Fintenreiches Schattenboxen

Neoliberal oder nationalkonservativ Für eines von beiden muss sich Polen beim Finale der Präsidentenwahl am 23. Oktober entscheiden

An ein urban-liberales Programm will sich Donald Tusk, Kandidat der Bürgerplattform (PO), halten, sollte er die Nachfolge von Aleksander Kwasniewski antreten. Für ein provinziell-konservatives bürgt sein Rivale Lech Kaczynski. So jedenfalls sehen es die meisten polnischen Medien. Doch Tusk und Kaczynski tragen mehr als nur einen Bruderzwist zwischen zwei rechten Ideologen aus, von denen der eine, Kaczynski, etwas sozialer, dafür aber autoritär ist - der andere zwar weltmännisch liberal agiert, seinen Begriff von Freiheit aber primär nach den Bedürfnissen der Ökonomie und städtischen Eliten definiert.

Tusk und Kaczynski repräsentieren neben ihren unterschiedlichen Zugängen zu letztlich gar nicht so unterschiedlicher rechter Politik zwei völlig konträre Wählermilieus. Im ersten Wahlgang, den Tusk mit drei Prozent Vorsprung auf Kaczynski gewann (s. Übersicht), teilten sich beide ihre Einflusssphäre daher auch entlang der geografischen Demarkationslinie zwischen dem eher reichen so genannten "Polen A" und dem eher verarmten "Polen B". Im relativ wohlhabenden Westen und Norden gewann Tusk - östlich von Warschau, besonders im Südosten, hatte in allen Bezirken Kaczynski die Nase vorn.

Durch Polen geht ein tiefer Graben: die Wendegewinner hier, die Verlierer dort. Dass freilich in der verarmten polnischen Provinz keine Linkspartei - nicht einmal der Populist Andrzej Lepper - die Stimmen der Deklassierten aufsaugt, sondern der Law-and-Order-Konservative Kaczynski, ist ein typisch polnisches, wenn auch temporäres Phänomen und hat vorzugsweise mit dem desaströsen Zustand der Linken zu tun. Ihr haben die vergangenen vier Jahre Regierungsarbeit wahrlich nicht wohl getan. Von 41 auf elf Prozent ist das Bündnis der Demokratischen Linken (SLD) bei den Parlamentswahlen im September heruntergerasselt.

Wie ihre Wortduelle im Wahlkampf zu erkennen gaben, sind Tusk und Kaczynski Politiker von sehr verschiedener persönlicher Struktur, womit sie natürlich auch über die Klientel entscheiden, die sie ansprechen. Tusk hat in seiner politischen Karriere sehr bald auf die noble Welt der Verhandlungssalons, auf Intellektualität und ein gewisses Understatement gesetzt. Viele Jahre galt er als Mann aus der zweiten Reihe, dem das Dasein eines Lebemanns lieber ist als übertriebener Ehrgeiz. Was durchaus dem Lebensgefühl jener Eliten entsprach, als deren Vertreter sich Tusk ursprünglich zu positionieren suchte.

Erst seit er um die Präsidentschaft kämpft, exponiert der Bewerber die "volksnahen" Bestandteile seiner Biografie: die Tatsache, dass er sich als Arbeiterkind seinen Hochschulabschluss mühsam erarbeiten musste, dass er kurzzeitig arbeitslos war, dass er Alkoholprobleme hatte.

Während das Arbeiterkind Tusk als Künder der reine Lehre des Neoliberalismus durch die Lande zieht, gibt Lech Kaczynski den um das Wohl der verarmten Massen besorgten Volkstribun. Seine IV. Republik, deren Ausrufung er nach seinem Sieg verspricht, soll solidarisch, egalitär und sozial fürsorglich sein. Freilich nur für jene, die es auch verdienen: durch christliche Moral und bedingungslosen Gehorsam.

Wäre die IV. Republik letzten Endes mehr als ein propagandistisches Konstrukt, man müsste sie ohne Zweifel als autoritären Staat beschreiben, der zwar am prinzipiellen Primat der Wirtschaftsinteressen über die Politik nicht kratzt, aber Wert darauf legt, an loyale Bedürftige wenigstens einige Brosamen zu verteilen. Für fast fünf Millionen Polen war ein solches Programm im ersten Wahlgang offenbar ein attraktives Angebot. Bei der Stichwahl am 23. Oktober könnten es noch mehr werden, auch wenn es nicht unbedingt zum Endsieg über Tusk reichen dürfte.

Nicht nur in ihren wirtschaftspolitischen Ansichten, auch darin, wie sie künftig die Rolle Polens in der Welt definieren möchten, bieten die Kandidaten eine ziemlich exakte Wiedergabe der Vorlieben und Ressentiments ihrer Klientel. In Richtung Vatikan würde Lech Kaczynski gern seine erste Auslandsreise als Präsident unternehmen - New York nennt Donald Tusk als Wunschziel. Und während Tusk getreu der political correctness der Großstadteliten nicht nur Polens strategische Allianz mit den USA betont, sondern sich auch als kreuzbraver EU-Europäer präsentiert, greift die Kaczynski-Propaganda ihn als einen Brüssel hörigen Verräter vaterländischer Interessen an.

Im Finish kam dann auch die "deutsche Karte" zum Einsatz: Der Vorwurf, Tusks Großvater hätte als Wehrmachtssoldat "den Deutschen gedient". Was freilich mit der Wahrheit nichts zu tun hatte: Großvater Tusk wurde als polnischer Einwohner von Danzig zwangsrekrutiert, desertierte aber bald. Doch antideutsche Ressentiments werden im unterprivilegierten sozialen Segment, das Kaczynski ansprechen will, durchaus geschätzt.

So brutal der Wahlkampf während der vergangenen Tage auch gewesen sein mag, zu glauben, das Verhältnis zwischen der Kaczynski-Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) und Tusks Bürgerplattform (PO) sei nachhaltig vergiftet, wäre dennoch naiv. Zu ähnlich sind sich die Kontrahenten allen plakativen Unterschieden zum Trotz. Und zu sehr brauchen sie einander: Die Rechte kann ihren Sieg bei den Parlamentswahlen im September nur auskosten, wenn die Bürgerplattform und Kaczynskis Anhang koalieren. Ist die Schlacht um die Präsidentschaft geschlagen, dürfte eine Einigung über Kabinett und Programm sehr schnell zu finden sein. Man kennt einander schließlich. Tusk und Kaczynski sind privat immerhin Duz-Freunde. Der beherrschte Tusk wusste das bei allen gemeinsamen öffentlichen Debatten stets elegant zu verbergen. Kaczynski hingegen platzte einmal der Kragen: "Immer wenn du mir gegenüber unangenehm bist, sprichst du mich per Sie an", sprudelte es aus ihm während einer Fragerunde mit Journalisten hervor.


Ergebnis des ersten Wahlgangs


(Angaben in Prozent)

Wahlbeteiligung49,7

Donald Tusk (Bürgerplattform/PO)36,3

Lech Kaczynski (Recht und Gerechtigkeit/PiS)33,1

Andrzej Lepper (Bauernpartei "Samoobrona")15,5

Marek Borowski (Sozialdemokratie Polens/SDPl - Abspaltung von der SLD)10,2

Andere 4,9


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