Das Internationale Filmfestival Karlovy Vary gewann auch in diesem Jahr weiter an Profil. Das Interesse an kleinen Filmländern und die Betonung des Erzählkinos waren in allen Sektionen unübersehbar. Die Abwesenheit amerikanischer Spielfilme im Wettbewerb wirkte, so gesehen, fast schon programmatisch.
Vorbei sind die Zeiten, in denen Karlovy Vary ein »Cannes an der Teplá« werden wollte. Das Festival behauptete vielmehr einen eigenen, europäischen Zugang zur Filmwelt. Das Publikum zeigte sich von dem eingeschlagenen Weg begeistert. Mit knapp 140.000 Besuchern - nach 117.000 im vergangenen Jahr - konnte der elftägige Filmmarathon einen neuen Rekord verbuchen.
Das A-Festival mit dem jüngsten Publikum
Nicht nur der amerikanischen Filmzeitschrift Variety
nischen Filmzeitschrift Variety fiel dabei auf, wie jung das Publikum ist. Tatsächlich zeltete eine Vielzahl der BesucherInnen, die die Kinos tagtäglich mit Rucksäcken und Iso-Matten belagerten, auf Sportplätzen am Stadtrand. Der langjährige Vorsitzende der tschechischen Filmclubvereinigung Jan Kastner sieht einen Zusammenhang zwischen dem Run aufs Festival und dem beachtlichen Wachstum der Filmclubbewegung in den vergangenen Jahren. »Heute sind mehr als 120 Filmclubs tätig. Es gibt sie auch wieder in vielen Bezirksstädten.« Der Anteil der alternativen Filmdistribution an der Gesamtbesucherzahl liegt bei zwölf Prozent.Zu dem Erfolgsrezept gehörte nach Kastner aber auch das Entgegenkommen des Festivals. Studenten oder Mitglieder eines Film clubs konnten für einen minimalen Preis von 500 Kronen eine Akkreditierung für das ganze Festival mit fünf Eintrittskarten pro Tag bekommen. Der Preis einer normalen Kinokarte liegt dagegen nur selten unter 50 Kronen.Interesse an deutschen FilmenDas deutsche Publikum aus den nahen Grenzregionen Bayerns und Sachsens hat das Internationale Filmfestival aber erstaunlicherweise noch immer nicht entdeckt - oder lässt sich nach wie vor durch irrationale Befürchtungen von der Kurzreise abhalten. Der deutsche Film dagegen genießt nun schon seit ein paar Jahren die besondere Aufmerksamkeit des Festivals. Das heißt allerdings nicht, dass auch nur ein einziger der gezeigten Filme den Weg in die normale Kinodistribution finden müsste. Die tschechische Hitliste des vergangenen Jahres liest sich ernüchternd wie eh und je. Unter den ersten 50 Filmen finden sich neben den einheimischen Produktionen ganze vier europäische, darunter abgeschlagen auf Platz 38 Lola rennt.Die diesjährige Auswahl der deutschen Festivalbeiträge zeichnete sich dadurch aus, dass sie mehrheitlich um eine Frage kreisen, die Tschechen und Deutsche gleichermaßen beschäftigt, nämlich: Wie sieht das Leben nach der Wende 1989 aus? Wie kommen wir mit den großen und kleinen Folgen zurecht?Große TragikDie deutschen »Antworten« erzählen fast ausschließlich vom Scheitern. Wolfgang Scholz, geboren 1958 in Dresden, lässt mit seinem späten Spielfilm-Debüt Verlorene Flügel kein Auge trocken. Die Oma wird nach der Wiedervereinigung um die Wohnung gebracht, der Mann um die Frau, der Sohn um seinen Vater und so weiter. Alle lassen Federn. Oskar Röhler, Jahrgang 1959, erzählt in seinem Wettbewerbsfilm Die Unberührbare die Geschichte einer Dichterin, die an den Sozialismus glaubte und nach dem Fall der Mauer Selbstmord begeht. Biographisch betrachtet, versucht der Regisseur, filmisch zu ergründen, warum seine Mutter, die Schriftstellerin Gisela Elsner, diesen Weg ging.Das Motiv ehrt den Filmemacher. Aber des Weiteren ist doch gerade dieser Streifen ein Paradebeispiel dafür, wie sich Deutsche gern sehen, wenn sie einmal vom Mantelschlag der Geschichte getroffen werden. Falsche Bescheidenheit ist dann fehl am Platze. Es muss eine bis ins letzte Detail zerredete und beweihräucherte Tragödie sein. Darunter geht es nicht.Einen ganz anderen, vergleichsweise existentialistischen Zugang zum Scheitern präsentiert der 37-jährige Regisseur Jens Jenson in seinem s/w-low budget-Roadmovie Amerika: Ossi-Bergarbeiter Lanski verliert seine Arbeit, fährt auf Arbeitssuche Richtung Westen und begegnet dem Wessi-Gangster Travis, bevor er in Berlin ankommt. In Auf- und Abblende reiht sich eine Szene an die nächste. Keine ist schlüssig zu Ende erzählt. Die Konstellationen bleiben ebenso vieldeutig wie die Message. Statt Fakten oder Erklärungen liefert dieses Werk Möglichkeiten, Utopisches, Metaphysisches.Amerika ist bestimmt kein runder Film. Aber in ihm steckt eine beachtliche ästhetische Widerstandskraft. Er drängt dem Publikum keine Gefühle und Interpretationen auf. Jeder muss selbst draufkommen, was von der präsentierten Sprachlosigkeit zwischen Ost und West und dem im Titel zitierten Traumland Amerika zu halten sein könnte.Kleine LügenExemplarisch für den tschechischen Umgang mit den Jahren nach der Wende - wie mit der jüngeren Geschichte überhaupt - ist Alice Nellis Spielfilm-Debüt Ene bene. Wie es in Tschechien immer noch beliebt ist, steht die Familie des bekannten »kleinen Mannes« im Mittelpunkt des Geschehens. Die Studentin Jana besucht wegen einer Wahl ihre Eltern in der Provinzstadt. Sie übernimmt im Wahlausschuss den Platz ihrer Mutter, weil diese den kranken Vater pflegen muss.Die Welt, die diese Heimkehr auf Zeit zu Tage fördert, besteht aus lauter kleinen Lügen. Es ist nicht der Fleiß, der die Tochter auf den Anruf ihres verheirateten Professors warten lässt, sondern die Liebe. Es ist nicht die Krankheit, die den Vater ans Bett fesselt, sondern die Pflege durch seine Frau. Und es ist nicht die Freiheit, um die sich die Mutter sorgt, wenn sie die Wahlscheine ihrer Mitmenschen ausfüllt, sondern der Sieg ihrer alten Partei.Das alles stellt die junge Regisseurin nun nicht etwa an den Pranger. Ihr Ziel ist vielmehr, den Alltag genau zu beobachten und immer wieder ironisch zu brechen. Ganz nebenbei erfährt man auf diese Weise auch, gegen welche Unzulänglichkeiten die Politik momentan im Nachbarland zu kämpfen hat. Die Vergangenheit ist im Gegenwärtigen - wie könnte es auch anders sein - lebendiger, als einem lieb sein kann.Freispruch und VerdammnisDas Wundermittel Ironie bewahrt Filme wie Ene bene vor der Bedeutungsschwere vieler vergleichbarer deutscher Beiträge. Die Schlussfolgerung bedient ein Klischee: Während die tschechischen FilmemacherInnen dazu neigen, sich augenzwinkernd von der Geschichte freizusprechen, schicken sich die deutschen angesichts historischer Verfehlungen allzugerne stirnrunzelnd in die finsterste Verdammnis. Die schon oft besprochene und gerühmte deutsche Ausnahme, Leander Haußmanns Filmoperette Sonnenallee, fehlte im Programm von Karlovy Vary ebenfalls nicht.Drahomira Vihanova, Jahrgang 1930, hat mit ihrem Film Die Wanderungen der Studenten Peter und Jakub ein heiß umstrittenes Thema aufgegriffen, opferte sich für das Projekt jahrelang auf, um am Ende erleben zu müssen, wie der Gebrauch eines falschen Tonsystems ihren Streifen vor 1.200 Zuschauern, darunter Vaclav Havel und Vaclav Klaus, aus dem Wettbewerb warf. So ist das Leben.Es ist müßig zu überlegen, ob der tschechische Beitrag mit seiner authentischen Bilderwelt nun eine Preischance gehabt hätte oder nicht. Was den Film über den Tag hinaus bedeutsam macht ist, dass sich hier eine tschechische Regisseurin von Rang in die Diskussion um das Zusammenleben zwischen Tschechen und Roma einmischt und auf die Rechte der Minderheit pocht.Dabei macht sie es sich nicht einfach; weder was die Geschichte angeht, noch ästhetisch. Sie diskutiert nämlich in Gestalt ihrer zwei Protagonisten einen authentischen Fall: Die Freunde Peter und Jakub werden Zeuge, wie der Rom Imro Bongilaj seine Frau wegen Untreue ermordet, und entzweien sich darüber. Peter vertritt als Jurastudent das »weiße« Recht, Jakub als Philosoph Imros Kodex.Vihanova bietet keine intellektuelle Lösung an. Die unterschiedlichen Ansichten bleiben unüberbrückbar bestehen. Aber sie weckt ohne Zweifel das Bewusstsein dafür, dass eine - wie auch immer zusammengefundene - Mehrheit nicht über die Minderheiten hinweg regieren sollte. Ein aktuelles Thema, nicht nur in Tschechien.
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