Der Rechtsstaat - Ein Missverständnis

USA Die Fälle Snowden und Zimmerman haben eines gemeinsam: Sie offenbaren ein falsches Verständnis vom Rechtsstaat. Eine Analyse

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Der Rechtsstaat - Ein Missverständnis

Foto: Joe Raedle/ AFP/ Getty Images

Das konservativ republikanische Gedankengut wird in Deutschland gerne pauschal als irrational und rassistisch gebrandmarkt. Um dieses Bild gerade zu rücken schreibt der US-Amerikaner Eric T. Hansen eine Kolumne in der „Zeit“. Den Lesern wird klar, dass der Mann sicher kein Tea-Party-Anhänger ist und sich trotzdem gegen den, im parteilichen Sinne, „demokratischen Mainstream“ positioniert. Ähnlich wie die Filme des Regisseurs Clint Eastwood betont er weniger das Misstrauen gegen den Staat, als das Grundvertrauen in die Gesellschaft. Ein Ausdruck dieses Vertrauens ist das Jury-System in vielen US-Bundesstaaten, das den „gesunden Menschenverstand“ in das bürokratische Justizsystem einführen soll und zur zusätzlichen Kontrolle der Gerichtsbarkeit dient. Nach dem Freispruch von George Zimmerman ist dieses System zwar in den Fokus gerückt, wurde aber weit weniger zum Thema als der scheinbar allgegenwärtige Rassismus.

Viele Amerikaner sind empört. Für sie steht fest, dass der Prozess mit einem Schuldspruch geendet hätte, wären Opfer und Täter nicht schwarz und weiß, sondern weiß und schwarz gewesen. Doch für Hansen ist die Rollenverteilung nicht so klar wie für die Demonstrierenden. Vor Gericht konnte der Angeklagte glaubhaft schildern, dass er von Trayvon Martin angegriffen wurde und sein Leben verteidigte als er den Unbewaffneten erschoss. Diese Reaktion ist gemäß den „Stand-Your-Ground-Laws“ legitim. „Im Zweifel für den Angeklagten“ folgert Hansen in seinem Beitrag „Amerikas Rassismus ist vor allem ein Gefühl“ und sieht in dem Urteil eine Bestätigung des Rechtstaates. Genauso Barack Obama, der kurz nach dem Freispruch Respekt für das Urteil forderte, „a jury has spoken“.

Das Missverständnis mit der Rechtsstaatlichkeit

Und hier liegt das Missverständnis: Ein Rechtstaat misst sich nicht nur an dem Legalitätsprinzip in dieser engen Auslegung, also der Notwendigkeit jedes staatliche Handeln durch Gesetze rechtfertigen zu müssen. Zwar ist insbesondere in der Justiz dieses Prinzip fundamental, um staatliche Willkür zu verhindern, doch fundamentaler ist die Bewertung der eigentlichen Gesetze. In seiner Reaktion auf den Freispruch verwendet Obama den Begriff "nation of law“, der mit „Rechtsstaat“ übersetzt wird und eigentlich nichts anderes bedeuten sollte. Nimmt man die wörtliche Übersetzung, will man sich jedoch fragen: „Eine Nation welchen Gesetzes?“. Im konkreten Fall ist die Grundlage des Freispruchs die exzessive Auslegung von Notwehr in den Stand-Your-Ground-Gesetzen, die Flucht quasi unzumutbar machen und Besitz höher bewerten als Menschenleben. Formell wurden diese Gesetze demokratisch beschlossen, tatsächlich wurden aber professionelle Gesetzestexter im Auftrag der amerikanischen Waffenlobby NRA, zu Hilfe genommen. Also selbst falls Schwarz oder Weiß wirklich nicht der entscheidende Unterschied in diesem Prozess war, müssen sich Schwarze Gesetzen unterwerfen, die sie in keiner Weise repräsentieren. Schwarzer Präsident hin oder her, es ist ein Fakt, dass die NRA sich überwiegend aus weißen Männern rekrutiert und der US-Föderalismus über Leben und Tod entscheidet, und trotzdem hält Hansen den amerikanischen Rassismus „vor allem für ein Gefühl“.

Auch der Fall Snowden hat das problematische Verhältnis Amerikas zum Rechtsstaat offenbart. Während Viele Edward Snowdens Enthüllung als Errungenschaft für die amerikanische Demokratie sehen, wird er bei einer Auslieferung bestraft werden, theoretisch sogar mit dem Tod. Das Gesetz darf sich im Rechtsstaat eben nicht einem einzelnen Individuum beugen - gegenüber Sicherheitsbehörden schon?! Sicher haben die Anschläge des 11. Septembers Gesetze möglich gemacht, die nach amerikanischem Recht Abhörprogramme wir PRISM und sogar Formen der Folter legitimierten. Doch auch hier ist das Legalitätsprinzip durchbrochen: zum einen kamen diese Gesetze meistens durch die Behörde selbst zustande, zum anderen verstoßen diese Gesetze gegen verfassungs- und völkerrechtliche Bestimmungen. Und dieser Vorrang gilt auch für hartgesottene Rechtspositivisten, die sich strickt an die Gesetzestexte halten und dabei Recht und Ordnung gleichsetzen. Die Frage ob die NSA sich gesetzeskonform verhalten hat, bleibt also nicht nur im Bezug auf ausländische Gesetze eindeutig: diese hat sie millionenfach gebrochen.

Trotz dieser bedenklichen Ausrichtung kooperiert – nein, kapituliert die deutsche Regierung. Der Innenminister sieht jedenfalls keinen Grund Snowden Asyl zu gewähren, „da wir in den USA einen Rechtsstaat haben mit gewählten Vertretern". Ein Postulat ohne Argument, denn gewählte Vertreter gibt es in Russland auch, nur variiert hier die Einschätzung je nach Interessenlage und politischem Amt.

Vielleicht ist der unkritische Blick Hans-Peter Friedrichs auch nur der eines Befreiten auf seinen Retter: die größte Errungenschaft der Amerikaner war ohne Zweifel der Sieg über Nazi- Deutschland, dem Unrechtsstaat, für den es keinen Vergleich gibt. Vergleichbar ist aber die Argumentation, der sich die Amerikaner bedienten, um nach dem Zweiten Weltkrieg die Täter zu richten und somit eine Gerechtigkeit anerkannten, die dem Gesetzestext erhaben ist. Nur weil die Nazi-Schergen sich an die Gesetze der bestehenden Rechtsordnung hielten, blieben sie nicht ohne Schuld. Die Nürnberger Prozesse sollten die universelle Gültigkeit der Menschenrechte demonstrieren – zehnmal wurde die Todesstrafe verhängt.

Bitte nicht toll fühlen

Dieser Text dient nicht dazu, zu relativieren. Hansen tut eben dies, indem er eine Statistik präsentiert, der zufolge „nur" jeder Dritte Amerikaner in rassistischen Kategorien denkt und die USA somit „normal“ rassistisch sind. Auch in Deutschland ist der Rassismus noch tief verankert und es gibt keinen Anlass, davon auszugehen, dass dieser sich natürlicherweise verflüchtigen wird. Insbesondere im Hinblick auf die Muslime ist in keinem der beiden Länder eine positive Tendenz zu beobachten, die Selbsteinschätzung der Deutschen, eine tolerantere Gesellschaft zu sein, wird gerade in diesem Punkt auf die Probe gestellt. Desweiteren unterliegen auch deutsche Politiker dem typischen rechtsstaatlichen Missverständnis Regierungsbeamter, nur scheint hier die Gewaltenteilung ein wenig effektiver konzipiert zu sein. Und dies haben die Deutschen am Ende tatsächlich der amerikanischen Intervention zu verdanken.

Ja, die amerikanische Nation war damals wirklich vom Idealismus getrieben. Die Welt wurde Zeuge mit welchem Tatendrang die Amerikaner versuchten die Welt zu einem besseren Ort zu machen, und sie wurde Zeuge als die Welt Amerika zu einer schlechteren Nation machte. Einer Nation, von der die universellen Menschenrechte zu oft proklamiert, und einer Welt, in der sie zu oft verletzt wurden. Es wäre gerecht, wenn die USA sich selbst dem gleichen Maß unterwerfen würde, mit dem ihre Außenpolitiker Mitstaaten wie China oder Russland bewerten. Deren mangelnde Rechtsstaatlichkeit wird regelmäßig thematisiert und politisch ausgeschlachtet, doch letztlich egal ob USA oder NRA, schon die Römer wussten: „Ibi fas ubi proxima merces - Wo der Gewinn am höchsten ist, da ist das Recht“.

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