Naiv oder einfach nur dumm? (6/12)

Nahtoderfahrung Was hat mich verleitet auf ein solches Angebot überhaupt zu reagieren? Leichtsinn? Naivität? Oder ganz einfach nur Dummheit?

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Tücken des rationalen Denkens

Denke ich heute an meine erste Taiwanreise zurück, die mit dem Versprechen einer Heilung von Diabetes begonnen hatte, scheint diese Unternehmung jedem kühlen Sachverstand und jeder klaren Logik widersprochen zu haben. Auch damals schon war es beinahe Allgemeinwissen, dass vom eigenen Immunsystem zerstörte Insulinzellen nicht wiederbelebt werden können, ganz einfach weil sie nicht mehr da sind.

Mich selbst wundert die Bereitschaft mich auf eine solche Unternehmung einzulassen jedoch am meisten. Seit meinem elften Lebensjahr war ich gezwungen auf meine Lebens­erhaltung in sehr rationaler Weise zu sehen. In Ermangelung von effektiven Kontrollgeräten war es vor fünfzig Jahren überlebenswichtig Gemütsschwankungen nicht einfach als emotionale Realität, sondern vor allem als Zeichen einer möglichen Blutzuckerentgleisung zu bewerten. Meine Mitmenschen nerven mich? Vermutlich ist das gar nicht ihre Schuld, sondern die Folge von Schwankungen meiner Blutzucker­werte. Ich fühle mich erschöpft und müde oder im Gegenteil übertrieben euphorisch, immer war es nötig mit Distanz darauf zu reagieren und zuerst eine vielleicht banale, gleichzeitig aber auch bedrohliche Über- oder Unterzuckerung als Auslöser meiner Befindlichkeiten in Betracht zu ziehen.

Durst war seit meiner Kindheit kein normales Bedürfnis mehr, sondern Symptom einer eingetretenen Überzuckerung. Gegessen wurde nicht, weil ich Lust hatte etwas zu verdrücken, sondern weil ich mir am frühen Morgen eine Insulinspritze verpasst habe und nach ärztlicher Anleitung zu festen Zeitpunkten die Aufnahme von Kohlehydraten angesagt war. Heute erscheint eine solcher Umgang mit der Zuckerkrankheit höchst verwunderlich, aber das ist eine ganz andere Geschichte.

Vermutlich war mir gerade wegen dieser notgedrungen sehr rationalen Sichtweise auf mein Leben der total ab­surde Vorschlag einer wundersamen Heilung wie ein Befreiungs­schlag vorgekommen. Nicht so sehr die Heilung von einer Krankheit, sondern vielmehr die Befreiung von einer mich fortwährend begleitenden, mich im Würgegriff haltenden Vernunft, schien mich überzeugt und verführt zu haben. Vergleichbares erleben vermutlich Leute, die bei anhaltenden Niedrigzinsen bereitwillig ihr gesamtes Geld einer Organ­isation in den Rachen schmeißen, die ihnen eine Verdoppelung ihrer Einlagen in sechs Monaten verspricht. Eigentlich weiß man, dass die Versprechungen totaler Humbug sind, aber gerade deshalb lässt man sich von ihnen verführen.

So habe ich mich vorbehaltlos auf ein irrsinniges Abenteuer eingelassen: Heilung von Typ I Diabetes mit traditioneller chinesischer Medizin, angeblich eine Selbstverständlichkeit in Taiwan. Diabetes wäre dort als Volkskrankheit völlig unbe­kannt. Wirklich nur unverantwortlicher Leichtsinn? Sogar mein behandelnder Arzt am Universitätsklinikum in Rennes fand diesen Gedanken überaus spannend. Zu dieser Zeit erlebte man ganz besonders in Frankreich eine ungeheure Faszination für alles Chinesische. Deng Yiao-Ping begann gerade China für den Westen zu öffnen und plötzlich war damit auch chinesische Kultur erreichbar und faszinierend. Chinesische Medizin gehörte mit zu den Dingen, für die man sich in dieser Zeit begeisterte. In den Krankenhäusern wurde ernsthaft in Erwägung gezogen, Operationen in naher Zukunft nur noch mit Akkupunktur, statt mit Narkose durchzuführen. Meridiane waren das neue medizinische Zauberwort und so hatte ich sogar den Segen meiner behandelnden Ärzte mich auf eine solche Behandlung einzulassen. Sollte ich tatsächlich geheilt zurückkehren, müsste ich mich trotzdem unbedingt noch einmal bei ihnen melden. Vermutlich erhofften sie sich medizinischen Weltruhm durch die Veröffentlichung eines Artikels über die bevorstehende Ausrottung von Diabetes.

Zu meinem Erstaunen musste ich jedoch nach meiner Ent­lassung aus dem Spital in Tainan feststellen, dass dieses Vertrauen auf die Allkraft chinesischer Heilmethoden selbst in Taiwan nicht geteilt wurde. Die Behauptung meiner behandelnden taiwanesischen Ärztin, in ihrem Land würde es Diabetes dank chinesischer Medizin gar nicht geben, war schlichtweg absurd. Der Taiwanesische Präsident Chiang Ching-Kuo selbst litt unter Diabetes, hatte wegen den Spätfolgen Teil seines Fußes amputiert bekommen und verstarb vermutlich auch an mit Zuckerkrankheit in Verbindung stehenden Komplikationen wenige Monate nach meinem ersten Aufenthalt in diesem Land. Verantwortungsvolle traditionelle Ärzte boten zwar unterstützende Therapien für Diabetiker an, schlossen aber die Möglichkeit einer Heilung durch chinesische Medizin kategorisch aus.


Kurioserweise schienen das bereits vor meinem erfolgreichen Überleben der abenteuerlichen Behandlung alle gewusst zu haben, aber niemand wäre auf die Idee gekommen mir das mitzuteilen. An der Musikschule unterrichtete die Tochter eines renommierten chinesischen Arztes, so ahnten vermutlich alle Mitarbeiter der Musikschule, die mich eingeladen hatte, dass die mir bevorstehende Behandlung in eine Katastrophe führen würde. Anscheinend wurden nur mir und dem Leiter der Musikschule diese Information vorenthalten. Man wollte keinen Ärger bekommen. Erst danach konnte man ungeniert darüber sprechen. Das wäre ganz normal und eben Chinesische Kultur erklärte man mir später treuherzig.

Das nahm ich mit Verwunderung so hin und fand diese eigenartige Kultur trotzdem, vielleicht aber auch gerade deshalb fremd und faszinierend. Nach meiner jetzigen Lebenserfahrung würde ich aber davon ausgehen, dass man mittlerweile auch im Westen nicht wirklich anders reagieren würde. Unangenehme Wahrheiten aussprechen, mit denen Vorgesetzte hinterfragt oder in Erklärungsnot geraten könnten, ist auch bei uns keine gesellschaftlich akzeptierte Option mehr. Hat sich mittlerweile dieser Aspekt der angeblich Chinesischen Kultur weltweit durchgesetzt oder gehörte das immer schon zum universellen Weltkulturerbe? Wäre eine interessante Frage, auf die ich die Antwort aber lieber gar nicht wissen möchte.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Philipp Tenta

österreichischer Komponist und Autor. Kulturrezensionen für die Neue Westfälische. Betreut seit 2015 minderjährige Flüchtlingee

Philipp Tenta

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden