A
Angestellter Robert Walser war Schreiber, bevor er Schriftsteller wurde. Die Bank in seiner Geburtsstadt Biel, bei der er seine Ausbildung macht, lobt seine schöne Schrift. Als Handlungsgehilfe erstellt er Rechnungen, schreibt Dokumente ab, korrespondiert. Den Alltag der Angestellten, den Siegfried Kracauer noch 1930 als „unbekanntes Gebiet“ erkundet, schildert Walser um 1900 aus eigenem Erleben. Er tut dies nicht so empirisch wie der Soziologe in seinem Buch Die Angestellten; auch nicht so klassenkämpferisch, wie jene behaupten, die Walser um 1968 als Stehkragenproletarier vereinnahmen. Aber er tut es so, dass eine Zeitung seinen Text Der Commis mit dem Vermerk abdruckt: „Indem der junge Dichter selbst dem Kaufmannsstande angehört, fällt jeder Verdacht weg, als ob gewisse übermütige Stellen, in denen Spott und Ironie ihr Wesen treiben, schlimm gemeint sein könnten.“
B
Berlin 1905 befreit sich Walser vom Brotberuf, zieht nach Berlin und veröffentlicht drei Romane in drei Jahren. In „Geschwister Tanner“ sucht ein Jüngling zwischen Büroalltag und Naturgenuss seinen Platz in der Welt, in „Der Gehülfe“ erlebt der Privatangestellte eines technischen Erfinders dessen Bankrott. Jakob von Gunten, das Tagebuch des Zöglings einer Knabenschule, in der die Nichtigkeit des Daseins eingeübt wird, ist Walsers letzter zu Lebzeiten publizierter Roman. Nach der Rückkehr in die Schweiz 1913 verlegt er sich auf das „Prosastückligeschäft“, das schon in der Zeitungsstadt Berlin zu seiner Spezialität wird. Während Heimatromane den Schweizer Literaturmarkt dominieren, evoziert er das „Weltstadtleben“ in urbanen Feuilletons über die Friedrichstraße oder den Tiergarten. Deren Frische belegt die soeben erschienene Anthologie Die kleine Berlinerin. Clemens J. Setz schreibt im Nachwort dazu, ihm sei wie Walser „alles fremd in Berlin“, aber auch ihm „leuchtet die Stadt jedes Mal entgegen“.
I
Ich-Buch Die französische Autorengruppe Oulipo auferlegt sich in ihren Texten sogenannte ›contraintes‹, formale Zwänge wie etwa den, einen ganzen Roman ohne den Buchstaben E zu schreiben. Walser, der höchstens als Autor der Zeitschrift Die Insel vorübergehend einer Gruppe angehört, gibt sich in seinem Prosastück Die leichte Hochachtung die Regel, „jeden Satz mit einem selbstbewussten Ich“ anzufangen. Und in Das Alphabet verlangt er sich von A wie Amazone bis Z wie Zeitungsbüro zu jedem Buchstaben einen Begriff ab (➝ A–Z).
Allerdings: „I. überspringe ich, denn das bin ich selbst.“ Das omnipräsente und das übersprungene, aber gleich doppelt ausgesprochene Ich versinnbildlichen einen Autor, der immer und nie über sich selbst schreibt. Keines seiner größeren Werke entbehrt einer autobiografischen Grundlage. Aber wie der für seine autofiktionale Literatur bekannte Paul Nizon feststellte, unterscheidet sich der älter werdende Walser immer stärker von der Kunstfigur des „Lebensanwärters“, zu der er sich noch in späten Texten stilisiert. Als ein „mannigfaltig zerschnittenes oder zertrenntes Ich-Buch“ hat Walser sein Gesamtwerk bezeichnet: Es bringt ein Buch-Ich hervor, das nur aus Wörtern besteht.
J
Jetztzeit Robert Walser ist ein Gegenwartsautor im dreifachen Sinn. Erstens: Die vielen Jünglinge in seinem Werk verweigern sich Karriereplänen, sie genießen das Hier und Jetzt. „Ich will keine Zukunft, ich will eine Gegenwart haben“, heißt es in Geschwister Tanner. (➝ Berlin) Zweitens: Walser ist kein politischer, aber auch kein zeitfremder Autor. Er reagiert hellhörig und scharfzüngig auf die Diskurse seiner Zeit, sei es der Nationalismus oder der Nietzsche-Kult. Der Germanist Peter Utz hat deshalb von einem „Jetztzeitstil“ bei Walser gesprochen. Drittens: Thomas Mann nannte den Erzähler allgemein den „raunenden Beschwörer des Imperfekts“. Walser bricht schon in seinem ersten Prosatext mit der Konvention, in der Vergangenheitsform zu erzählen. Er steht an der Pforte einer zeitgenössischen Literatur, der das Erzählen im Präsens selbstverständlich geworden ist.
K
Kafka Franz Kafka hat Max Brod mit Leidenschaft Texte von Walser vorgetragen. Als der Fischer-Verlag 1962 den Roman Der Gehülfe neu herausgibt, steht auf dem Deckel: „Kafka liebte dieses Buch.“ Noch heute nutzen ihn viele Klappentexte als Verkaufsargument. Als hingegen der Rowohlt-Verlag 1912 Kafkas erstes Buch lanciert, vergleicht er den Debütanten mit dem damals etablierten Schweizer. Die ungleichen Zeitgenossen, die sich nie persönlich begegnet sind, teilen die Erfahrung der Bürokratie (➝ Angestellter) und beschreiben die Abgründe der modernen Existenz labyrinthisch. Als ihn aber sein Freund Carl Seelig auf den prominenten Fan anspricht, meint Walser lapidar, „in Prag gebe es doch Aufregenderes zu lesen als Walsereien“.
Kutsch Kennen Sie eigentlich Kutsch? Den schnieken Kerl, der drei unfertige Dramen im Kleiderschrank hat und eines im Kaffeehaus vergaß? Im Prosastück Kutsch zeichnet Walser das Stereotyp des Großstadtliteraten. „Kutsch“ ist aber auch das Pseudonym, unter dem Walser Satiren für die Zeitschrift „Die Schaubühne“ schreibt. Da raubt er einmal Wilhelm Tell allen Heldenmut, indem er Schillers Blankverse zu Prosa travestiert. Und in einem anonym publizierten Aprilscherz unterstellt er Max Reinhardt die Idee, seine Kulissen durch weiße Wäsche zu ersetzen. Humor, Komik und Sprachwitz prägen dieses Werk, das teils auch im Simplicissimus erscheint. Man muss sich Robert Walser, diesen einsamen Dichter mit seinem tragischen Schicksal, lachend vorstellen.
M
Maler In (➝ Berlin) wohnt Robert Walser anfangs bei seinem Bruder Karl. Der ein Jahr ältere ist schon früher in die Hauptstadt gezogen und macht sich rasch einen Namen als Maler der Berliner Secession, Bühnenbildner von Max Reinhardt und Buchgestalter von Bruno Cassirer, der Roberts Verleger wird. Dem Bruder verdankt der Autor seine Berliner Kontakte, die kongeniale Gestaltung der meisten seiner Bücher, vielleicht sogar den künstlerischen Blick. Später entfremdet sich Robert vom verheirateten und erfolgreicheren Karl. Sein vorletztes Buch lässt Robert sich nur mehr widerwillig von ihm illustrieren: weil darin, so meint er, „der Dichter schon selber mit der Schreibfeder, mit den sprachlichen Worten – malt und illustriert“. Heute inspiriert der ‚writer’s writer‘ Robert Walser als ‚painter’s poet‘ bildende Künstler genauso wie schreibende. Thomas Hirschhorn wird diesen Sommer in Biel (➝ Angestellter) eine Robert-Walser-Sculpture einrichten. Von Thomas Schütte stammt die Büste jener Frau, die es nie gab: Walser’s Wife.
P
Plaudern Walter Benjamin schreibt von Walsers typisch schweizerischer „Sprachscham“, die in „Geschwätzigkeit“ umschlage, sobald er zur Feder greife. Als „scheue Flucht vor den Augen der Öffentlichkeit“ deutet Walsers Freund und Förder, später auch Vormund, Carl Seelig, die winzigen Bleistiftaufzeichnungen der letzten Schaffensphase, die Walser nur dann in lesbare Manuskripte überträgt, wenn er sie einer Zeitung anbietet. Gerade in diesen posthum entzifferten Mikrogrammen aber wirkt er besonders geschwätzig, plaudert drauflos und fällt sich ins Wort, potenziert jene „Sprachverwilderung“ der Satzgirlanden, die ihm Benjamin attestiert hat. Dass Walser abseits vom Schreibtisch lieber schweigt als plaudert, lässt sich nur vermuten. Lesungen jedenfalls liegen ihm nicht: In Zürich muss er sich einmal ins Publikum setzen, weil er bei der Probe schlecht gelesen hat; ein Journalist springt für ihn ein. Und in einer Rundfunksendung aus Frankfurt wird der angekündigte Autor von Walter Benjamin vertreten, der an Walsers Stelle dessen Texte vorliest.
S
Spazieren In Walsers Erzählung Der Spaziergang von 1917 berichtet ein Schriftsteller, wie er einen ganzen Tag durch seine Stadt spaziert, weil er „ebenso gern spaziert als schreibt“. Zu Beginn begegnet er einer Frau, verbietet sich aber, sich auch nur „zwei Sekunden lang“ bei ihr aufzuhalten. Denn er darf weder beim Spazieren noch beim Erzählen Zeit verschwenden. „Dichten und Laufen waren verwandt miteinander“, heißt es bei Walser einmal: Das Spazieren ist nicht nur ständiges Thema seiner Texte, es wird auch zur Metapher für das Schreiben. Den „König der Spaziergänger“ hat Carl Seelig den Autor genannt und zu diesem Ruf selbst kräftig beigetragen: Sein 1956 zum ersten Mal veröffentlichtes Gesprächsbuch Wanderungen mit Robert Walser und seine Fotografien von ihm mit Hut und Regenschirm prägen bis heute das Bild eines Autors, der in der psychiatrischen Klinik von Herisau das Schreiben aufgibt, aber unterwegs mit seinem Vormund luzid über sein Leben und Werk spricht.
Das Motiv des Spazierens rückt Walser in eine lange Reihe literarischer Fußgänger von Jean-Jacques Rousseau bis W. G. Sebald und macht ihn für andere Sparten anschlussfähig. Als ob er ahnte, dass der Soziologe Lucius Burckhardt später die ‚Spaziergangswissenschaft‘ begründen würde, drückt er im Spaziergang einem Professor einen „wissenschaftlichen Spazierstock“ in die Hand.
T
Theater Robert Walser, von einem Kritiker als „Shakespeare des Prosastückli’s“ bezeichnet, war kein Dramatiker. Als Thema und Referenzgröße aber durchzieht das Theater sein Werk. In seinen Berliner Prosastücken, die insbesondere in der Theaterzeitschrift Die Schaubühne erscheinen, bekennt er sich in Abgrenzung zum Naturalismus zu einem „Lügentheater“. Er vergleicht das Theater mit dem Traum und nennt die Bühne einen „großgeöffneten, wie im Schlaf sprechenden Mund“. Als Jugendlicher träumte Walser davon, Schauspieler zu werden. Schriftsteller geworden, schlüpft er in Rollen, spricht durch Masken. Er setzt Landschaften mit Kulissen gleich, wo er Berge „wie die Mache eines geschickten Theatermalers“ aussehen lässt. Und seine redseligen Helden deklamieren über Seiten hinweg. Walser schreibt auch Dramolette und dramatische Szenen, die aber eher Lesetexte sind und zu seinen Lebzeiten nie aufgeführt werden. Heute schafft es selbst seine Prosa auf die Bühne: Das Schauspielhaus Zürich inszenierte 2017 den Roman Jakob von Gunten. Bruno Ganz und Hannelore Hoger lesen regelmäßig aus seinem Werk.
Z
Zeitung Im „feuilletonistischen Zeitalter“, so heißt es bei Walsers frühem Leser und treuem Förderer Hermann Hesse, verdingen sich selbst Autoren von Rang dem Unterhaltungsteil der Tagespresse. In seiner letzten Schaffensphase schreibt Walser keine Bücher mehr, aber Hunderte von Feuilletons für die Frankfurter Zeitung, das Berliner Tageblatt oder die Prager Presse. Als Dichter-Journalist produziert er mit dem Ethos des einstigen Angestellten. Und steigert das Subjektive, Assoziative, Plauderhafte der „kleinen Form“ ins Extrem. „Über Y. weg komm’ ich zu Z., einem Zeitungsbureau“, beendet er das unter I erwähnte Alphabet, das in der Neuen Zürcher Zeitung erscheint, „und gebe mein Alphabet ab.“
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