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Flüchtlinge Alternative Fakten zum Leben mit Flüchtlingen - Flüchtlingsvisa leicht gemacht

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Eine im Jahr 2017 nicht unübliche Geschichte: Sami und Amri waren mit ihrer Familie, oder dem was davon noch übrig war, aus dem irakischen Bezirk Shingal vor dem IS geflohen. Beide sind Jesiden, der eine 14, der andere 15 Jahre alt. Monate später waren sie sind mit älteren Geschwistern nach Deutschland gekommen und hofften seitdem auf den Nachzug ihrer Familie. Nach eine Wartezeit von über anderthalb Jahren wurde ihr eigener Asylantrag endlich bewilligt, Familiennachzug sollte nun möglich sein.

Amri wartet. Seine Eltern leben seit über zwei Jahren in einem Zeltlager in der Osttürkei. Sie haben die nötigen Papiere bereits erhalten und warten seitdem auf einen Termin in der deutschen Botschaft in Ankara. Sie warten einen Monat, zwei Monate, drei Monate, ein halbes Jahr. Kein freier Termin! Der Vater ist schwer herzkrank, die ärztliche Unterstützung im Flüchtlingslager beschränkt sich auf ein Minimum. Amri und seine älteren Geschwister machen sich Sorgen.

Ganz anders geht es Sami. Seine Familie ist in die Kurdenhochburg Erbil geflohen. Sein ältester, volljähriger Bruder war schon vor ihm nach Deutschland gereist mit der Hoffnung so den Nachzug der anderen Familienmitglieder zu ermöglichen. Klappte nicht, war zu alt! Danach wurde Sami mit damals 12 Jahren los geschickt, begleitet von einem Onkel und anderen entfernten Verwandten. Der zurückgebliebene Rest der Familie hat Aufnahme bei Familienmitgliedern in Erbil gefunden, bewohnt inzwischen ein vermutlich bescheidenes Haus, das sich im Besitz der weitverzweigten Familie befindet. In Erbil gibt es ein deutsches Konsulat, dass aber seltsamerweise keine Visanträge von Flüchtlingen annimmt. Wer darauf hofft als Flüchtling nach Deutschland einreisen zu können, muss deshalb nach Jordanien fahren um in Amman einen Antrag zu stellen. Vermutlich bedankt sich die deutsche diplomatische Vertretung insgeheim beim Islamischen Staat, weil kaum jemand eine Autofahrt durch das vom IS besetzte Gebiet unternehmen will. Wenigstens für Jesiden gibt es aber eine Ausnahmeregelung. Als einzige bedrohte Volksgruppe dürfen sie ihre Anträge in Erbil stellen. Die zurückgebliebene Familie könnte also direkt vor Ort den Visaantrag stellen. Die Zeit drängt. Einer von Sami's Brüdern wird in wenigen Wochen 18 Jahre alt. Um auch ihm den Familiennachzug zu ermöglichen, müsste der Einreiseantrag innerhalb kurzer Zeit bearbeitet werden. Die Terminvergabe sieht aber auch hier extrem lange Wartezeiten vor.

Ich begleite Sami's volljährigen Bruder zu einem Beratungstermin einer Flüchtlingsberatungsstelle. Dort hat man einen Tipp für uns. Eine private, irakische Firma regelt vor dem Konsulatseingang die Terminvergabe. Gegen eine Zahlung von ungefähr zweihundert Euro pro Person und Antrag könnte man dort einen zeitnahen Termin erkaufen. Ohne dieses Bestechungsgeld muss hingegen mit einer Wartezeit von mehreren Monaten gerechnet werden. Der Berater rät uns, trotz schwerer eigener Bedenken, zur Variante Bestechungsgeld.
Kann es sein, dass nur ehrenamtliche Berater in Deutschland von einer solchen Praxis wissen, das Konsulat vor Ort aber nicht? Mit welcher Einstellung werden Flüchtlinge nach Deutschland kommen, wenn ihre erste Begegnung mit dem deutschen Staat ihnen verdeutlicht hat, dass man auch hier mit gesetzestreuer Vorgehensweise aber ohne Bakschisch nicht sehr weit kommt? Auch Sami's Bruder kennt diese Praxis, ist aber von dem Erfolg dieser Vorgehensweise gar nicht überzeugt. Anscheinend hat er bereits einen anderen Plan im Hinterkopf.

Wenige Tage später hat er einem jesidischen Anwalt die Angelegenheit übertragen. Dieser Anwalt hat angeblich schon hunderte Jesiden nach Deutschland gebracht. Nur positive Bewertungen! Der Plan sieht wie folgt aus: Es wird ein Termin an der Botschaft in Ankara beantragt, der spätestens in drei Wochen stattfinden wird. Die gesamte Familie soll dorthin reisen und ihre Papiere abgeben. Vier bis sechs Wochen später werden die Visa erteilt und die Reisedokumente von Ankara aus an ihre Adresse in Erbil geschickt. Danach kann die ganze Familie problemlos nach Deutschland kommen!

Ich bin sehr skeptisch und zähle meine Bedenken auf. Es geht doch nur um eine Terminvergabe? Die positive Bearbeitung der Anträge kann der Anwalt doch nicht garantieren! Wenn eine Familie in der Nähe von Erbil wohnt, kann der Antrag vermutlich nur in Erbil bearbeitet werden. Möchte ich meinen österreichischen Reisepass erneuern, muss ich doch auch nach Düsseldorf und kann mir nicht aussuchen, wohin ich gehen möchte. Wenn die Familie entgegen meiner Erwartung Visapapiere erhalten sollte, kann er dann sicher sein, dass es sich nicht um Fälschungen handelt?

Meine Bedenken werden ignoriert. Die Familie fliegt nach Ankara und reist zwei Tage später mit dem Bus nach Erbil zurück. Sami erhält kurz darauf einen Brief des Rechtsanwalts und bittet mich den Inhalt zu erklären. Um baldige Begleichung eines Honorars von 1.000 Euro wird gebeten. Das erscheint mir erstaunlich günstig, das Bestechungsgeld für einen Termin beim Deutschen Konsulat in Erbil wäre teurer gewesen. Doch Sami klärt mich auf. In Ankara gibt es noch einen zweiten Anwalt, einen der alles organisiert, mit eigenem Hotel und eigenem Reisebüro. Knapp zwei Monate später kommen die Visapapiere in Erbil an und Flugtickets werden reserviert.

Großer Jubel bei Sami, große Verwunderung bei mir. Sogar der in der Zwischenzeit 18 gewordene Bruder hat ein Visum erhalten. Nach zwei Jahren steht die Wiedervereinigung der Familie endlich bevor.

Ich fahre mit Sami an den Flughafen Düsseldorf um seine Familie abzuholen. Bis zuletzt rechne ich damit, dass es der Zollkontrolle seltsam erscheinen könnte, wenn eine Familie die aus dem Irak anreist, ein Visum aus der Türkei vorzeigt, doch alles läuft nach Plan.


In der Zwischenzeit warten Amris Eltern weiter auf ihren Termin bei der Botschaft. Amri und seine Geschwister werden zunehmend ungeduldig, der Gesundheitszustand des Vater beunruhigt sie immer mehr. Auch sie überlegen mittlerweile ob sie sich eine Anwalt nehmen sollen, um den Familiennachzug zu beschleunigen. Ich überlege ernsthaft ihnen die gute Adresse zu verraten.



Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Philipp Tenta

österreichischer Komponist und Autor. Kulturrezensionen für die Neue Westfälische. Betreut seit 2015 minderjährige Flüchtlingee

Philipp Tenta

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