Kulturhauptstadt 2023: In Eleusis glaubt man noch an Mysterien
Identitätssuche Europäische Kulturhauptstädte sind Riesenprojekte, sie stellen die großen Fragen. Aber was bedeutet das für kleine Industriestädte nach der Krise? Ein Besuch in Elefsina
Vertrackte Frage: Was gilt eigentlich verbindlich als Kultur?
Foto: Nick Paleologos
An dem Samstagabend, als die kleine Hafenstadt Elefsina offiziell zur europäischen Kulturhauptstadt wurde, war die zentrale Promenade voll von Menschen. Jenseits der Hauptstraßen war es still. Hier stehen einstöckige Bungalows mit klassizistisch anmutenden Architraven und schmucklose zwei- bis dreistöckige Apartmenthäuser. Orangenbäume mit ungenießbaren Früchten säumen die Straßen, manchmal jagen streunende Katzen durchs Laternenlicht. Die Kleinstadt wurde für dieses Jahr neben Timișoara in Rumänien und Veszprém in Ungarn zur Kulturhauptstadt erwählt, hier wird jetzt ein Jahr lang über Europa nachgedacht.
Bei der großen Eröffnung im temporären Amphitheater am Hafen beklagt Griechenlands Präsi
Präsidentin Katerina Sakellaropoulou die spirituelle Leere der Moderne. Sie liest den Mythos von Hades und Persephone, der in Elefsina spielt, als Erzählung über die Ausbeutung der Natur. Valdis Dombrovskis, der Vizepräsident der Europäischen Kommission, sagt, es gehe bei den Kulturhauptstädten nicht mehr darum, den Homo Europaeus zu finden, sondern die gemeinsamen Werte zu stärken. Lina Mendoni, die Kulturministerin Griechenlands, erklärt, wir seien alle nach Elefsina gekommen, um neu initiiert zu werden. Je mehr man darüber nachdenkt, was eigentlich europäisch ist, desto unklarer wird alles.Elefsina, die Stadt, die einst Eleusis hieß, wo Aischylos geboren wurde, ist um ein Geheimnis herum gebaut. Der Tragödiendichter wurde zum Tode verurteilt, weil man ihm vorwarf, in einem seiner Stücke das Mysterium verraten zu haben, ihm konnte aber nichts nachgewiesen werden. Im Kern des Rituals steckte Persephones Rückkehr, und es fand nachts bei Fackelschein statt, an dem Ort, wo Demeter auf ihre Tochter gewartet haben soll, weil sie der Unterweltgott Hades entführt hatte. Wenn man über den wüsten Plan der Grabungsstätte geht, passiert man ein erstes Eingangstor, dann noch eines, die Zeremonie war in Treppen und Felsen eingebettet. So eine Umgebung würde man heute immersiv nennen.Das immerwährende Feuer395 nach Christus zerstörten die Westgoten die Stadt und ihre Tempel. Viel, viel später kamen Griechenlandliebhaber aus England in die Stadt. Die romantischen jungen Männer wurden angezogen von den Ruinen, die rund um das Geheimnis in sich zusammengesunken sind. Lord Byron besuchte die Stadt, Friedrich Nietzsche, später Virginia Woolf. Ab 1922 kamen Geflüchtete aus Kleinasien in die Region, die sich vor der Verfolgung der griechischen Bevölkerung am Ende des Osmanischen Reichs retteten, als es noch keine EU-Außengrenzen gab.Ein berühmtes Foto aus der Nachkriegszeit zeigt kopflose Statuen der heiligen Stätte. Es liegen ein paar Säulenfragmente herum, im Hintergrund rauchen die Schlote der Zementfabrik. Die Stadt wurde im Laufe des 20. Jahrhunderts zum Industriestandort, und entlang der Küste zieht sich ein langer Hafen, der im Nordwesten von der Zementfabrik Titan begrenzt wird, das südöstliche Ende markiert die Spirituosenfabrik Kronos. Der Riese und der Gott der Zeit ersetzen Demeter und Persephone. Die staubige, halb verfallene Zementfabrik sieht sonderbarerweise wie eine nahe Verwandte des Tempels aus, und vom gegenüberliegenden Ufer der Bucht grüßt nachts das immerwährende Feuer der Hellenic-Petroleum-Raffinerie, als stünde da eine Großstadt mit Hunderten von Lichtern, aber ohne Menschen.Kulturhauptstädte werden seit 1985 auf Empfehlung der Europäischen Kommission ausgewählt. Die Bewerbungen befassen sich mit dem Europäischsein, oder damit, wie man europäisch wird. Aber das zweifelnde Fragen nach der Identität war nicht immer Bestandteil der Initiative. Die erste Kulturhauptstadt war Athen, gefolgt von Florenz, Amsterdam und später Paris: eher Bestätigung als Frage. 1990 wurde mit Glasgow erstmals eine postindustrielle Stadt gekürt, worauf Tourist*innen nach Schottland strömten. Die Initiative veränderte sich, Kulturhauptstädte fanden sich zunehmend an den geografischen Rändern der Staatengemeinschaft, und sie wurden kleiner. Man sprach über sozioökonomische Ziele und Veränderung für Städte und Regionen, weit über ein Festjahr hinaus. Kultur als Katalysator für Kreativstädte und der Aufbau von institutionellen Strukturen wurden zum Standortfaktor für postindustrielle Dienstleistungsgesellschaften.Fragt man Michail Marmarinos, Schauspieler, Regisseur und künstlerischer Leiter von 2023 Eleusis, was das Erbe der Stadt sei, sagt er, es gebe ein greifbares und ein ungreifbares. Da gibt es Lücken und Freiräume, die man in Athen nicht findet, und ja, eben das Geheimnisvolle, als wollte Marmarinos der Stadt ihre Mythen zurückgeben. Greifbar hingegen ist beispielsweise die Academy of Choreography, als bleibende Institution gedacht, die derzeit in einem alten Bowlingzentrum gastiert. Oder die Nachnutzung von alten Industriegebäuden zur Kulturproduktion. Drei Themenfelder der Mysteries of Transition, so der offizielle Titel des Programms, sollen Elefsina mit dem Rest Europas verbinden: Gesellschaft, Umwelt und Arbeit. „Eine kleine Stadt muss sichtbarer sein, denn sonst geht sie verloren“, sagt Marmarinos.Die Veranstaltungen, Ausstellungen, Projekte sind durchnummeriert: Mystery 79 ist eine jährliche Konferenz zum Austausch zwischen internationalen Akteur*innen und der Stadtgemeinschaft, für Mystery 111 werden aktive und pensionierte Arbeiter*innen aus den Fabriken in Terrakotta porträtiert. Mystery 45 soll aufstrebenden Festivalmacher*innen eine Werkstatt geben. Vieles davon ist noch im Aufbau und eröffnet erst im Laufe des Jahres.Am Abend tanzen Menschen in bestickten Trachten komplizierte Schritte im Kreis, andere singen an der Hafenpromenade von ihren Balkonen. Der Künstler und Komponist Heiner Goebbels huscht zwischen den Besucher*innen seiner 7 Columns hindurch, einer Installation in der alten Ölmühle am Hafen. Mit einem Wasserbecken in der Mitte und Projektionen an den Wänden wird der Raum in ein Telesterion verwandelt, wie es an der alten Weihestätte ein paar Hundert Meter entfernt stand. Performer*innen in Videos tragen Säulen wie Relikte einer europäischen Geschichte hin und her. Dazu spielt griechische Volksmusik, die von dem Ethnomusikologen Samuel Baud-Body um die Jahrhundertmitte gesammelt wurde.Überhaupt, Musik. In einer Autowerkstatt weiter unten am Hafen wird ein Lied von Stelios Kazantzidis so laut abgespielt, das die Karosserien, marmorgleich unter milchigen Schleiern aus Plastikfolie, wie von selbst rattern. Kazantzidis’ wehmütige Lieder handeln vom Stolz der Arbeiterklasse und von Migration: „Meine Songs sind nichts fürs Wohnzimmer“, sang er. Das alles ist Teil des Programmpunkts If Only My Life Were A Saturday Night.Noch später, nach der offiziellen Eröffnungszeremonie, stehen am Ende der Strandpromenade sechs aufgemotzte Kleinwagen mit gewaltigen Lautsprechern, wie an jedem Samstagabend. Ich versuche, einen der jungen Männer zu fragen, ob er aus Elefsina sei und was er von der Initiative der Europäischen Kulturhauptstädte halte. Aber der Bass ist zu laut. Er nickt nur: ja, ja. Ihm ist egal, wie fasziniert die umstehenden Großstädter aus Athen, Berlin und anderswo die Autos und die Musik finden. Von der Seite spricht mich ein anderer an. Er trägt eine gelbe Strickmütze und kommt aus Athen. Ob die Automänner zum Programm von 2023 Eleusis gehören, fragt er, aber das will er eigentlich gar nicht wissen. Er findet, dass das eher mit Lärmbelästigung als mit kulturellem Erbe zu tun habe.Die Jahre nach der Wirtschaftskrise waren nicht so gut zu der Stadt. Griechenland zählte zu den EU-Nationen, die das Defizitkriterium wiederholt verfehlt hatten. Die Menschen reagierten mit Protesten auf die strengen Maßnahmen zur Haushaltskonsolidierung. Wer heute jung ist in Elefsina, sucht seine Zukunft eher in der Hauptstadt oder ganz woanders. Zur gleichen Zeit geriet das Selbstverständnis Europas vor dem Hintergrund neuer nationalistischer Bewegungen ins Wanken. Vielleicht wurde aber auch besonders offensichtlich, dass die europäische Identität ein schwer zu fassendes Ding ist, das der Vielfalt des Kontinents nicht gerecht wird, dessen kulturelle Grenzen fließend sind – und dessen Grenzen hart sind, wenn man Teil davon sein möchte. Vielleicht steckt gerade darin das große Mysterium dieser Kulturhauptstadt, denn hier kristallisiert sich die vertrackte Frage, was eigentlich verbindlich als Kultur gilt. Und wie wir in Zukunft über Zentrum und Peripherie in Europa nachdenken.