Plauen? Wie in vielen anderen Kommunen verlangten Bürgerrechtler damals Aufklärung über den Wahlbetrug bei den Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 und wie vielerorts gelang es hier einer Gruppe von Bürgern, dem amtierenden Bürgermeister Paroli zu bieten. Was Plauen aber hervorhebt ist, dass in keiner anderen vergleichbaren Stadt zwischen dem 7. Oktober 1989 und dem 17. März 1990 so oft demontriert wurde: 22 Mal stimmten die Plauener mit den Füßen ab, selten waren es weniger als 10.000 Menschen, einmal sollen es sogar mehr als die Einwohnerzahl Plauens gewesen sein, über 80.000 Menschen.
Eine weitere Besonderheit: Die Mobilisierung reichte in Plauen bis in die Betriebe hinein. Arbeiter bereiteten eine Gegendemonstration zum 40. Jahrestag der DDR vor. Heute ist von diesem Bürgerstolz freilich nicht mehr viel zu spüren. Jüngst hat die Stadt den Kampf um ihre Kreisfreiheit verloren und im Zusammenhang damit auch viele öffentliche Einrichtungen. Und schließlich ist der demografische Wandel auch an Plauen nicht spurlos vorübergegangen; leer stehende Wohnungen und Geschäfte an allen Ecken und Enden.
Und die Helden von damals? Manfred Sörgel und Adelheid Liebetrau wollen von der Bezeichnung "Helden" beide nichts wissen. Für Sörgel, der heute als technischer Angestellter bei einem Kabelnetzbetreiber arbeitet, spielt Politik und dabei das unbedingte Interesse für die Demokratie nach wie vor eine wichtige Rolle. "Aber", schränkt der heute 51-Jährige ein, "sie hat nicht mehr diesen exorbitant wichtigen Stellenwert wie zur Zeit in der Wende, als wir uns im Rathaus fast eineinhalb Jahre lang täglich nicht bloß Stunden, sondern ganze Tage um die Ohren geschlagen haben." In einer der neuen Parteien konnte er sich bis heute nicht wiederfinden. Er übernahm stattdessen einige Aufgaben in einer katholischen Pfarrgemeinde. Manchmal denkt er darüber nach, sich wieder mehr zu engagieren. Gleichzeitig zweifelt er, ob er das mit seiner Familie vereinbaren kann.
Adelheid Liebetraus aktuelle Situation ist ganz anders als die ihres zehn Jahre jüngeren ehemaligen Mitstreiters. "Ich fühle mich eigentlich als politischer Mensch. Und wo bin ich gelandet? Ich bin arbeitslos, mittellos und jetzt auch noch parteilos. Schöne Aussichten in meinem Alter." Sie hatte sich nach dem Umbruch zunächst aus privaten und beruflichen Gründen enttäuscht aus der Politik zurückgezogen, setzte dann neue Hoffnungen auf die westdeutsche WASG und wurde erneut desillusioniert. "Es ist sinnlos, Mitglied in einer Partei zu werden, wenn du dieses Machtstreben nicht mitbringst. Mein Bedürfnis war immer, etwas zusammen mit anderen zu machen. Ich werde meine Mitgliedsnummer im Internet versteigern."
Im Plauener Neuen Forum kamen Leute aus unterschiedlichstem sozialen Hintergrund zusammen. Unter normalen DDR-Bedingungen hätten sie sich nie getroffen, aber kurz vor der Wende haben sie sich auf Gedeih und Verderb aufeinander eingelassen. Wenn es eine "tolle Erfahrung" gibt, die Sörgel aus dieser Zeit an seine Kinder und Enkel weitergeben will, dann die: "Wir Forumleute kamen aus allen möglichen Richtungen. Du konntest Misstrauen haben oder nicht, du warst trotzdem mit dabei. Wir dachten über den Tellerrand hinaus, wollten miteinander ins Gespräch kommen und hatten ein Ziel. Das hat unsere Kraft ausgemacht."
Vor dem Umbruch arbeitete Sörgel zwanzig Jahre lang in einem Plauener VEB-Betrieb als Rundfunk- und Fernsehmechaniker. "Unter den Kollegen", erzählt Sörgel, "gab es in politischer Hinsicht keinerlei Zurückhaltung. Einer hatte einen Ausreiseantrag gestellt. Unser Parteisekretär hat uns alle mehr gedauert, als dass er in irgendeiner Form Angst und Schrecken verbreiten konnte. Das war so. Aus Sicht der SED waren wir ein völlig versauter Haufen." Zum Neuen Forum kam Sörgel aber über einen Schulfreund und die Kirchengemeinde. Der Superindentent Plauens, Thomas Küttler, konnte dank seiner Glaubwürdigkeit bei der ersten Demonstration am 7. Oktober 1989 die direkte Konfrontation zwischen dem Bürgermeister und den Leuten vor dem Rathaus entschärfen. Er versprach ihnen, dass der Bürgermeister sich dem Gespräch mit einer Abordnung von 20 Plauener Bürgern stellen werden.
"Wir gingen", berichtet Sörgel, "bei diesen Treffen mit den Stadtverordneten im Rathaus wirklich an die Grenzen des Möglichen. Wir, eine bunte Mischung aus allen politischen Gruppierungen, wollten die Leute vertreten, die an den folgenden Samstagen auf der Straße standen. Wenn es immer weniger geworden wären, hätten wir Probleme bekommen, auch existenzielle. Die Demonstranten waren unsere Legitimation. Sie wurden deshalb vor dem Rathaus von uns über die Gesprächsergebnisse informiert, und wir haben Impulse aus ihren Parolen und Plakaten aufgenommen."
Neben der normalen Arbeit im Betrieb gab es jede Menge zu tun. Das fing bei ganz normalen kommunalen Problemen wie der Wohnungsvergabe oder der Kohlenbelieferung an und ging hin bis zur Aufarbeitung der Wahlmanipulation und anderen Stasi-Geschichten. Eineinhalb Jahre lang hatte Sörgel einen 16-Stundentag. Als dann die Kommunalwahl kam, war er an der Grenze der Erschöpfung. "Ich war so froh. Ich dachte, jetzt kommt alles in geregelte Bahnen. Ab jetzt sollten sich die mit diesen Themen befassen, die dafür bezahlt werden, die Verwaltung und die, die wirklich gewählt worden sind."
Sörgel gibt gerne zu, dass es Momente der Angst gab, zumal am Anfang. Ich war verheiratet und hatte drei Kinder, und meine Frau wollte sich mit den Kindern nicht wegschicken lassen. Mir wäre es manchmal lieber gewesen, sie in Sicherheit zu wissen." Der richtige Schreck kam mit Verzögerung, Jahre später, als Sörgels Frau bei der Gauck-Behörde ihr großes Aktenbündel einsah. Ein Mitarbeiter erklärte: "Gucken Sie hier: Diese Registriernummer ist ihre Einlieferungsnummer für Gitter 1 oder 2." Ihr Platz im Internierungslager war schon bestellt.
Die Entscheidung gegen den DDR-Staat war für Sörgel besonders mit Blick auf seine Kinder eine klare Sache. Er wollte ihnen und sich selbst auch später noch ins Gesicht sehen können. "Vielleicht hängt es unter anderem mit meiner religiösen Bindung zusammen, aber man muss einfach über kurz oder lang mit einem Staat anecken, der meint, er habe das alleinige und alles bestimmende Recht über alle, und der die Meinung der Bevölkerung kontrollieren will." Wie es ihm heute geht? Er sei zufrieden, sagt Manfred Sörgel.
Für Adelheid Liebetrau, die seit 1973 in Jösnitz bei Plauen lebte, einen großen Pfarrhaushalt und ihre Kinder versorgte und sich nebenbei für die Kirche engagierte, stellt sich die Geschichte aus einem anderen Blickwinkel dar. Viel Raum, um Aktivitäten außerhalb des staatlich Erwünschten zu entfalten, gab es in Jösnitz nicht. Doch Liebetrau hatte eine Frauengruppe gegründet und griff im Schutz der Kirche "moderne Themen" auf. "Ich wollte die Frauen auch politisch interessieren", erzählt Liebetrau. "Als sich dann aber am 7. Oktober die Möglichkeit eröffnete, sich zu engagieren, waren sie nicht da. Ich war enttäuscht. Ich dachte, ihr könnt´ mich mal. Das nächste Mal fahre ich alleine". Genau so machte sie es. Zusammen mit ihrem elfjährigen Sohn marschierte sie bei den Demonstrationen in Plauen mit. "Mein Sohn war ganz begeistert und hat die tollen Parolen, die auf den Transparenten standen, auf einen kleinen Block aufgeschrieben. Ich habe die Blätter noch heute."
Liebetrau trat dem Neuen Forum bei und freute sich auf das erste Treffen im Kino Capitol. "Ich hatte schon immer die Vorstellung, dass sich bei uns etwas grundlegend ändern muss. Ich dachte, es wird bestimmt alles gerechter und lockerer zugehen. Dann komme ich ins Capitol, und da sitzt der Vorstand, da sitzen lauter Männer, die Tische vorne mit Tischdecken verkleidet, damit man die Beine nicht sieht. Ich dachte, ich bin ich im falschen Film. Das soll das Neue Forum sein? Wo sind die Frauen im Präsidium?"
Dennoch fand Liebentrau in der Arbeitsgruppe Kultur lohnenswerte Aufgaben. "Wir versuchten zum Beispiel herauszubekommen, was der Staatliche Kunsthandel im Sperrgebiet trieb. Dort holten vom Zoll verplombte Transporter Antiquitäten ab, die in Scheunen gestapelt lagerten." Die Berichte über diese Recherchen seien, vermerkt Liebentrau lakonisch, dann "im Giftschrank des neuen Kreistags verschwunden." Außerdem saß Liebentrau - zu ihrem Missvergnügen einmal mehr unter lauter Männern - am Runden Tisch des Landkreises, später wurde sie als Vertreterin des Neuen Forums sogar in den neuen Kreistag gewählt. Schockiert musste sie feststellen, dass dort schon viele CDU-Mitglieder aus dem alten DDR-Kreistag saßen. "Keinen hat mehr interessiert, ob die sich für die Wende engagiert haben." Am Ende der Legislaturperiode 1994 warf sie dann entnervt das Handtuch.
Dem Neuen Forum blieb sie bis zu seiner Auflösung treu. Doch in der neuen Republik fasst sie nicht Fuß: Ihre Ehe scheiterte, und es gelingt ihr nicht, sich im Beruf zu etablieren. Eine Vergessene eben, an die keine Tafel und keine Biografie erinnern wird.
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