Schrumpfen lernen

Wirtschaft Corona hat gezeigt, dass es ohne Wachstum geht. Wir müssen diese Erfahrung für die ökologische Wende nutzen
Ausgabe 26/2021

Fast scheint es, als hätte sich über die vergangenen 500 Tage eine endlose Sehnsucht nach Konsum aufgebäumt. Damit ist nun Schluss: Endlich wieder in Einkaufsmeilen bummeln, in Biergärten rauschsaufen, und – denn darin sind die Deutschen bekanntermaßen Weltmeister:innen – reisen. Nun gilt es auszugeben, was sich die letzten anderthalb Jahre aufgestaut hat. Endlich wieder Komakonsum! Schnell die Reisefreundin angerufen und gefragt: Ad-hoc Flieger nach Palma de Mallorca?

Nein, das mag sie nicht mehr, das müsse nun wirklich nicht sein. Vor allem nicht für ein verlängertes Wochenende. Ob ich denn gar nichts gelernt hätte in den letzten anderthalb Jahren?

Ich fühle mich ertappt: Habe ich mich nicht schon vor Corona für mein exzessives Meilenkonto geschämt? Und schon während der Krise ständig vom entschleunigten, introspektiven Lebensstil geschwärmt? Die Öffnungskonsumorgienfalle hat trotzdem zugeschnappt. Endlich wieder so leben wie vorher. Endlich wieder konsumieren wie vorher. Endlich wieder reisen wie vorher. Aber ist es wirklich wünschenswert, genau so weiterzumachen, wie wir aufgehört haben? Natürlich nicht.

Zum Beispiel Costa Rica

Corona hat unwiderruflich gezeigt, dass ein Leben mit weniger von allem möglich ist, ohne dass unserer „Zivilisation“ der sofortige Kollaps droht: Die schwere Maschinerie im tausend Quadratmeter großen Fitnessstudio ließ sich durch ein paar elastische Gummibänder an der heimischen Türklinke ersetzen. Die Autos blieben auf dem Parkplatz und die Flugzeuge am Boden. Radikale Erfahrungen in einer Welt, in der sich Fortschritt vor allem am Wirtschaftswachstum misst. Am Ende hat das Bruttosozialprodukt immer irgendwie das letzte Wort über Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Wachstumszwang oder Wachstumsfetisch wird das genannt.

Und nun lernen wir: Eine Wirtschaft, die nicht wächst, kann sich trotzdem stets verändern und dabei sogar noch verbessern. Sie kann ökologischer werden zum Beispiel. So sanken die CO2-Emissionen im letzten Jahr um fast sechs Prozent – so viel wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Obendrein kann eine schrumpfende Wirtschaft ihre Akteure noch glücklicher machen. Zum Beispiel, weil Menschen weniger arbeiten und dafür mehr Zeit mit der Familie verbringen.

Die Idee einer fundamentalen „Wachstumskritik“ ist natürlich viel älter als die Pandemie: Bereits 1974 erkannte der Ökonom Richard Easterlin, dass ab einer bestimmten Schwelle mehr materieller Wohlstand nicht mehr automatisch mehr individuell empfundene Zufriedenheit bedeutet. Oft wird hier als Beispiel Costa Rica genannt, in dem die Menschen nur ein Viertel der Kaufkraft vorweisen können als in Singapur, aber trotzdem genauso glücklich sind. Die Wirtschaft des kleinen zentralamerikanischen Landes gilt heute als eine der ökologischsten in der Welt. Das Land hat früh in Aufforstung investiert und dafür massiv Steuergelder eingesetzt. Auch Gemeinschaft und Familie nehmen einen besonders hohen Stellenwert ein und tragen so wesentlich zur Spitzenposition im sogenannten Happiness-Index bei.

Noch viel älter als die Wachstumskritik ist die Konsumkritik. Als zur Industrialisierung die ersten Maschinenparks zu einer Produktivitätsexplosion und zu den Anfängen modernen Massenkonsums führten, da sprach der norwegische Ökonom Thorstein Veblen im Jahr 1899 schon von „Geltungskonsum“.

Als die Konsumkritik fast einhundert Jahre später in den westlichen Industrieländern durch die 68er eine Massenbasis bekam, beschrieb der Brite Fred Hirsch diese Dynamik als „Positionswettbewerb“: Der Mensch strebe vor allem deshalb fortwährend nach mehr Einkommen, um im Konkurrenzkampf mit anderen nicht abzuschmieren: Die Rolex-Uhr – oder wenn Konsum und Identität in einem Wort verschmelzen. Sowieso hätten viele Konsumgüter nur symbolische Funktion. Allerdings mit einem fatalen Umkehrschluss: Wer seine Liebe nicht in Form von Rosen, Ringen oder Reisen ausdrücke, dessen Liebe existiert nicht oder ist zumindest weniger wert. Dies führe zu einem Teufelskreislauf aus Beschleunigung, Konsum und Entfremdung.

Der führende deutsche Postwachstumsökonom Niko Paech behauptet in unseren Tagen gar, das Streben nach Wachstum erschöpfe auch dann die Ressourcen unseres Planeten unwiederbringlich, wenn dieses Wachstum „dekarbonisiert“, „nachhaltig“ oder „grün“ erreicht wird. Während der langjährige Umweltpolitiker Klaus Töpfer davon spricht, dass per konsequenter Kreislaufwirtschaft der Umweltschutz „entkoppelt“ von Wirtschaftswachstum möglich ist, fordert Paech, sich prinzipiell vom Wachstumskreislauf zu verabschieden. Dies setze zunächst ein grundlegendes Umdenken voraus: Genügsamkeit. Der Mensch werde sich insgesamt weniger leisten können, dies dürfe aber nicht als Verzicht, sondern müsse als Befreiung von Reizüberflutung empfunden werden.

„Billiges Geld“ der Zentralbanken sieht Paech als Ursache für Überschuldung und Ungleichheit und will stattdessen Wohlstand besser verteilen, zum Beispiel durch Vermögensabgaben und regionale Währungen. Erwerbsarbeit könnte auf 20 Stunden pro Woche reduziert und dafür ausgewogener verteilt werden.

Unentgeltliche Arbeit im Haushalt und in der Gemeinschaft seien aufzuwerten. Konsumgüter sollten mehr geteilt und selbst repariert werden – Stichwort Share Economy. Die Wirtschaft solle insgesamt regionaler und unabhängiger funktionieren. Produkte gelte es zu vermeiden, die große ökologische Schäden oder soziale Verwerfungen verursachen oder purer Luxus sind. Zum Beispiel Mangos, Futterimporte für die Fleischindustrie und natürlich auch Urlaubsflüge.

Wenn diese Ideen als zu radikal erscheinen, dann beweist dies nur, wie sich alles Denken und Handeln bereits dem Wachstums- und Konsumdiktat unterworfen hat. Paech hat seine Ideen seit den dramatischen Erfahrungen der Finanzkrise entwickelt und in seinem 2012-er Werk Befreiung vom Überfluss umfassend festgehalten. Aber bereits 1957 hegte der sogenannte Erfinder der sozialen Marktwirtschaft ganz ähnliche Postwachstumsfantasien. Ludwig Erhard schreibt in seinem Klassiker Wohlstand für alle: „Wir werden sogar mit Sicherheit dahin gelangen, dass zu Recht die Frage gestellt wird, ob es noch immer nützlich und richtig ist, mehr Güter, mehr materiellen Wohlstand zu erzeugen, oder ob es nicht sinnvoll ist, unter Verzichtleistung auf diesen ‚Fortschritt‘ mehr Freizeit, mehr Besinnung, mehr Muße und mehr Erholung zu gewinnen.“

Mehr Konsum, mehr Glück?

Es mag überraschen, mit welcher „Sicherheit“ und Überzeugung Erhard glaubte, dass Verzicht massentauglich werden würde. Zumal damals noch nicht in Ansätzen absehbar war, dass Venedig, Miami, die Malediven sowie 80 bis 90 Prozent der Strände vom steigenden Meeresspiegel weggespült werden könnten. (Das Klima hatte sich nach dem Zweiten Weltkrieg durch die großflächige Zerstörung von Wohlstand und Wirtschaft erst mal lange Zeit eher abgekühlt.)

Stattdessen scheint Erhards Prophezeiung trotz der immanenten Klimakrise heute revolutionärer denn je. Ein trauriges Beispiel dafür ist die schwelende Diskussion um ein Verbot von Kurzstreckenflügen: Immer noch, so scheint es, wird eine weitere Pro-Kopf-Akkumulation von Flugmeilen als nützlicher für die Gesellschaft angesehen als eine erzwungene Reduktion solcher. Wie sonst ließe sich erklären, dass die Grünen für ihr „Outing“ als Verbotspartei gebrandmarkt werden? Wie makaber wäre es wohl Ludwig Erhard aufgestoßen, dass gerade eine Organisation mit dem Namen Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft die Schmutz- und Verbotskampagne ins Rollen brachte?

Haben wir nicht gerade erst in der Krise gelernt, dass es sich auch sehr gut ohne Flüge leben lässt? Mit dem Lahmlegen von Einzelhandel und Urlaubsreisen hat Corona etwas gezeitigt, was vormals undenkbar war: Dass ein Schrumpfen der Wirtschaft politisch erzwungen werden kann, um ein höheres kollektives Gut zu erreichen: hier die Gesundheit. Konsum und Wachstum wurden abgewürgt, um Menschenleben (und in letzter Instanz den sozialen Frieden) zu retten. Eigentlich könnte dieses Motiv auch auf ökologische Fragen genau so angewendet werden. Das Problem: Der Verlust von Menschenleben findet (noch) nicht vor der eigenen Haustür statt. Deshalb wird es wohl so weitergehen, dass die Grünen zwar einerseits zum Zwecke des Umweltschutzes ein Flugverbot fordern, andererseits aber die Gesellschaftsgruppe darstellen, die am meisten fliegt. Zu ähnlich widersprüchlichen Ergebnissen kommt eine Studie, der zufolge die Hälfte der Deutschen sich zwar theoretisch vorstellen kann, auf einen Flug zugunsten der Umwelt zu verzichten, aber nur ein Bruchteil davon tatsächlich schon einmal von Flugzeug auf Bahn umgesattelt sind. Anders sieht es dagegen bei den populär werdenden Fleischersatz- und Biolebensmitteln aus. Im Gegensatz zum Umstieg auf die Schiene bedurfte dieser Trend keines Dekrets. Vielleicht weil der eigene Vorteil im Vordergrund steht: per Tofu den Cholesterinspiegel senken und mit regionalen Bioeiern den Fischmehlgeschmack von Legehenneneiern vermeiden.

Umweltschutz bringt stattdessen vor allem kollektive Vorteile. Hier profitiert der Einzelne, wenn alle anderen verzichten. Ökonomen nennen das ein Free-Rider-Problem: Der Trittbrettfahrer profitiert davon, wenn alle anderen sich an die Regeln halten, nur er selbst nicht. Ein Steuerflüchtling kann nur solange über Brücken und Gehwege laufen, solange andere mit ihren Abgaben deren Bau und Instandhaltung ermöglichen. Die USA profitieren davon, wenn alle anderen sich an das Klimaschutzabkommen halten, nur sie selbst nicht. Damit alle gemeinsam verzichten, um einen kollektiven Vorteil zu erzielen, muss der Verzicht kollektiv gewollt sein und Trittbrettfahrer bestraft werden.

Corona – das war ein radikales Postwachstums-Experiment. Nun schaut es zwar so aus, als würde erstmal alles genau so weitergehen wie vor der Pandemie. Aber die Fragen sind gestellt: Ist mehr Konsum immer mehr Glück? Bin ich bereit, auch freiwillig Verzicht und Genügsamkeit zu praktizieren? Und wenn die Antwort bald mal Ja lautet, dann dauert das mit der Postwachstumsgesellschaft vielleicht nicht noch einmal hundert Jahre. Denn kommen wird sie bestimmt. Das wusste schon Ludwig Erhard.

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