Feuer für die Wirtschaft

Fiskalpolitik Die Schuldenbremse muss anders interpretiert werden, wenn die nächste Bundesregierung die anstehenden Aufgaben meistern will
Ausgabe 39/2021
Feuer für die Wirtschaft

Illustration: der Freitag

Deutschland altert, muss in Windeseile CO2-neutral werden, hat trotz allem wirtschaftlichen Erfolg einen beunruhigend großen Niedriglohnsektor — und worauf konzentriert sich die Finanzpolitik? Auf die Einhaltung einer schon immer arbiträren, aber nun auch noch aus der Zeit gefallenen Schuldenquote von 60 Prozent.

Die Schuldenquote bezeichnet das Verhältnis der Staatsverschuldung zur wirtschaftlichen Leistung eines Jahres, dem Bruttoinlandsprodukt. Wären die Zinsen immer ungefähr gleich hoch, würde die Schuldenquote Rückschlüsse auf die Finanzierungskosten des Staats erlauben. Das Problem: Die Zinsen ändern sich. Die Begrenzung der zulässigen Schuldenquote auf 60 Prozent wurde Anfang der neunziger Jahre in Europa eingeführt. Damals musste der deutsche Staat über sieben Prozent Rendite auf seine Anleihen bezahlen. Heute dagegen bezahlen Investoren den deutschen Staat für das Privileg, ihm Geld leihen zu dürfen. Die Einhaltung der 60-Prozent-Schuldenquote wurde in den zweitausender Jahren sogar für so bedingungslos erstrebenswert erachtet, dass man sich eine Schuldenbremse in das Grundgesetz schrieb. Artikel 1 GG „die Würde des Menschen ist unantastbar“, Artikel 3 GG „alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“, Artikel 109 GG „die Einnahmen aus Krediten (dürfen) 0,35 vom Hundert im Verhältnis zum nominalen Bruttoinlandsprodukt nicht überschreiten“. Dabei sind Schulden heute keine Last für den deutschen Staat, sondern eine Einkommensquelle. Dazu macht Joe Biden in den USA gerade vor, wie es dank Finanzpolitik auch ohne starke Gewerkschaften Lohnwachstum geben kann: Man entzündet ein Feuer unter der Wirtschaft, schafft zusätzliche Nachfrage, indem man mehr Geld ausgibt als aus der Wirtschaft herauszieht, also ein Defizit macht. Durch die zusätzliche Nachfrage des Staats entstehen neue Jobs. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben plötzlich eine höhere Verhandlungsmacht und können höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen fordern.

„Normal“ neu definieren

Für eine verfassungsrechtliche Reform der Schuldenbremse besteht jedoch momentan kaum eine Chance. Dies bedürfte einer Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat. Sind wir also gefangen in einem Korsett, das sich so schnell nicht abschütteln lässt? Keineswegs. Denn die Schuldenbremse beinhaltet kein absolutes Verschuldungsverbot. Läuft die Wirtschaft schlechter als „normal“, darf der Staat sich bereits heute, im Rahmen der Schuldenbremse, verschulden, um die Wirtschaft zu befeuern. Läuft die Wirtschaft besser als normal, soll der Staat sparen, um Inflation zu verhindern.

Nur: Es wurde nie explizit definiert, welche wirtschaftliche Lage eigentlich „normal“ sei. Es wurde nie politisch diskutiert, ob wir drei, fünf oder zehn Prozent Arbeitslosigkeit als Normalzustand akzeptabel finden. Stattdessen wurde „das, was in der (jüngeren) Vergangenheit der Fall war“, mit „normal“ gleichgesetzt. Haben also in der Vergangenheit zum Beispiel Frauen weniger bezahlte Erwerbsarbeit aufgenommen, so würde die Wirtschaft als überhitzt gelten, wenn plötzlich mehr Frauen bezahlter Erwerbsarbeit nachgehen. Der Staat müsste dann sparen, Nachfrage aus der Wirtschaft nehmen und so dafür sorgen, dass wieder weniger Frauen (oder weniger Männer) arbeiten. Das widerspricht nicht nur der Gleichberechtigung, es ist auch kontraproduktiv angesichts einer alternden Gesellschaft, die jede Arbeitskraft brauchen kann.

Die schlechte Nachricht: Wissenschaftlich definierbar ist die Normallage der Wirtschaft nicht. Die gute Nachricht: Eine Verbesserung zum Status quo scheint durchaus möglich. Anstatt eine Wirtschaftslage als normal zu definieren, in der die Erwerbsbeteiligung der Frauen wie früher neun Prozentpunkte unter der der Männer liegt, könnten wir uns zum Beispiel Skandinavien zum Vorbild nehmen. Dort liegt die Erwerbsbeteiligung von Frauen nur drei Prozentpunkte unter der von Männern.

Passte man die Detailregelungen der Schuldenbremse, die nicht im Grundgesetz stehen, entsprechend an, könnte der Staat die Wirtschaft mit Defiziten ankurbeln, bis die Erwerbsbeteiligung von Frauen auf skandinavischem Niveau liegt. Den Staatsfinanzen wäre geholfen, denn mehr Arbeit bedeutet mehr Steuereinnahmen. Anstatt wegen sechs Milliarden Zinszahlungen Schnappatmung zu bekommen, hätten wir eine Antwort auf stetig steigende Rentenzuschüsse. Die liegen heute schon bei über 100 Milliarden Euro.

Philippa Sigl-Glöckner ist Ökonomin und Direktorin der Berliner Denkfabrik Dezernat Zukunft

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