Zwei Missverständnisse gibt es in der Wahrnehmung von experimenteller Musik. Erstens dass sie unpolitisch sei und zweitens ein westeuropäisch-amerikanisches Phänomen. Die Türkei etwa ist vielen vor allem für Saz oder Psychedelic Rock bekannt, kaum jedoch für ihre freie Musikszene. Um ihr mehr Gehör zu verschaffen, haben die Komponisten Erdem Helvacıoğlu und Batur Sönmez die Anthology of Turkish Experimental Music veröffentlicht. 29 Künstlerinnen und Künstler stellen darauf ihre Musik vor, von zähflüssigen Drone-Stücken über hypnotischen Ambient bis hin zu akademischen Klangexperimenten.
Die ältesten Werke stammen von İlhan Mimaroğlu und Bülent Arel, dessen Postlude from Music for Sacred Service (1961) mit den frei umherschwebenden Synthesizerklängen wie eine UFO-Landung in einem alten Science-Fiction-Film klingt. Arel, der in den 1960ern am Konservatorium in Ankara lehrte, war einer der Pioniere von Loop-Techniken und arbeitete mit Komponisten wie Edgar Varèse zusammen. Arel und Mimaroğlu, Jahrgang 1919 und 1926, sind die einzigen Prä-Millennium-Künstler der Anthologie. Es vergingen rund 40 Jahre, bis eine Szene entstand, die so verschiedene Stile wie Noise, Electronica und freie Improvisation miteinander verschaltete.
Wacher Kosmopolit
Ein Vertreter Letzterer ist Korhan Erel aus Istanbul, der das von tiefem Grollen und nervösen Mikrorhythmen getragene Con-Structure 2 beigesteuert hat. Erel ist Gründungsmitglied von Islak Köpek, einem der wichtigsten türkischen Kollektive für freie improvisierte Musik. Sein Stück illustriert, wie subtil sich Gesellschaftskritik in abstrakten Klängen unterbringen lässt. Es enthält die letzte Funkaufnahme des sowjetischen Kosmonauten Wladimir Komarow, der 1967 bei einer Mission wegen eines technischen Defekts starb. Komarow, der kurz vor dem Start wütend auf seine Vorgesetzten schimpfte, weil sie ihn in ein kaputtes Raumschiff gesetzt hatten, ist ein tragisches Opfer politischer Willkür. Erel, ein wacher Kosmopolit, der „alles Nationalistische“ verabscheut, lebt seit 2014 in Berlin, wo er inzwischen in den besten Jazzclubs spielt. Er zog nicht nur wegen der größeren Szene um, sondern auch, wie er sagt, wegen seiner „neu entdeckten Queerness“.
Das brutale Vorgehen der türkischen Regierung hat spätestens seit den Gezi-Park-Protesten 2013 auch viele Musikerinnen und Musiker politisiert. Expliziter als Korhan Erel sind drei andere Titel: Osman Kaytazoğlus The Monopoly of Victim Status mit seinen geisterhaften Stimmen und zersplitterndem Glas, Sifirs I Want to be a Suicide Bomber und Democracy Lessons von Asaf Zeki Yüksel, der darin Reden von Recep Tayyip Erdoğan sampelt.
Doch das Subversive steckt noch viel mehr in dem, was nicht zu hören ist. Keines der Stücke enthält folkloristische Elemente, die für kulturelle Eigenheiten stehen könnten. Das hat enormes utopisches Potenzial. Weil Musik, die auf nichts Eindeutiges verweist, Platz zum Denken lässt. Und weil in der Abstraktion die Universalien hervortreten, von der die Anthologie erzählt: Spannung und Auflösung, die Dialektik des Daseins, die Unentrinnbarkeit der Wirklichkeit und nicht zuletzt: Freiheit. Experimentelle Musik ermöglicht Räume, um sich von Identitäten zu befreien. Es bleibt zu hoffen, dass es solche Räume in der Türkei in Zukunft noch geben wird.
Info
Anthology of Turkish Experimental Music 1961 – 2014 Various Artists Sub Rosa/Alive 2016
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