Täglich dieselben Szenen: Frühmorgens lange Schlangen filmbegeisterter Jugendlicher vor den Kinokassen-Containern. Gedränge vor den Kinosälen. Stargäste in Stuttgarter Nobelkarossen auf Tour zwischen dem Kinohotel Thermal und dem Grandhotel Pupp am anderen Ende der Karlsbader Flaniermeile. Müde Rucksackgäste auf dem Weg zu ihren auf Fußballplätzen aufgeschlagenen Zelten.
Der Mix aus bezahlbarer Offenheit und Fünf-Sterne-Exklusivität ist dem Internationalen Filmfestival Karlovy Vary in diesem Jahr erneut gelungen. Es platzte mit über 120.000 Kinobesuchen in neun Tagen und 304 gezeigten Filmen aus allen Nähten. Festivalchef Jirí Bartoska brachte den Umbau einer Spielstätte zu einem Mini-Multiplex ins Gespräch.
Die
28;ch.Die Idee ist gut. Denn das Publikumsinteresse an Festivals und anderen Kinoevents wächst in Tschechien; nicht zuletzt dank der Vielzahl aktiver Filmclubs. Der Anteil der Festivals an der Gesamtzahl der Kinobesuche erreicht inzwischen fast fünf Prozent. Allerdings gehen Tschechen im europäischen Vergleich nicht gerade oft ins Kino, nämlich pro Einwohner nur einmal im Jahr. In Deutschland ist der durchschnittliche Kinobesuch doppelt so hoch. In Irland ist die Rate sogar ums Vierfache größer.Doch gilt das Interesse in Tschechien nun auch den eigenen Filmen? Die Antwort lautet: Jaja-neinnein. Ja, jedenfalls was die Produktion angeht. Dieses kleine Filmland brachte in den vergangenen Jahren durchschnittlich zwanzig Spielfilme zustande; die Mehrzahl mit Hilfe des Fernsehens und des staatlichen Kinematographie-Fonds. Das ist umso bemerkenswerter, als sich die Filmproduktion in vielen osteuropäischen Nachbarländern inzwischen im einstelligen Bereich bewegt.Die Begeisterung des Publikums für tschechische Filme hielt sich dagegen im vergangenen Jahr in Grenzen. Ihr Anteil an der Besucherzahl sank um fast zwei Drittel, von beachtlichen 30 Prozent im Jahr 2001 auf magere 13 Prozent 2002. In diesem Jahr scheint sich das Interesse aber wieder zu erholen. Was dieses Auf-und-ab bedeutet? Das Wohl und Weh hängt in Tschechien von mindestens einem Kassenhit der eigenen Produktion ab. Fehlt er - wie 2002 -, dann steht es schlecht ums tschechische Kino.Geschichte weichgespültGibt es ihn - wie in diesem Jahr - kommt Wind in die Segel. Diesmal lieferte den lokalen Kassenschlager wieder einmal der 36 Jahre alte Erfolgsregisseur Jan Hrebejk. Seine bittersüße Komödie heißt nach einem Kinderspiel Pupendo und erzählt, wie sich "typische" Tschechen nach der Niederschlagung des Prager Frühlings mitten in der Periode der sogenannten Normalisierung mit dem kommunistischen Regime arrangieren.Der geächtete Bildhauer Bedrich Mára etwa hat sich dem Suff ergeben und stellt zusammen mit seiner Frau Alena Sparschweine aus Ton her. Für den Hauptschuldirektor Míla Brecka und seine Frau und Kollegin Magda ist der Sozialismus dagegen eine Angelegenheit des Glaubens geworden, der jeden Tag aufs Neue bewiesen werden muss. Als sich der Künstler von den beiden Lehrern dazu überreden lässt, ein Mosaik für die Schulhalle anzufertigen, werden sie von Radio Free Europe plötzlich als Dissidentengruppe entdeckt. Das bestens eingespielte, angenehme Leben ist mit einem Schlag zu Ende.Voller Liebe für die "kleinen Leute" führt Regisseur Hrebejk mit vielen gekonnt auf Pointe geschneiderten Szenen sowohl die Fortschrittsgläubigkeit der Lehrerfamilie als auch die Leidensbereitschaft der Künstler ad absurdum. Er schmeichelt der wunden tschechischen Seele dabei allerdings mehr, als sie herauszufordern. Wie schon bei einem früheren Publikumsrenner des Regisseurs mit dem Titel Pelisky (Unser gemütliches Nest) stört schließlich der weiche Umgang mit der Historie. Die Zeit nach der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 verlangte den Menschen zweifellos mehr ab, als der liebliche, ja beschönigende Film zugibt.Auch Jan Kraus wendet sich mit seinem Spielfilm-Debüt Mestecko (Kleinstadt) dem liebsten tschechischen Filmthema zu: der eigenen Geschichte. Er erzählt, wie es vor der Sanften Revolution 1989 in einem unbedeutenden Landstädtchen zuging, was die Menschen in den Folgejahren mit dem Kapitalismus anzufangen wussten und wie eine Hoffnung nach der anderen zerstört wurde. Da gibt es den betrogenen Gewinnspieler, den überforderten Besitzer eines neuen Westautos, den bankrotten Hotelier, die sich gegenseitig niedermachenden Gemüsestände, die ruinierten Selbstmörder, nicht zu vergessen die ungewohnten Werbeflächen, die Sexangebote, die Spielhöllen ... Wer sich noch nie genauer mit dieser Weltecke beschäftigt hat, der kommt in diesem informativen Film auf seine Kosten. Aber wer den Umbruch miterlebt hat, für den bestätigt der Film nur ein bereits bekanntes Muster.Kleine LügenEinen philosophischen Zugang zur Geschichte sucht der Regisseur Ivan Vojnár, 61 Jahre alt. Die vier Helden in seinem halbdokumentarischen Film Lesní chodci (Waldläufer) haben nämlich eine Wahl getroffen. Sie kehren dem kommunistischem Regime den Rücken und schlagen sich als Gelegenheitsarbeiter durch. Was den Film spannend macht, ist, dass Vojnár nun nicht die staatlichen Zwangsmaßnahmen gegen die "Asozialen" ins Blickfeld rückt, sondern vielmehr ihrem Selbstverständnis nachspürt. Darin spielt zum Beispiel der Wunsch, der Monotonie der Arbeit zu entkommen, eine zentrale Rolle. Wichtig ist auch die Frage, was Freiheit bedeutet, wenn man sie sich ohne Unterstützung nicht mehr leisten kann, sich vor Familienpflichten drückt und eine Trinkerkarriere macht. Kurz gesagt: mit den biografischen Bruchstücken, dem Filmpatchwork aus Dokument, (Nach-)Spiel und Kommentar reizt Vojnar zum Widerspruch. Damit ist ihm, ästhetisch gesehen, viel gelungen.Ganz anders packt die 32-jährige Hoffnungsträgerin des tschechischen Kinos Alice Nellis zu. Sie beweist nach Ene bene mit ihrem zweiten Spielfilm Vy´let (Ausflug) erneut ihr Talent, den Alltag akribisch zu beobachten und ironisch zu brechen. Großmutter Valerie will die Urne mit der Asche ihres Sohnes in seine slowakische Geburtsstadt bringen. Die zweitägige Reise in Begleitung ihrer Schwiegertochter und deren zwei verheirateten Töchter gerät dabei zur gegenseitigen Abrechnung mit dem Vergangenen. Der Zustand des präsentierten familiären Beziehungsgeflechts stellt sich als brüchig heraus. Die kleinen Lügen lauern überall. Der Regisseurin Nellis gelingt es aber immer wieder, sie zu enthüllen und sogar im Gelächter aufzuheben. Nellis Botschaft? Das Erstarrte belastet das Lebendige mehr, als einem recht sein kann.Falsche AlternativeSo stolz die tschechische Kinematographie auch auf ihre Produktivität und ihr Publikum sein kann, einen wunden Punkt gibt es: Die Filme verkaufen sich nur selten ins Ausland. Gleichzeitig fällt es immer schwerer, Geld für neue Produktionen aufzutreiben.Kein Wunder, dass die zukünftige Orientierung zur Diskussion steht. Soll die Produktion weiterhin auf tschechische Themen, das einheimische Publikum und seinen spezifischen Humor setzen? Das sei ein Anachronismus, sagen viele. Oder soll sich die Produktion - zumal angesichts der wachsenden Zahl in Tschechien hergestellter Koproduktionen - am Weltmarkt ausrichten?Lokale Identität oder internationaler Erfolg - so lautet die vermutlich falsche Alternative. Der Weg zum internationalen Ruf fängt, jedenfalls was den kreativen Prozess angeht, in der heimischen Produktion an und wächst gegebenenfalls aus ihr heraus. Es ist schwer vorstellbar, dass ein junger Regisseur ein paar Schritte überspringen könnte, um im besten Fall dann doch gleich in Hollywood zu starten.