Der vollendete Tanzpartner (4/12)

Nahtoderfahrung Eintauchen in eine Welt die vollkommen neu und unverbraucht erscheint

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Neugeboren oder fast

In meinem Krankenhauszimmer in Tainan fühlte ich mich wie frisch aus dem Ei gepellt. Dabei stellte ich mit Verwunderung fest, dass ich einem Neugeborenen tatsächlich viel ähnlicher geworden war als ich es anfangs bemerkt hatte. Wie ein Kleinkind lebte ich plötzlich ganz im Jetzt, die Zeit hatte jede Struktur und Orientierungshilfe verloren. Sobald die Nacht einbrach fühlte ich mich davon überrascht, auch das unvermittelt wiederauftauchende Sonnenlicht fand ich bemerkenswert. Wie oft sich dieses faszinierende Naturschauspiel während meinem Krankenhausaufenthalt wiederholte konnte ich jedoch gar nicht einschätzen, jedes Mal schien es mir wieder ganz neu und einmalig zu sein.

Jesse sagte mir nach Rücksprache mit dem Ärzteteam ich würde voraussichtlich in zwei Tagen aus dem Spital entlassen werden und könnte danach fürs erste zu ihnen nachhause kommen. Dafür war ich sehr dankbar, aber wie lange wäre ich dann in diesem Krankenhaus geblieben. Vier Tage? Fünf Tage? Eine ganze Woche? Und wann kann ich zu ihnen nachhause kommen? Hatten sie mir das gerade eben gesagt oder schon vorgestern?

Diese zeitliche Orientierungslosigkeit hielt eine geraume Weile an, wie lange genau kann ich mich aus verständlichen Gründen natürlich nicht entsinnen. Es war mir vorerst auch egal, denn alle wichtigen Entscheidungen wurden ohnehin ohne meine Mitsprache getroffen. Erst viel später versuchte ich die hinter mir liegende Zeit zu rekonstruieren, konnte dabei aber nur die Daten auf meinem Flugticket als Anhaltspunkt verwenden. Rund drei Wochen lagen zwischen meinem Ankunftsdatum auf dem Tschiang-Kai-Schek- Flughafen nahe Taipeh und dem Abflug nach Paris über Amsterdam.


Zwei Nächte hatte ich in Taipeh bis zur Weiterreise in den Süden verbracht, das wusste ich noch mit Sicherheit. Es war eine erste Begegnung mit einer mir ganz neuen Kultur und Lebenseinstellung. Tage des Staunens und Wunderns.
Danach Flug nach Tainan und vermutlich drei Tage während denen ich die angekündigte, angeblich traditionell chinesische Behandlung bereitwillig befolgte. Neben Saft von Papaya und Ananas sollte ich jeden Tag nur etwas grünes Gemüse und etwas Fisch zu mir nehmen. Mehrmals mysteriöse, abscheulich schmeckende Pülverchen schlucken und vor allem einen radikaler Insulin Entzug durchführen! Man hatte mir ein Zimmer im Stadtzentrum gemietet, die Tage verbrachte ich vor allem in der privaten Musikschule. Staunte nicht schlecht über die dort angewendeten Unterrichtsmethoden und widmete mich intensiv dem Erlernen der chinesischen Sprache.


Kurioser Weise verspürte ich keinerlei Motivation mich auf die bevorstehenden Musikkurse vorzubereiten, die zwei Wochen später, nach meiner vollständigen Heilung, beginnen sollten. Auf kleinen, vorsichtigen Spaziergängen erkundigte ich die nächste Umgebung. Farbenprächtige Tempelanlagen versteckt in engen Gassen, Straßenmärkte auf denen exotische Obst- und Gemüsesorten, religiöse Devotionalien und Geistergeld verhökert wurden.

Bald war aber an ein eigenständiges, unabhängiges Erforschen meiner Umgebung nicht mehr zu denken. „Nach drei Tagen beginnt die Krise!“, meinte die taiwanesische Ärztin: „Jetzt beginnt der Körper seinen Kampf gegen die Krankheit, um von selbst gesund zu werden.“ Das kam mir sehr ein­leuchtend und vertrauenserweckend vor!

Während dieser Zeit sollte ich besser immer in der Musik­schule bleiben und auch dort übernachten. Mein Gastgeber, der Leiter der Schule hatte eine Wohnung in einem Obergeschoß der Musikschule, angefüllt mit taiwanesischen Antiquitäten. Für mich stand dort ein Raum mit einem traditionellen chinesischen Bett zur Verfügung. Ich konnte Stunden damit verbringen die Bilder und filigranen Skulpturen dieses historischen Himmelbetts zu studieren, während mein Gastgeber die Nacht damit verbrachte amerikanische Freistil­ringer im Fernsehen zu verfolgen.

Vermutlich machte sich bereits am nächsten Abend um mich herum Besorgnis breit und ich wurde in die angeblich kompetente Obhut der Ärztin befördert. Mehrere kräftige Männer wurden herbeigetrommelt, um mir beim Abstieg aus der Dachwohnung zu helfen. Währenddessen übernahmen die Lehrerinnen und Sekretärinnen der Musikschule, die die Aktion beobachteten, spontan die Rolle der orientalischen Klage­weiber, weil es mir angeblich so schlecht ging. Stimmte aber gar nicht! Während ich mit tatkräftiger Unterstützung vorwärts stolperte, versuchte ich allen klar zu machen, dass es mir überhaupt nicht schlecht ging. Im Gegenteil! Jede kleinste Bewegung war zu einer intensiven, sinnlichen Erfahrung geworden. Jede Berührung schien zu einem Verschmelzen mit gerade noch unbekannten Personen zu werden. Das war doch fantastisch und faszinierend! Mir ging es doch gar nicht schlecht! Im Gegenteil ich erlebte gerade die intensivsten und wundervollsten Augenblicke meines Lebens. Mir ging es großartig, keinerlei Grund bemitleidet zu werden! Alle Versuche davon meine Mitmenschen zu überzeugen, schlugen aber sicher grandios fehl.


Wie lange war ich danach im Haus der Ärztin? Ein einziger Tag oder doch zwei Tage? Vielleicht waren es aber auch nur ein paar Stunden.
Danach drei Tage auf der Intensivstation an die ich mich gar nicht erinnern kann, obwohl ich angeblich oft ansprechbar gewesen sein soll. Auch die folgende Zeit ließ sich in Abschnitte von drei Tagen einteilen, um die verbleibende Zeit meines Aufenthalts zu rekonstruieren und passte so ungefähr zur Gesamtdauer meines Aufenthalts. Drei weiter Tage im Krankenzimmer des Spitals, drei Tage in der Wohnung von Jesse und Cher in Tainan und danach noch einmal drei Tage in Taipei bis zu meinem vorgezogenen Rückflug nach Europa.

Erst mit meiner Ankunft in Paris war mein Zeitgefühl wieder vollständig zurückgekehrt. Mit dem Eintauchen in eine vertraute Umgebung bemerkte ich, dass sich auch ein ganz anderes Phänomen, das mich seit meiner Rückkehr ins Leben begleitet hatte, spontan verabschiedet hatte.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Philipp Tenta

österreichischer Komponist und Autor. Kulturrezensionen für die Neue Westfälische. Betreut seit 2015 minderjährige Flüchtlingee

Philipp Tenta

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