It-Literatin Emily Segal sieht sich als eine Anthropologin der 2010er Jahre. Ist ihr erster Roman „Rückläufiger Merkur“ das Nebenprodukt ihres Burnouts? Aber ja!
Eines Tages verlor die Trendforscherin Emily Segal die Fähigkeit, Mode-Codes zu lesen. Es ergab alles keinen Sinn mehr – ein Problem für jemanden, dessen Aufgabe es ist, kulturelle Zeichen zu entziffern, ihre Bedeutung zu antizipieren und die Erzählungen der Zukunft zu stricken.
Die Protagonistin des Romans Rückläufiger Merkur heißt wie seine Autorin, und diese Verwirrung ist gewollt. Denn hier handelt es sich um einen autofiktionalen Roman, und das Buch fügt sich in jenen Makrotrend der Literatur ein, in dem Fiktion und Fakten ineinanderfließen – ein kollektives „main character syndrome“, sagten manche, also die obsessive Selbstbezogenheit einer Generation. Segal hingegen sagt: „Das ist ein Bildungsroman, in dem ich eine
ldungsroman, in dem ich eine Phase meiner Jugend abbilden wollte.“ Der Roman, an dem Segal ungefähr fünf Jahre arbeitete, blickt auf die 2010er und ist aus einem Schreibzyklus hervorgegangen, in dessen Zentrum ein Essay für das Kunstmagazin e-flux stand. Das war 2015. Douglas Coupland, der Autor von Generation X, der sich mittlerweile als Künstler und Zukunftsforscher betätigt, sagte zu ihr, in dem Text stecke ein Buch.Bei Friedrich Kittler studiertDie Handlung entspinnt sich zwischen Occupy und Donald Trumps Wahl zum US-Präsidenten, zwischen Euphorie und Depression. Es ist ein historischer Roman der 2010er, der sich der Realität auf unheimliche Weise annähert. Das mag auch an den mitgeschriebenen Dialogen und den Protokollen liegen, die Segal gelegentlich einfügt wie Readymades, oder an der hyperrealistisch wiedergegebenen Welt des Branding – der Markenstrategie, die ja ohnehin schon mit Fiktionen arbeitet, die sich auf die echte Welt auswirken. „Mir war schon klar“, sagt Segal, die Autorin, über Videotelefonie aus Los Angeles, „dass die 2010er eine dekadente Zeit waren, und ich wollte das aufzeichnen“. Sie spricht und denkt schnell und bestätigt das meiste, was man ihr an Thesen vorschlägt, mit einem „Ja, genau!“. Segal ist 1988 in New York geboren, hat unter anderem in Berlin bei Friedrich Kittler Kulturwissenschaften studiert, danach hat sie beim Mode- und Zeitgeistmagazin 032c als Redakteurin gearbeitet, später, in New York, arbeitete sie für die Agentur Wolff Ollins. Damit war sie den Schaltstellen der 2010er-Kultur ganz nahe, als das sogenannte Web 2.0 explodierte, kurz bevor Trends wie Post-Internet die Kunstwelt prägten, als über Berlin die letzten Gentrifizierungswellen hinwegschwappten.Segal war Teil von K-HOLE, einem Kunstkollektiv, das sich als Trendforschungsagentur maskierte, oder umgekehrt – es ist nicht so leicht, die Aktivitäten der Gruppe zu erklären. Sie benutzte den Trendbericht aus der Markenstrategie als literarisches Format. „Ich wollte die Gegenüberstellung vom heiligen Kunstwerk und dem schmutzigen Kommerz destabilisieren“, wird Segal später erklären. Normalerweise werden diese Berichte in Auftrag gegeben und teuer bezahlt, weil Unternehmen sich einen fundierten Blick in die Zukunft erhoffen. Die New Yorker Gruppe verteilte sie hingegen gratis auf USB-Sticks und online. Sie trugen Titel wie FragMOREtation: A Report on Visibility, und ihre Sprache, die sich an postmoderne Theorie des ausgehenden 20. Jahrhunderts anlehnt, lässt an den Protagonisten von Tom McCarthys Roman Satin Island von 2015 denken. Der ist Firmenanthropologe, der einen ethnografischen Bericht über die ganze Gegenwart schreiben soll, von Claude Lévi Straus zu Levi’s Jeans, gewissermaßen. Ein Vorbild für Segal: „Anthropolog*innen“, erzählt sie, „sind die ultimativen Schriftsteller – sie gehen in fremde Kulturen, beobachten Formen und Codes, und am Ende schreiben sie eine Geschichte, die Sinn ergibt, und sie zeigen, wie sie sich selbst im Prozess verändert haben“.Aber, von wegen teilnehmende Beobachtung: Eine erste radikale Wendung in Segals Lebenslauf war der K-HOLE-Report Youth Mode. Dabei gab es ein doppeltes Missverständnis. Als erstes wurde der Bericht als tatsächliche Trendvorhersage gelesen und löste dadurch wirklich einen Trend aus. „Normcore“ wurde von der Modepresse aufgegriffen, als Abkehr vom zwanghaften, angstbehafteten Individualismus der sogenannten Hipsterkultur, die am Ende nichts weiter war als das Wuchern kleinteiliger Konsumentscheidungen, um maximale Distinktion zu erreichen. Dabei, hier liegt das zweite Missverständnis, sollte das Konzept eher eine offene Haltung der Welt gegenüber beschreiben als einen Trend mit weißen T-Shirts und bequemen Turnschuhen. „Normcore is a path to a peaceful life“, heißt es in dem Bericht, als wäre das nun eine der Lehren Buddhas. Fast schon ironisch, dass Segal nun einen autofiktionalen Roman geschrieben hat und sich einer Gattung annähert, die dem Individuum verpflichtet ist.Die Protagonistin, die so heißt wie die Autorin, begibt sich früh im Roman zu einer Auraleserin, denn Segal überlegt, ob sie ihren bisherigen Job an den Nagel hängen soll. Roman-Emily arbeitet für eine Agentur und ist damit beschäftigt, Screenshots in ein Word-Dokument einzufügen. Im Fachjargon nennt man so etwas ein „moodboard“, also eine Bildersammlung zur Inspiration; Emilys Arbeit hätte der Anthropologe David Graeber einen Bullshit-Job genannt, eine enorm entfremdete Tätigkeit, bei der man mit dem Versprechen von kreativem Ausdruck bei der Stange gehalten wird. Wie Herman Melvilles Bartleby – ein möglicher literarischer Ahne – kommt sie gutgelaunt ins Büro, setzt sich an den Schreibtisch und tut: nichts. „Mir war, als würde ich mich in eine sprechende Büroklammer verwandeln.“ Jedenfalls, sie bekommt ein Angebot, für das Start-up eXe zu arbeiten, das sich als Talmud des Internets versteht, und darin steckt schon der ganze Größenwahn jener Jahre, als das Startkapital locker saß, solange die Jungunternehmer etwas mit Web 2.0 machten und der Anspruch auf Weltveränderung nur groß genug war. So groß wie die Ambitionen sind auch die Büroräume, die eXe bezieht – ein verglaster Wohnkomplex in Brooklyn, vollklimatisiert, mit reichlich Platz für Partys.Marketing für AnfängerDer Roman gibt den Besuch bei der Auraleserin als Auftragsprotokoll wieder, inklusive der Metadaten: die Länge in Minuten, die Person, die transkribiert hat, die Bestellnummer, alles eine verspielte Pastiche. Sie wollte, so die Autorin, verschiedene Arten von Sprache in das Buch aufnehmen: ein vielgestaltiges Bild der, ja, Gegenwart. Der Text ist voll von alten Avantgarde-Verfahren, aber Segals Roman ist nie sperrig, sondern entwickelt einen erzählerischen Sog, mit seinen kurzen Kapiteln, die klingen wie Essays oder wie Tedtalks: „Markenstrategie für Einsteiger“ oder „Willkommen in der Zukunftsübelkeit“. Textform „long read“, man kennt es aus dem Internet. Aber die Splitter kommen nicht zu einer einfachen Synthese, und das macht den Roman zum vorläufig vollständigsten Bild jener Jahre.Emily Segals Aura ist magenta, so wie der Umschlag des Buchs. „Sie kommen von einem anderen Planeten“, sagt Riva, die Auraleserin. „Magenta hat eine schnellere Wellenlänge. Das kann oft dazu führen, dass Sie das Gefühl haben, sich dümmer stellen zu müssen, um hier verstanden zu werden.“ New-Age-Ideen – Kristalle, Aura, Horoskope – sind wieder en vogue, aber nicht versteckt auf den letzten Seiten von bunten Magazinen, sondern als ironische Neuentdeckung für die digitale Welt, in Podcasts, Apps und Social Media, ganz so, als wäre die intensivierte Gegenwart gar nicht mehr anders zu verstehen. Wenn man in die Geschichte schaut, sagt Segal, wenden sich die Menschen gerade dann zum Mystizismus, wenn große kulturelle Verschiebungen anstehen, die mit bisherigen Verständnismodellen brechen. Sie glaubt fest daran, was einst der Science-Fiction-Autor Arthur C. Clarke sagte: „Jede hinreichend fortschrittliche Technologie ist von Magie nicht zu unterscheiden“, und wir erleben jetzt die Synthese von Aberglaube und Technologie, als läge darin ein Weg zur Achtsamkeit und Kontemplation.Schlüsselroman zur Gegenwart?Segals Kunstkollektiv K-HOLE arbeitete an einem Projekt, in dem es um den rückläufigen Merkur ging. Sie denkt sich dieses Himmelsphänomen als die Summe des Zeitgeists, so schreibt sie, als ein Bild für die Glitches, kleine Störungen in der Informationsökonomie. Denn der Götterbote Merkur ist für Handel und Information zuständig, und wenn der nach ihm benannte Planet sich am Himmel unvorhersehbar verhält, dann verstehen die Sternengläubigen das nicht bloß als Metapher. Die Powerpoint-Präsentation friert ein, Informationen werden fehlgeleitet. All das kann auf den Götterboten geschoben werden, schließlich auch Einsamkeit, unerfülltes Begehren und alle anderen Niederlagen des Lebens. „Die semantische Landkarte erstreckte und dehnte sich in alle Richtungen“, schreibt Roman-Emily. „Sie versucht, diese Kräfte zu manipulieren und will dabei Kunst schaffen, bleibt aber erfolglos“, sagt die Autorin.Eine Rezension bezeichnete Segals Roman als eine autofiktionale Theorie des vergangenen Jahrzehnts in der Kunstwelt. Wenn das so wäre, würde man einer müde gewordenen These aufsitzen, nämlich der, dass Autofiktion einfach die Schlüsselromane zur Gegenwart liefert. Dabei verliert man zu leicht aus dem Blick, dass diese Werke oft ein Nebenprodukt von ganz anderen Praktiken sind. Chris Kraus’ Briefroman I Love Dick zum Beispiel, der Segals Text formal – das Interesse an der Collage – , aber auch inhaltlich – unerfülltes Begehren, ein Künstlerinnenroman – ähnelt, entstand eher nebenbei, während es Kraus nicht so recht gelang, als Videokünstlerin erfolgreich zu werden: der Roman aus Resten.Ähnlich verhält es sich mit Segals Buch, das aus dem Scheitern doch noch künstlerisches Kapital schlägt. Als Emily Segal die Fähigkeit verlor, Modecodes zu lesen, kündigte sich mit einem Zucken am Auge einfach ein Zusammenbruch der semantischen Maschine an. Irgendwann folgt das Burnout.Man könnte einwenden, dass ein Kollektiv wie K-HOLE einfach kommerzielle Bildwelten reproduziert und ein Roman wie Rückläufiger Merkur zu sehr an den Formaten der Werbewelt hängt, ohne Platz für Kritik. Dabei vergisst man aber, dass im Nachgang der Rezession von 2008 künstlerische Arbeit allmählich mit prekärer Arbeit gleichzusetzen war. Später wird Segal sagen, dass diese kommerzielle Arbeit befreiend gewesen sei, denn hier könne man schreiben und gestalten, ohne dass der eigene Name daruntersteht. Aber Segal sagt eben auch: „Ich denke, Menschen in der Werbung sind ausgebrannt, weil die Arbeit furchtbar ist. Wenn man emotional und neurodivergent ist, so wie viele Künstler, dann ist der moderne Arbeitsalltag nicht das Richtige.“ Kunst und Arbeit existieren in einem Kontinuum, aber wenn man ehrlich ist, hat das kaum etwas Befreiendes. Darin liegt die Tragik von Rückläufiger Merkur.Mittlerweile hat Segal einen Verlag gegründet, der die englische Ausgabe des Romans herausgegeben hat, außerdem einen Lyrikband. Eine Essaysammlung über Sexarbeit aus „postoperaistischer Perspektive“ (googlen Sie!) ist in Vorbereitung, ebenso Segals zweiter Roman. Ein gedrucktes Buch zu machen vergleicht sie mit einer japanischen Teezeremonie. Ein langsames Langzeitprojekt.Placeholder infobox-1
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