Am brenzligsten Ort Berlins dreht Canan Bayram auf. Die 51-Jährige sitzt an einem Tisch in der „Bäckerei 2000“, einem Kieztreff in Friedrichshain, jenem Stadtteil, in dem sie seit vielen Jahren lebt. Gegenüber ragt eine Immobilie empor, die so umkämpft ist wie anderswo Wallfahrtsorte von Weltreligionen: die Rigaer Straße 94, in der sich Autonome seit Jahren gegen die Räumung ihrer Unterkünfte wehren, die einer Briefkastenfirma aus London gehören. Hin und wieder werden Autos angezündet.
An diesem Brennpunkt, der den Kotau um die Machtverhältnisse in der Stadt symbolisiert, wird Canan Bayram zur Häuserkämpferin. „Wir Grünen wollen weiterhin Revolution machen“, sagt sie, die bisher im Berliner Abgeordnetenhaus sitzt und nun im Wahlkreis Friedrichshain/Kreuzberg/Prenzlauer Berg Ost für den Bundestag kandidiert.
Heruntergebrochen auf das zentrale Wahlkampfthema, nämlich die Mobilmachung gegen Gentrifizierung und steigende Mieten, bedeutet das: ein Schwert schmieden, das ihre Parteikollegen in Angst und Schrecken versetzt, ob auf Bundes- oder Landesebene. „Der Staat muss enteignen dürfen, um gegen Spekulation vorzugehen“, fordert sie, wenn es um die Verschleierung von Eigentumsverhältnissen gehe. Hinter dem Firmenkonstrukt an der Rigaer Straße 94 vermutet sie „ukrainische Spielhallenmafiosi“. Enteignungen würden zudem gegen „internationale Immobilienfonds, die nur an Rendite interessiert sind“ helfen.
Agitprop und Bambule
Bayram hat den Wahlkreis deshalb auch mit Plakaten zukleistern lassen, deren Agitprop an Songs von Ton, Steine, Scherben erinnert: „Die Häuser denen, die drin wohnen“. Mit der Bambule brüskiert sie die eigene Partei – auf eine Weise, die unter der Vaterfigur Hans-Christian Ströbele, der in Kreuzberg-Friedrichshain vier Mal in Folge ein Direktmandat geholt hat, undenkbar gewesen wäre. Die Parteikollegen zetern, es entstehe der Eindruck, man wolle Vermieter generell enteignen. Darüber hinaus gäbe es ja Mittel gegen das Investoren-Monopoly. Mietpreisbremse und Milieuschutzgebiete etwa, die der Staat rigoroser als bisher durchfechtet, vor allem aber mehr sozialer Wohnungsbau.
Sie sei eine „linkspopulistische Sprücheklopferin“, schimpft ein Parteikollege. Gerd Poppe, Ex-DDR-Minister und Mitinitiator der Fusion von Bündnis 90 und den Grünen nach der Wende, nennt Bayram in einem Brief an Freunde „eine Zumutung“ – und fordert, Bayram bei der Wahl zu boykottieren. Und der frühere Landesfraktionschef und Realo Volker Ratzmann findet in einem parteiinternen Diskussionsforum, sie sei „unwählbar“. Wer ist diese Politikerin, die ihre Parteikollegen so in Wallung bringt?
Gesinnungsethik und Parteiräson
Bayram kandidiert in einem Bezirk, der über Jahre hinweg Ströbeles uneinnehmbare Festung war. Es ist längst Parteigeschichte, wie der große Häuptling 2002 mit dem Spruch „Ströbele wählen heißt Fischer quälen“ die meisten Erststimmen einfuhr. Zuvor hatte er sich im Bundestag gegen die rot-grüne Koalition gestellt, als er den Bundeswehr-Einsatz in Afghanistan ablehnte, gemeinsam mit drei anderen Abgeordneten seiner Partei. Trotz seines Talents zum Widerspruch wusste Ströbele allerdings immer, wo die feinen Grenzen zwischen linker Gesinnungsethik und Parteiräson verliefen. Was ihn zu einem Brückenbauer zwischen alternativer Basis und Realo-Flügel gemacht hat.
Das Ströbele-Erbe ist eine schwere Hypothek für Bayram – selbst wenn der Bezirk ein Soziotop urgrüner Lebensentwürfe ist, von LPG-Markt bis Urban-Gardening-Kolonie. Denn wie schafft es eine Lokalpolitikerin aus diesem übermächtigen Schatten hervorzutreten, die jenseits des Bezirksgrenzen ein unbeschriebenes Blatt ist? Bislang ist sie vor allem in den Kiezen vor ihrer Haustür in Erscheinung getreten, beispielsweise als aufopferungsvolle Helferin für Geflüchtete. Die praktizierende Anwältin kümmerte sich um die Asylsuchende, die auf dem Oranienplatz und in der Gerhart-Hauptmann-Schule campierten – auch mit juristischer Expertise.
Als Canan Bayram im März die Thronfolge antrat, auf einem Parteitreffen im Beisein Ströbeles, galt sie als zweite Wahl. Eigentlich war Dirk Behrendt der Kronprinz, ebenfalls ein Parteilinker, darüber hinaus Experte für Rechts- und Innenpolitik – doch der amtierte mittlerweile als Justizsenator in der neuen rot-rot-grünen Senatsregierung. Nun also Bayram, die sich zur Kandidatur entschloss, nachdem ihre zwölfjährige Tochter gesagt hatte: „Ich finde das gut.“
Sie ist nicht abgesichert
Seitdem radelt Canan Bayram durch den Kiez, bläst Ballons auf und verteilt Flyer mit jener Wimmelbild-Ästhetik, für die früher die Ströbele-Plakate berühmt waren. Sie sei ein „Ströbele-Klon“, frotzelt deshalb Cansel Kiziltepe, SPD-Bundestagsabgeordnete für Kreuzberg-Friedrichshain und Konkurrentin im Kampf um das Direktmandat. Bayram muss die Nummer eins werden – anders als etwa Kiziltepe bei der SPD ist sie nicht über die Landesliste abgesichert.
Der Plagiats-Verdacht ist nur die halbe Wahrheit. Ihre Häuserkampf-Kampagne zeigt, dass Bayram längst auf eigenem Ticket unterwegs ist. „Die Leute im Bezirk erwarten von mir, dass ich die Grünen rette“, findet sie. Ihr Plan scheint so auszusehen: die Bundesgrünen mit fundamentallinker Programmatik zu erneuern.
Auf dem Bundesparteitag im Juni forderte sie die Delegierten auf, ein Programm zu machen, „in das ihr euren ganzen Mut reinlegt, damit wir so ein scharfes Profil haben, dass alle anderen sich vor uns fürchten müssen“. Eine Drohung, die die Strategie der Parteispitze in Frage stellte, die Grünen als vertrauenswürdige Zukunftspartei zu inszenieren, die Deutschland in eine Musterrepublik gegen Klimawandel und soziale Kälte verwandelt.
„Einfach mal die Fresse halten“
In derselben Rede ätzte sie gegenüber Boris Palmer, er solle „einfach mal die Fresse halten“. Tübingens grüner OB hatte soeben sein Buch „Wir können nicht allen helfen“ veröffentlicht, eine Tirade gegen die Willkommenskultur. In der Sache dürfte das Plenum die Kritik Bayrams geteilt haben – der Ton entsprach jedoch mehr einer Kneipenrunde, die gerade einen Absacker im legendären Szene-Lokal SO36 genommen hat.
Die Abnabelung passt zu ihrer Biografie. Schon einmal kehrte sie Weggefährten den Rücken. 2009 verließ Bayram die SPD, jene Partei, die vorher lange Zeit ihr Refugium war. In den späten 90ern war sie der nervösen Volkspartei beigetreten. Die gebürtige Rheinländerin heuerte als Juristin im SPD-geführten Umweltministerium an – eine Station ihrer Zeit in Bonn, bevor sie 2003 nach Berlin zog.
Der Auslöser für den Austritt 2009 war ein Streit um die Besetzung eines vakanten Vorstandspostens bei den landeseigenen Berliner Verkehrsbetrieben (BVG). Bayram war damals frauenpolitische Sprecherin der rot-roten Senatsregierung. Eine Frau sollte das Spitzenamt bei der BVG bekleiden, um dem Ideal der Gleichberechtigung zumindest ein bisschen näher zu kommen. Wowereit sträubte sich. Ein anderer Grund für die Entfremdung war die Verschärfung des Asylrechts, die von der Senatsregierung mitgetragen worden war. In ihrer Austrittserklärung prangerte sie die Auswirkungen der angezogenen Daumenschrauben an, nämlich dass „Familien verelenden, Eltern von ihren Kindern getrennt werden und bestimmte Nationalitäten unter den Generalverdacht der Schein- beziehungsweise Zwangsehe gestellt werden“.
Die Grünen, die sie anschließend adoptierten, empfingen die Abtrünnige fast schon euphorisch. „Eine urgrüne Persönlichkeit“ sei sie, jubelte die damalige Fraktionsvorsitzende Franziska Eichstädt-Bohlig. Ihr Profil war ja auch mustergültig: eine Frau, die links und unkorrumpierbar ist, und mit ihren türkischen Wurzeln die bunte DNA der Partei bereichert. Für Wowereits rot-rote Regierung, die nur mit einer Zwei-Personen-Mehrheit regierte, grenzte der Fraktionswechsel dagegen an eine Katastrophe. Er brachte die Koalition fast zum Einsturz.
In der Sponti-Kneipe
Canan Bayram, die Zerstörerin. Dabei wirkt sie im Zwiegespräch, jenseits der Rednerpulte und Kameras, bedächtig, fast leise. Sie sagt, sie sei „von einem inneren Kompass geleitet“. In ihrem Selbstbild bedeutet das: Wenn ich Streit suche, bin ich noch lange keine Diva – ich bin bloß meinen Werten treu. Eine Haltung, die sie in ihren Coming-of-Age-Jahren entwickelt hat. In Bonn, wo sie Jura studierte, war sie Stammgast in der Kneipe „Südbahnhof“, in der Spontis ein- und ausgingen. Und sie engagierte sich in linken Studentengruppen.
So widerborstig ihr Politikstil ist, so brav ist ihre familiäre Herkunft. Canan Bayram ist in Nettetal aufgewachsen, einer niederrheinischen Kleinstadt mit 40.000 Einwohnern. Die Eltern, kurdisch-türkisch, kamen nach Deutschland, als sie sechs Jahre alt. Der Vater, ein Lehrer, hat türkische und kurdische Kinder unterrichtet, in den umstrittenen "Gastarbeiter"-Klassen. Die Mutter arbeitete als Hebamme und Krankenschwester, Bayram war das zweitjüngste von fünf Kindern.
THC in Venlo
Das bürgerliche Parkett will sie ein bisschen zerkratzen, indem sie erzählt, dass sie als Teenagerin die Schule abgebrochen hat, um sich zur Großhandelskauffrau ausbilden lassen. Ihr Abitur hat sie später an der Abendschule nachgeholt. Während ihres Rechtsreferendariats hat sie ihren Blick für die Außenseiter der Gesellschaft geschult – etwa, als sie bei der Kölner Staatsanwaltschaft arbeitete und mit Dealern aus isolierten Einwanderer-Milieus zu tun hatte. Die Männer vertickten Drogen auf der Domplatte. „Dort waren es die kurdischen Jugendlichen. Jetzt sind es Jungs mit der schlechtesten Bleibeperspektive“, sagt sie. Ein Querverweis zum Görlitzer Park, dem großen Umschlagplatz in ihrem Wahlkreis. Geflüchtete aus Nigeria oder Gambia verkaufen dort Gras im Sekundentakt, eine Notwirtschaft für Menschen ohne sicheren Aufenthaltsstatus. Bayram fordert feste Bleibeperspektiven – aber auch, um illegale Märkte auszutrocknen, eine Cannabis-Legalisierung. Um ihre Credibility in Drogenfragen zu demonstrieren, erzählt sie von jugendlichen Spritztouren: Als sie noch am Niederrhein lebte, fuhr sie mit ihrem damaligen Freund über die holländische Grenze – um in Venlo ein bisschen THC zu inhalieren.
Mittlerweile ist Canan Bayram eine assimilierte Berlinerin. Ein wichtiger Integrationshelfer war ihr ehemaliger Lebensgefährte, der Vater ihrer Tochter. Ein Friedrichshainer Urgestein, das die Kieze im Osten der Stadt noch aus der DDR-Zeit kennt. Er war damals Diakon der Pfingstgemeinde am Petersburger Platz – und zugleich ein Regimegegner, der die Gemeinderäume für Punks und andere Dissidenten öffnete. Wegen seines Engagements könne man ihn gar nicht genug rühmen, sagen Zeitzeugen heute. Später wurde er für die SPD stellvertretender Bezirksbürgermeister von Friedrichshain-Kreuzberg.
Bayram ist so sehr mit den local natives verbandelt, dass „manche Leute während des Wahlkampfs Selfies mit mir machen wollen“, wie sie stolz erzählt. Ihre Nähe zur Kiez-Community erklärt auch die Allianz mit den Hausbesetzern in der Rigaer Straße 94, ein Heiligtum, das nur einen Häuserblock von ihrer Wohnung entfernt ist. Letztlich vertritt Bayram die Interessen der Einwohner – radikaler als Hans-Christian Ströbele, der im eigenen Wahlkreis ein Tourist war und in Tiergarten wohnte. Was heißt, dass sie den politischen Mainstream im Kiez-Kosmos verkörpern muss. Dazu gehört auch die Diskussion über schwere Geschütze gegen Investoren und andere Nutznießer der Gentrifizierung – bis hin zur Enteignung. Instrumente, die etwa Realo-Grüne in Kretschmanns Ländle als linksradikal abstempeln würden.
Ströbeles Empfehlung
Ziehvater Ströbele hat Bayram in einem Bürgerbrief zuletzt als eine Politikerin beschrieben, „die sich immer wieder gemeinsam mit mir im Wahlkreis um die Lösung der Probleme bemühte“. Klingt erst einmal nicht nach der ganz großen Liebe. Nach dem Schisma zwischen ihr und dem Realo-Flügel gab er sich jedoch solidarisch: „Ich finde sie gut. Sie ist im Kiez verankert und zwar sehr. Sie ist glaubwürdig. Sie ist eine linke Grüne. Was will man mehr?“
Am 24. September wird sich zeigen, ob die Querschüsse, vor allem die Boykottaufrufe, ihre Chancen im Bundestagswahlkampf geschmälert haben – in einem Wahlkreis, dessen Symbolwert fast unermesslich ist. Oder ob sie eine Trotzreaktion heraufbeschwören. Zurzeit jedenfalls ist Bayrams Vorsprung vor dem Kandidaten der Linken, Pascal Meiser, hauchdünn.
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