? Das Riesenprojekt legt nahe: So war es schon immer.Placeholder infobox-1