Eine Superkraft zum abgewöhnen

Nahtoderfahrung (5/12) Nach dem Wiedererwachen ist Erlerntes plötzlich weg, Verdrängtes wieder da

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Superkräfte nerven!


Das Gefühl neu geboren zu sein mag beneidenswert scheinen, ist aber vor allem sehr befremdlich. In meinem Krankenzimmer im Spital fand ich mich jedenfalls total verwirrt wieder, ganz so wie sich wohl auch jeder Neugeborene in seinem ersten Lebensabschnitt fühlt. Nicht nur das fehlende Zeitempfinden verstörte mich nach meiner Rückkehr ins Leben. Eine unerwartete Flut von Sinneseindrücken stürmte plötzlich ungefiltert auf mich ein. Diese zuvor zu sortieren und zu filtern, das erkannte ich jetzt, ist eine Fähigkeit, die wir erst nach und nach langsam erwerben und die mir nach meinem Wiedereintritt ins Leben auf wunderliche Weise abhandengekommen war. Wie bei einem Neugeborenen stürmte alles ungebremst und unzensiert auf mein Bewusstsein ein und prägte sich, ungeachtet jeder praktischen Relevanz, direkt in meinen Erinnerungen ein. Alles, auch die belanglosesten Kleinigkeiten wurden von mir gesehen, gehört, ertastet und geschmeckt.

Am auffallendsten war für mich in diesen ersten Tagen festzustellen, wie viele Gerüche ich wahrnehmen konnte. Gerade diese Form der Sinneswahrnehmung war mir immer als etwas Untergeordnetes erschienen, weitgehend eingestuft unter "ferner liefen". Doch auf einmal war es mir möglich auf diesem Gebiet der Sinneswahrnehmung wahre Meisterleistungen zu vollbringen.

Ohne hinzusehen konnte ich jede Person, noch bevor sie mein Kranken­zimmer betrat, an ihrem Geruch erkennen. Meinen beiden neuen Freunden, die mich mehrmals täglich im Spital besuchten, erschien diese Sensibilität vermutlich nur wie ein exzentrischer Spleen. So bat ich sie etwa die Zimmer­türe zu schließen, weil mich die Essensgerüche im Krankenhaus irritierten. Sie schauten in den Gang. Nirgendwo war Essen zu sehen, geschweige denn zu riechen. Aber wenige Augenblicke später wurde das Krankenhausessen aus dem Aufzug gerollt, hygienisch verpackt und für normale Menschen geschmacks- und geruchsfrei wie europäische Krankenhausküche auch.

Tage nach meiner Entlassung aus dem Spital, gingen wir durch die Straßen Tainans und ich wunderte mich darüber, dass es hier offenbar auch Lokale mit Fritten und Hamburgern gab. Von einem solchen Lokal wussten die beiden Freunde aber offensichtlich nichts. "Gar nicht weit von hier!", versicherte ich ihnen. Nachdem wie zwei Straßen überquert hatten und um eine Ecke gegangen waren, standen wir tatsächlich vor einer neu eröffneten, taiwanesischen Burger Bude! Total unnütze Übersensibilität, denn eine solche Kost schien mir zu diesem Zeitpunkt weder verführerisch noch überhaupt essbar zu sein.

Einzig erstrebenswerte Nahrungsmittel schienen mir in diesen Tagen Obst, Reis, vielleicht etwas grünes Gemüse und vor allem gekochte Maiskolben zu sein. Obst gab es auf dem Wochenmarkt in überwältigender Fülle, Reis hatten die beiden ständig zuhause in ihrem traditionellen Reiskocher parat. Aber wo gab es gekochten Mais? Trotz der Fülle an Gerüchen auf einem chinesischen Markt, von gebratenen Süßkartoffeln über Stinktofu bis hin zu gegrillten Innereien, konnte ich ihnen punktgenau den Weg zum einzigen Maiskolbenkocher auf dem dicht gedrängten Markt zeigen. Hier hatte mein erstarkter Geruchssinn wenigstens einmal auch einen praktischen Nutzen.

Bis zu meinem Abflug nach Europa konnte ich durch Einkaufs­straßen gehen und mich von meiner Nase leiten lassen. Die Chinesischen Firmenschilder der Läden waren für mich rätsel­haft aber auch weitgehend überflüssig. In ein paar Metern würde ein Teegeschäft kommen, danach eine Bäckerei und etwas weiter, deutlich zu erschnuppern, eine chinesische Apotheke, vorher aber noch Läden, die vor allem nach Plastik riechen.
Eine Fähigkeit, die ich vorher nicht für möglich gehalten hätte, die ich aber keineswegs nur als Bereicherung empfand. Alles zu riechen ist schnell eine unangenehme Belastung. Wenn man neuen Menschen begegnet und damit augenblicklich mit einer Wolke einander widersprechender Düfte und Gerüche ausgesetzt wird, wenn man in ein Restaurant geht und sofort weiß wo sich die Toiletten befinden. Unzensierte Reizüber­flutungen sind eindeutig ein zweifelhaftes Vergnügen. Riechen ist genauso wie Sehen, Hören, Schmecken und Tasten eine Fähigkeit, die wir nach und nach erlernen. Dabei erwerben wir hauptsächlich die Fähigkeit irrelevante Wahrnehmungen automatisch wegzublenden. Wir lernen weg zu hören, weg zu sehen, weg zu riechen. Müssten wir jedes Geräusch, alles Sichtbare, jeden Geruch und jeden jedes taktile Signal bewusst wahrnehmen und alles miteinander in Relation setzen, wir wären ohne irgendetwas zu tun dauernd total erschöpft und überfordert. Ich fühlte mich in dieser Zeit jedenfalls tatsächlich meist erschöpft und überfordert.

Die letzten Tage vor meiner Rückreise nach Europa verbrachte ich mit meinen neuen taiwanesischen Freunden in Taipei. Die Abende wurden mit gemeinsamem Musizieren verbracht. Barocke Triosonaten für Altblockflöte, Traverso und Cembalo und mehrstimmige Canzonen und Tänze der Renaissance wurden, wie in ihrer Entstehungszeit als lockerer Zeitvertreib spielerisch inter­pretiert. Die Hitze des Tages ging in den Abendstunden langsam zurück. Auch ich empfand, wie meine Mitspieler den Rückgang der Temperatur zuerst als angenehme Erfrischung. Während wir bis spät in die Nacht entspannt weiter­spielten, spürte ich wie sich kurz vor Mitternacht eine Smog­wolke, die tagsüber hoch über der Stadt gelegen haben musste, sich langsam absenkte und die Atemluft vergiftete. Ein Weiter­spielen schien mir undenkbar, während die Mitspieler meine Empfindung überhaupt nicht nachvollziehen konnten. Für sie war alles unverändert. War ich völlig überdreht und am Rande der Hysterie oder waren sie durch Gewohnheit total abge­stumpft und nahmen die Umweltbelastung gar nicht mehr wahr? Die Luftverschmutzung in Taipei war zu dieser Zeit tatsächlich noch extrem und überstieg regelmäßig die international als gesundheitsgefährdend eingestuften Werte. Das hielt mich aber nicht davon ab einige Monate später meinen Lebensmittelpunkt genau dorthin zu verlegen.

Bis zu meinem Rückflug verfügte ich über diese unerwartete, nasale Superkraft. Sobald ich aber in Paris auf dem Flughafen ankam und mir alles olefaktisch vertraut vorkam, war dieses Phänomen mit einem Schlag beendet. Mit Erleichterung verabschiedete ich mich von dieser erstaunlichen Superkraft, obwohl ich damit auf Partys mit verblüffenden Fertigkeiten hätte glänzen können. Schwamm drüber! Ich bin bis heute ohnehin noch nie ein Partytyp gewesen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Philipp Tenta

österreichischer Komponist und Autor. Kulturrezensionen für die Neue Westfälische. Betreut seit 2015 minderjährige Flüchtlingee

Philipp Tenta

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