Offener Brief an die Bundesumweltministerin

Klimawandel Ein Talkshowauftritt von Svenja Schulze dokumentiert den Kleinmut politischer Entscheidungsträger, wirksame Maßnahmen für den Schutz der Biosphäre zu treffen

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Svenja Schulze
Svenja Schulze

Foto: Sean Gallup/Getty Images

Da Robert Habeck zurzeit vielleicht der einzige Hoffnungsträger in der deutschen Politik ist und die Redaktion von Maybrit Illner nach Jahren der Flüchtlingsdebatte endlich einmal zumindest indirekt – der Wachstumszwang unseres Wirtschaftssystems stand natürlich nicht zur Diskussion – das dringendste Problem der Zeit zum Thema machte, habe ich mir die Sendung angeschaut und war vom Auftritt der mir bis dato unbekannten Bundesumweltministerin Svenja Schulze (SPD) so erschrocken, dass ich ihr folgenden Brief geschrieben habe.

Sehr geehrte Frau Schulze,

ich habe Ihren Auftritt bei Maybrit Illner gesehen und war so schockiert, dass ich Ihnen nun diesen offenen Brief schreibe, auch wenn ich weiß, dass Sie ihn wahrscheinlich nicht selbst lesen werden, sondern dies, wenn es noch keine KI tut, einer Ihrer Mitarbeiter tun wird und dieser ihn entweder unbeantwortet lassen oder routiniert zu einem Verteidigungsgefecht ansetzen wird, warum dies und das nicht – oder nur mit internationalen Vereinbarungen – möglich sei, was Sie schon alles auf den Weg gebracht hätten und dass man sich zwar noch „mehr anstrengen müsse“, aber „schon ganz viel erreicht worden sei“ etc.

Kurz: Genau wie Herr Habeck Ihnen völlig zu Recht entgegenhielt: Sie haben – und damit meine ich Ihre Partei als Teil der Regierung von acht und nun weiteren vier Jahren Merkel – in den letzten zehn Jahren NICHTS Substanzielles auf den Weg gebracht, das die Zerstörung der Biosphäre eindämmen würde. Die Liste der Versäumnisse und Dinge, die schon längst hätten getan werden müssen, ist so lang und hängt mir selbst schon so zum Hals raus, dass ich sie hier nicht erneut runterbeten will, sondern nur zwei Punkte aus der Diskussion bei Frau Illner aufgreife, die regulatorisch vergleichsweise einfach zu lösen wären: Warum ist Mikroplastik (in Zahnpasta, Duschgels etc.) nicht schon längst verboten? Und warum wird der nicht nur ökologisch desaströse, sondern auch ethisch verwerfliche IRRSINN der Massentierhaltung nicht endlich beendet? Die (auch von Herrn Habeck vertretene) Formel hierfür ist ganz einfach: Deutsche/europäische Landwirte dürften nur noch die Menge an Tieren halten, die mit Futter aus deutschem/europäischem Anbau ernährt werden können. PUNKT. (Über Importzölle auf ausländisches Fleisch müsste man dann wohl auch reden.)

Und last but not least zum ewig wiederkehrenden Argument mit den Arbeitsplätzen (in der Kohleindustrie). Wollen Sie den Millionen Kindern, die heute in Deutschland aufwachsen, in 30, 50 oder 100 Jahren ernsthaft erklären, dass Sie Ihnen keinen bewohnbaren Planeten zurückgelassen haben, weil Ihnen der Erhalt von ein paar 10 000 Arbeitsplätzen wichtiger war? Wollen Sie uns wirklich weismachen, dass sich in einem der reichsten Länder der Erde keine „sozialverträgliche“ Lösung für die Menschen finden ließe, die ihren Arbeitsplatz in der Kohleindustrie verlieren würden? Würden nicht diese selbst den Verlust ihres Arbeitsplatzes der Vernichtung von Lebenschancen für ihre Kinder vorziehen?

Und könnte man nicht ZUSAMMEN mit den Menschen in den Kohlerevieren eine neue Zukunft planen und umsetzen? Könnte man sie nicht zu GESTALTERN statt zu Opfern eines Strukturwandels machen? Gibt es im Bereich erneuerbarer Energien und anderer ressourcenschonender Technologien nicht genug Möglichkeiten, neue Arbeitsplätze und Formen des Zusammenlebens und Wirtschaftens zu schaffen? Befinden wir uns durch die Digitalisierung nicht ohnehin in einem radikalen Strukturwandel, der alle Gesellschafts- und Arbeitsbereiche betrifft? Müssen wir deshalb Wirtschaft und Soziales nicht ohnehin völlig neu denken? Und können wir die Digitalisierung hierbei nicht auch als Befreiungspotenzial statt nur als Bedrohung begreifen? Und zwar nicht im Sinne eines quantitativen Wachstums von Produkten und Dienstleistungen, sondern im Sinne eines qualitativen Wachstums von Weltbeziehungen? Wäre es dann nicht geradezu ein Privileg, zu den Ersten zu gehören, die etwas Neues ausprobieren? Sind die Menschen in diesem Land nicht längst schon viel weiter, als Ihr rückwärtsgewandter Besitzstandswahrungsdiskurs suggeriert? Wäre es nicht klüger JETZT zu handeln und den ohnehin stattfindenden Wandel aktiv zu gestalten, anstatt in zehn oder zwanzig Jahren von den Umwälzungen erfasst zu werden, so dass nur noch passives Reagieren möglich ist und schlimmstenfalls die Gesellschaft in Chaos versinkt? Trauen Sie diesem Land und seinen Menschen so wenig zu? Ist dieses Land nicht voller fähiger Menschen, die nur darauf warten, an einem wirklich zukunftsfähigen Deutschland zu arbeiten – jenseits destruktiver Industrien und eines entgrenzten Wachstums- und Wettbewerbskults?

Mir ist klar, dass Ihr Ministerium im Vergleich zu anderen Ministerien und im Spiel der Interessenverbände und Lobbygruppen keinen einfachen Stand hat. Doch die Zeit, etwas zu tun, Frau Schulze, ist JETZT. Und als Bundesumweltministerin erwarte ich von Ihnen zumindest ein entschiedeneres öffentliches Eintreten für die Interessen zukünftiger Generationen und nicht so einen verzagten Auftritt wie bei Frau Illner, der jeden, der noch ein wenig Verstand, Integrität und Willen dafür übrig hat, unseren Planeten bewohnbar halten zu wollen, dazu bringt, die Hoffnung auf eine andere Politik aufzugeben. Den Rückhalt für ein mutigeres Auftreten hätten Sie wohl nicht beim BDI oder der BILD-Zeitung, doch dafür sicher bei weiten Teilen der Bevölkerung, die sich schon allzu lange nach einer enkeltauglichen Politik sehnen. Haben Sie Mut! Die Kinder dieses Landes werden es Ihnen danken!

Mit besten Grüßen,

Philipp von Becker

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden