Es ist der über viele Jahre hinweg durch die sudetendeutschen Landsmannschaften vertretenen Interessenpolitik zu verdanken, dass deutsch-tschechische Gespräche um die Pfingsttage herum - vor allem in Bayern - beim Stichwort "Vertreibung" oder "Benes?-Dekrete" eine fatale Wendung nehmen. Mittlerweile gibt es aber auch eine Reihe von Projekten, die sowohl auf der deutschen als auch auf der tschechischen Seite die "anderen" Deutschen ins Blickfeld rücken. Die Befragung von sudetendeutschen Sozialdemokraten beispielsweise macht deutlich, wie viele Deutschböhmen gar nicht "heim ins Reich!" wollten, sondern den tschechoslowakischen Staat bis zuletzt gegen Henlein und Hitler verteidigten. Sie mussten allerdings bei den wilden Vertreibungen in den ersten Nachkriegsmonaten denno
Die anderen Deutschen
Behutsame Annährung Sudetendeutsche Sozialdemokraten erinnern sich an die Besetzung ihrer Heimat und an die Rückkehr und Aussiedlung nach dem Krieg
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nnoch um ihr Leben fürchten.Die neueste Aufklärungsinitiative auf diesem Gebiet geht von Jiri Paroubek, dem Ministerpräsidenten der Tschechischen Republik, aus. Vor gut zwei Wochen eröffnete er in Prag eine hochdotierte historische Forschungs- und Dokumentationsstelle zur Aufarbeitung der Geschichte sudetendeutscher Antifaschisten. Außerdem erklärt Paroubek in einem Grußwort zum 50-jährigen Jubiläum der Seliger-Gemeinde - so nennen sich die böhmischen und mährischen Sozialdemokraten in Deutschland nach ihrem ersten Vorsitzenden Josef Seliger (1870-1920) - noch einmal seine Position: "Viele von ihnen, die durch den Naziterror betroffen waren, wurden nach Ende des Zweiten Weltkriegs nicht respektiert. Statt dessen wurden sie Maßnahmen unterzogen, die für die so genannte feindliche Bevölkerung bestimmt waren. Für diese Ungerechtigkeit hat sich die heutige tschechische Regierung entschuldigt."Anton Troll, geboren 1918 in Altsattl/Staré sedlo, ist einer von denen, die nicht "heim" ins Reich wollten. Er erinnert sich noch genau, wie er als 19-Jähriger den deutschen Einmarsch in die so genannten Sudetengebiete Anfang Oktober 1938 erlebte: "Wir wollten damals ja auch ins Landesinnere fliehen wie viele andere Sozis. Aber weil meine Eltern zuhause auf gepackten Kisten zum Fortmachen warteten, bis ich von der Arbeit vom Schacht heimkam, war es dafür zu spät. Die Henlein-Leute holten uns und sperrten uns zusammen mit ungefähr 15 Mann in den Schulkeller ein. Als es dann hieß, der Hitler kommt, stellten sie uns auf den großen Platz vor dem Konsum zum Mitschreien hin. Viele von den Henlein-Leuten spuckten uns an."Dass nach ein paar Tagen alle Gefangenen zunächst einmal wieder auf freien Fuß gesetzt wurden, verdankten sie der Fürsprache des Bürgermeisters Dorschner, der die Gemeindewahlen im Mai 1938 erstmals für die Henlein gewonnen hatte. Troll kennt einen möglichen Grund: "Der Bürgermeister ist durch seine Heirat in eine Landwirtschaft ein Henlein geworden. Sein Bruder blieb Sozi und war mit uns eingesperrt." Aber damit hatte die Verfolgung der Sozialdemokraten in Altsattl noch kein Ende. Vier von ihnen brachten die Nazis später doch noch ins KZ nach Dachau, und auch Trolls Vater wurde "bestraft". "Unten an der Straße", erinnert sich Troll, "war ein Kiosk, der einem Sozi gehörte. Wir sagten nur Zuckerbud dazu. Die Henlein raubten sie aus wie den Konsum, und mein Vater musste die Bude wegreißen."Eine besondere Schmach war es für ihn, als Sozi an der "Erledigung der Rest-Tschechei" und an dem verbrecherischen Krieg Deutschlands beteiligt zu werden. Anton Troll rückte am 10. Januar 1939 ein und wurde gezwungen, am 12. März Böhmen und Mähren mit zu besetzen. Wie seine beiden Brüder musste er am 1. September 1939 in den Krieg ziehen. Nach seiner Heimkehr 1945 fand Troll gleich wieder Arbeit in den Chemischen Werken in Falkenau/Sokolov, wo er bis zur Aussiedlung 1946 beschäftigt war.Ob sich die Trolls überlegt hätten zu bleiben? Für Anton Troll ist die Antwort klar: "Na ja, wir wussten ja nicht, wie es weitergeht. Ich hätte bleiben können, weil ich in Falkenau Arbeit hatte. Aber ich sagte mir, wenn meine Eltern fortgehen, dann gehe ich mit." Nicht ohne Stolz zeigt Anton Troll seinen Antifaschisten-Ausweis. "Auf dem Gemeindeamt war, wie wir aus dem Krieg heimgekommen sind, eine Frau aus einer Mischehe. Sie stellte uns Antifaschisten-Ausweise aus." Es geschah in aller Form auf Antrag und mit Beleumundung.Mit einem der Antifaschisten-Züge kamen Troll und seine Familie im November 1946 ins Durchgangslager Wiesau. Nicht ganz glatt verlief dann die Ankunft in der neuen Heimatstadt Hof. Zwar orientierte sich Troll sofort wieder politisch. "Gleich wieder hinein in die SPD 1947 und zur Gewerkschaft. Das war das erste! Als dann von uns Sozis die Seliger-Gemeinde gegründet wurde, sind wir alle aus der Landsmannschaft ausgetreten. Wir sagten immer: Da sind auch Nazis drinnen." Die Trolls fanden dann auch in kürzester Zeit eine Wohnung - im Büro eines Baugeschäfts. Aber: "Da hat es geheißen: Flüchtlinge! Es war eine Lumperei: Wir fünf Personen in einem Raum, und die oben hatten eine große Wohnung."Besonders wichtig war es für Anton Troll, als LKW-Fahrer in einer Baufirma unterzukommen. "Ab 1955 bauten wir selbst. Wir hatten kein Geld. Aber wir bauten trotzdem. Weil ich am Bau war, konnte ich mir alte Ziegel und Zeich herfahren. Im August ´56 sind wir eingezogen, um keine Miete mehr zahlen zu müssen. Da war noch keine Haustüre dran. Es gab keinen Treppenaufgang."Wie lange es dauerte, bis sich Troll in Hof heimisch fühlte? "Wir fanden uns von überall her in der Seliger-Gemeinde. Darum ging es schnell. Da wurde Silvester gefeiert, Egerländer Fasching, Egerländer Ball. Überhaupt, wenn wir tanzten, war der Saal immer voll."Anton Troll fand in Hof eine neue Heimat. Es gab aber auch schlimme Fälle von Vertreibung oder Aussiedlung - tschechisch Odsun -, die auch Antifaschisten und manchmal sogar Juden traf. Dabei hing es von der jeweiligen Situation vor Ort ab und den örtlichen Zuständigkeiten, ob einfach alle, die deutsch sprachen, vertrieben wurden oder ob die politische Herkunft den Ausschlag gab. Einige Deutsche durften auch gar nicht gehen, weil sie als Facharbeiter gebraucht wurden, oder oder sie wollten aus familiären Gründen bleiben.Zu Letzteren gehören Marie und Franz Lippert. Die damals 20-jährige Marie Lippert denkt nicht gern an den 12. September 1938 zurück. "Hitler", erzählt sie, "verkündete an diesem Tag auf dem Nürnberger Reichsparteitag der NSDAP, dass seine Geduld mit der Tschechoslowakei zu Ende gehe. Die Fenster in Eger standen weit offen. Radios und Lautsprecher waren so eingestellt, dass jeder Mensch die Rede mit anhören musste, ob er wollte oder nicht. Nach der Rede sammelten sich die aufgehetzten Leute auf der Straße, zerschlugen die Fensterscheiben der jüdischen, sozialdemokratischen und tschechischen Einwohner und plünderten ihre Geschäfte. Dann zogen sie gegen unser Volkshaus."Marie Lipperts späterer Mann, Franz Lippert, Jahrgang 1909, befand sich im Volkshaus, als die Henlein anrückten. Wie er den Überfall erlebte? Lippert, ein Sozialdemokrat wie er im Buche steht, berichtet: "Sie zerschlugen alle Fenster, rissen außen die ganzen Kästen herunter, schossen mit Revolvern herein. Wir bangten um unser Leben. Aber wir blieben im Volkshaus."Dieser Ausbruch das Hasses überraschte die beiden Mitglieder der ebenso kämpferischen wie idealistischen Eger-Sozialdemokraten nicht sonderlich. Neu war, dass jetzt Freikorps aus Deutschland tschechische Behörden, wie etwa das Postamt, angriffen. Die Situation spitzte sich in den folgenden Tagen zu, so dass Marie Lippert schließlich wie viele andere eingeschüchterte und gefährdete Menschen der Stadt den Rücken kehrte und ins Landesinnere floh.Ihr Glück im Unglück war, wie sie heute weiß, dass sie einen Bogen um die neu eingerichteten Flüchtlingslager machte. In Pilsen beobachtete sie mit eigenen Augen, wie nach der Abtretung der sudetendeutschen Gebiete an Deutschland Anfang Oktober 1938 sozialdemokratische und jüdische Flüchtlinge von der tschechischen Gendarmerie mit Gewalt in Waggons gestoßen und in die Grenzgebiete zurücktransportiert wurden. Marie Lippert zitiert eine Freundin, die ihr einige Jahre später die Ankunft in Eger schilderte: "Es war furchtbar! Die Leute auf dem Bahnhof schrien: Jetzt kommt das Gesindel. Schlagt sie tot!"Als Hitlers Befehl zur Erledigung der "Rest-Tschechei" im März 1939 ausgeführt wurde, gelang Marie Lippert mit einem der letzten Züge die Flucht; vorbei an deutschen Soldaten über Ostrau nach Polen und von dort weiter nach England. Auch Franz Lippert konnte sich nach London in Sicherheit bringen. Er schloss sich 1941 der tschechoslowakischen Auslandsarmee an und kehrte 1945 mit ihr zurück.Doch wie groß war seine Enttäuschung, als ehemals Einheimischer im Nachkriegs-Eger nicht willkommen zu sein. Eine deutsche Minderheit passte nicht ins politische Konzept. Doch Lippert ließ sich nicht unterkriegen. Sein standhaftes Fazit lautet 40 Jahre später, noch kurz vor seinem Tod: "Ich glaube, die Rückkehr war nicht umsonst. Trotz allem nicht."Marie Lippert kehrte ein Jahr nach ihrem Mann aus London nach Eger zurück; mit gemischten Gefühlen, denn sie musste sich um ihren zwei Jahre alten Sohn kümmern. "Meine größte Angst war", erklärt sie, "mich auf Tschechisch nicht verständigen zu können. Ich hatte ja nur 38/39 im Landesinnern ein bisschen tschechisch gelernt." Aber sie erhielt doch ohne weitere Probleme ihre Repatriierungskarte für Cheb/Eger. Neuigkeiten erwarteten sie zu Hause. "Mein Mann hatte die Eltern zwar mit Nahrungsmitteln versorgt und verhindert, dass sie aus der Wohnung geschmissen wurden, aber sie siedelten schon drei Wochen nach meiner Ankunft ganz ordentlich aus." Warum sie und ihr Mann nicht mitgingen? "Wir konnten nicht. Wir mussten auf unser Gepäck aus England warten."Die Zeit verging, und dann war es plötzlich zu spät für die Aussiedlung. "Nach dem kommunistischen Putsch 1948 hatten wir keine Courage mehr, die Aussiedlung zu beantragen. Wir benahmen uns sehr zurückhaltend und unauffällig." Dabei hatten die Lipperts mit ihrem Widerstand gegen die Nazis und mit der Teilnahme des Mannes an der Befreiung noch gute Karten im Vergleich zu den meisten anderen verbliebenen Deutschen.Später kam die umgängliche Art Marie Lipperts zum Tragen. Egal ob es sich um Nachbarn oder Arbeitskollegen handelte, sie habe, wie sie betont, immer versucht, von Anfang an ein anständiges Verhältnis herzustellen. Wie gut ihr das gelungen ist, zeigt ihr weiterer Lebensweg. "Ich muss sagen, dass uns von den Nachbarn her nie etwas geschehen ist, und auch in der Fabrik waren alle Mitarbeiterinnen sehr anständig zu mir." Und schließlich halfen auch ihre Sprachkenntnisse weiter. "Ich hatte die Jahre über immer Schüler, die Deutsch oder Englisch lernen wollten, und damit auch gute Kontakte in Eger." Auf einen Erfolg als "Lehrerin" ist sie aber besonders stolz: "Es ist mir gelungen, unseren Sohn, den ich aus England mitbrachte, auf die Hochschule zu bringen."Ihr Lebensfazit klingt versöhnlich, heiter: "Ich lebte mich hier ganz gut ein. Ich fühle mich wohl. Ich habe viele tschechische Freunde. Der Grund, warum ich mich trotzdem etwas minderwertig fühle, ist, die tschechische Sprache noch immer nicht perfekt zu beherrschen."Weitere Zeitzeugen-Porträts und Dokumente der sudetendeutschen Sozialdemokratie finden sich in dem Buch Verdrängt. Vergessen. Wiederentdeckt, das im Juli dieses Jahres im Verlag Eckhard Bodner, Pressath erscheinen wird.
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