Vor ein paar Wochen erst musste das Kleisttheater in Frankfurt (Oder) schließen. Wieder ein Beispiel für den schleichenden Theatertod in strukturschwachen Regionen. Und für die Versäumnisse der Kulturpolitik. Warum es den Stadttheatern partout nicht gelingen will, kostengünstiger zu produzieren, versteht der Theatermann Hans-Joachim Frank eigentlich nicht. "Durch die Tarifsteigerungen wissen alle seit Jahren, dass sich keine Stadt im Osten das ganze Unternehmen Stadttheater leisten kann." Er gibt auch den diversen Rettungsversuchen von der Spartenstreichung bis hin zur Theaterfusion keine große Chance. "Die Stadttheater werden in den meisten Fällen einfach geschlossen werden müssen."
Seine Prognose sähe nicht ganz so düster aus, wenn zum Beispiel die Theater des Landes Brandenburg vor Jahren den Sprung in die Zukunft gewagt hätten. Frank: "Es wäre denkbar gewesen, die Theater zu privatisieren, aus dem Bühnenverein auszutreten, weil er jegliche Veränderung behindert, und Haustarife zu vereinbaren. Es wäre denkbar gewesen, den riesigen Apparat, der noch aus DDR-Zeiten stammt, abzubauen; das hieße auch, die sehr schöne, aber unbezahlbare Arbeitsteilung im technischen Bereich aufzugeben. Es wäre denkbar gewesen, auf Tournee zu gehen."
Diese Ideen sind nicht aus der Luft gegriffen. Im theater 89, das Hans-Joachim Frank gemeinsam mit Ostberliner Theaterleuten gründete, werden sie seit gut zehn Jahren entwickelt und ausprobiert. Das programmatische Ziel, so steht es in einer Selbstdarstellung aus dem Jahr 1994, war dabei von Anfang an, "eine freie und selbstbestimmte, dabei professionelle Alternative zum gewohnten Betrieb der Staats- und Stadttheater zu finden".
Die Erneuerer kamen von der kleinen, inzwischen ebenfalls geschlossenen, Bühne "Das Ei" im Friedrichstadtpalast, wie Gabriele Heinz und Heike Jonca aus dem Deutschen Theater oder wie Simone Frost, Jörg Mihan und Hans-Joachim Frank vom Berliner Ensemble. Frank hatte "einfach die Nase voll", als er schon 1987 am BE kündigte. Was diese Theaterleute miteinander verband, war der Wunsch, jenseits der verkrusteten Strukturen nach etwas Neuem zu suchen. So verschlug es sie zunächst in eine leere Plattenbau-Etage in Berlin Mitte, später auch nach Niedergörsdorf, siebzig Kilometer südlich der Hauptstadt. Im Ortsteil "Flugplatz" bot sich dort das "Haus der Offiziere" als Spielstätte inmitten einer sozial und kulturell besonders vielschichtigen Gegend an. Denn als die sowjetische Armee das weitläufige Militärareal mit Offizierswohnungen, Kasernen und Flugzeughallen 1992 verlassen hatte, wurden in den Wohnblöcken vor allem Aussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion untergebracht. Inzwischen sind es fast tausend Menschen, ein Siebtel der über viele kleine Gemeinden verstreuten Bevölkerung von Niedergörsdorf.
Was dem theater 89 vergleichsweise schnell einen anerkannten Platz in der Berliner Kulturszene und darüberhinaus verschaffte, war - neben der ebenso rabiaten wie zeichenhaften Ortswahl für die Bühne - das aus dem (ost-)deutschen Theaterschaffen kommende handwerkliche Können der Akteure und die bewusste, ja programmatische Auseinandersetzung mit der unmittelbaren Vergangenheit in Deutschland. Autoren wie Georg Seidel (Kondensmilchpanorama), Christian Martin (Vogtländische Trilogie), Christoph Hein und vor allem und immer wieder Oliver Bukowksi prägten das seither erspielte Bild von der Zeit im Osten nach der Wende. Hans-Joachim Franks sechste (!) Bukowski-Inszenierung Gäste bescherte dem Theater vor kurzem den mit 15.000 Mark dotierten Friedrich-Luft-Preis.
Der eigentliche, mit dem theater 89 verbundene Clou liegt aber noch auf einer ganz anderen Ebene. Der Erfolg dieses Theaters untermauert die These, dass viele unter den Stadtheatern in der bestehenden Form einfach überkommen sind und durch ein anders organisiertes (aus finanziellen und politischen Zwängen befreites), ästhetisch mehr als ebenbürtiges Tournee-Theater ersetzt werden könnten. Das Lehrstück um die Theater in Potsdam, Brandenburg und Frankfurt (Oder) thematisiert ja nicht nur das Kaputtsparen, sondern auch eine ruinöse Denkstarre. Was hat das theater 89 dem entgegen zu setzen?
Als Rechtsform für die beiden Standorte - der Etage in der Torstraße und dem HAUS in der Gemeinde Niedergörsdorf - hat man sich inzwischen für die prosaische GmbH entschieden. Das Ergebnis? Eine für freie Theatermacher ungewohnt ordentliche Buchführung und zugleich ein neues Gefühl der Verantwortung gegenüber der eigenen Existenz. Frank stellt dies durchaus erleichtert fest. "Wir sind ja richtig alte Theaterpferde, also Leute, die zwanzig Jahre Theater machten und Ende der achtziger Jahre merkten, dass es sich lohnt, sich selbst einen Kopf zu machen."
Das Konzept ist, kurz gesagt, Berlin und Brandenburg zu bespielen. Das klingt nicht gerade avantgardistisch. Was die Tourneen aber hervorhebt, das sind Stationen wie Strausberg, Netzeband, Boitzenburg, mithin völlig unbekannte Kleinstädte, richtige Dörfer, Äcker wo nur sporadisch oder gar nicht Theater gespielt wird. Nicht ganz gewöhnlich für ein professionelles Theater sind auch Spielorte in Gemeinde- und Ratssälen, in Kinos und in einer Vielzahl von Kulturhäusern. Dicker Profit ist dabei nicht zu erzielen. Frank schätzt jedoch den Kontakt mit dem lokalen Publikum: "Wir haben dort mit zwei- bis dreihundert Leuten immer sehr gut besuchte Vorstellungen. Das ist in Berlin gar nicht zu haben."
Entscheidend für das Ankommen in den ländlichen Gemeinden ist nach Franks Erfahrung die Mund-Propaganda. "Mit kleinen Kulturinitiativen, die eben auch mal Fördergelder vom Landkreis kriegen, kann man wunderbar zusammenarbeiten. Am wenigsten kooperativ und flexibel sind die alten Institutionen, die ihren Stiefel immer so weitermachen wollen." In Niedergörsdorf ist das theater 89 nach zwei Jahren so eingeführt, dass es pro Inszenierung mit wenigstens drei Vorstellungen zu je dreihundert Besuchern rechnen kann. Frank schätzt, dass davon ungefähr vierzig Prozent aus Berlin kommen und sechzig aus dem Ort und der näheren Umgebung.
Hans-Joachim Frank hat einen Traum: Er möchte "über eine große Kontinuität so viele Ansprechpartner im Land Brandenburg finden, um an eine Tournee mit zwanzig oder fünfundzwanzig Vorstellungen denken zu können. Mit dieser Planungssicherheit könnte man dann auch den Gemeinden gegenüber ein tolles Angebot aus unserem ganzen Repertoire machen."
Die Schließung von Stadttheatern bringt Frank diesem Traum paradoxerweise ein ganzes Stück näher. Den Kommunen stellt sich nämlich spätestens nach der Renovierung ihrer trockengelegten Kulturpaläste die Frage, wer die Immobilien bespielen solle. Frank: "Das wäre wirklich eine Perspektive, wenn wir zunehmend auch Stadttheater bespielen könnten. Sie sind zum Teil wunderbar. Wenn sie in einen Zustand gebracht würden, dass Technik da ist und die Häuser in Ordnung sind ..." Ein besonders gelungenes Beispiel ist für ihn die Restauration der Bauhaus-Bühne in Luckenwalde. "Die sind zu Recht richtig stolz auf ihr Theaterchen da!" Der Überraschungen kein Ende - versteckt sich doch, wie Frank berichtet, gerade in dem neu erbauten Kongresszentrum in Frankfurt (Oder) ein Theater mit allem Drum und Dran.
Auf Entdeckungsreise geht das theater 89 unterdessen auch in Berlin. So ist das Ensemble nicht nur im Hebbel-Theater oder in der Kulturbrauerei im Prenzlauer Berg präsent, sondern auch in der ehemaligen Kantine des Werkes der Firma Knorr-Bremse in Marzahn. Frank stolz: "Alle Theater schreien, in Berlin gebe es keine bezahlbaren Spielstätten. Ich kann nur sagen, es gibt sie. Man muss nur raus aus diesen Schienen, auf denen alles läuft, und sich darum kümmern."
Was ihn am Theater in der Vorstadt - der Name gefiele ihm - besonders reizt, ist einmal mehr die "Erarbeitung eines neuen Publikums": "Da wohnen unwahrscheinlich viele Leute, die nicht nach Mitte fahren, um dort ins Theater zu gehen. Erstens weil es unheimlich teuer ist, zweitens weil es weit ist und drittens weil sie nicht das Gefühl haben, dass sie das Theater dort betreffen könnte. Das heisst, man kann ihnen möglicherweise ein Angebot machen."
Nicht zuletzt der Präsenz in Berlin und Brandenburg verdankt das theater 89 die jährliche "Konzeptförderung" in Höhe von knapp 800.000 DM (vier Produktionen) durch den Berliner Kultursenat und die Finanzierung einer weiteren Produktion durch das Land Brandenburg. Anders als viele Stadttheater, die sich jahrelang mit der Verteidigung ihrer Besitzstände beschäftigen konnten, musste das theater 89 von Anfang an immer wieder seine Beweglichkeit unter Beweis stellen und die Lücken für sein Spielangebot finden. Dazu gehört auch eine gewisse Risikobereitschaft: "Wir spielen auch oft, wenn nicht alles abgedeckt ist. Wir sagen seit Jahren immer erst mal: Gut, wir spielen, und die Frage nach dem Geld wird sich möglicherweise irgendwann noch regeln."
Auf welche ästhetischen Erkenntnisse ist das theater 89 auf seinen Reisen gestoßen? Hans-Joachim Frank sieht sich vor allem in der Vermutung bestätigt, dass die Zuschauer überhaupt nicht auf Fernsehklischees, Operetten oder Musicals eingeschworen sind. Im Gegenteil: "Sobald man die Leute für das besondere Medium Theater interessiert hat, kann man ihnen eine Menge zumuten. Man kann sie mit ihren Problemen oder mit ihren eigenen Biografien konfrontieren. Sie sind überhaupt nicht zimperlich und können über sich selbst lachen."
Hochinteressant ist für ihn die unterschiedliche Wahrnehmung des städtischen und des dörflichen Publikums. "Die Leute auf dem Land denken anders über Dinge nach, zum Teil viel gründlicher als wir. In der Stadt kann man den Leuten leichter etwas vormachen, weil alles distanzierter genommen wird. Die Beliebigkeit ist größer." Besonders deutlich wird der Unterschied beim Verständnis der Metaphern aus den verschiedensten Theatertexten. "Sie greifen auf dem Land ganz anders als in der Stadt, weil sie oft selbst etwas mit dem Leben auf dem Land zu tun haben, also mit dem Feuermachen, dem Kornaussäen oder dem Ernten. Autoren wie Oliver Bukowski, die selbst vom Land kommen, schreiben wieder in dieser verwurzelten Sprache."
Umgekehrt bringt das theater 89 auf seinen Tourneen ein außergewöhnliches Interesse für das Publikum mit. Frank: "Die Leute halten diese Einstellung schon gar nicht mehr für möglich. Das heißt, sie fangen dann auch an zu reden, was sie sonst nicht tun oder nicht können, weil es niemand wissen will. Weil sehr viel von dem, was sie zu sagen haben, nur hinderlich ist in dem Prozess, der jetzt läuft. Und wenn jemand kommt, und sich das anhört, und wenn wir Stücke wie Bukowskis Gäste spielen, in denen sich solche Leute artikulieren, dann ist das schon eine Art besonderer Aufmerksamkeit, die die Leute zum Teil verblüfft."
Was das theater 89 - aus Sicht Hans-Jaochim Franks - im besten Fall leisten soll, das ist, Dinge besprechbar zu machen, über die man ansonsten nur schwer sprechen kann. Ist das Konzept bisher aufgegangen? Ja und nein. Frank kennt die ebenso einfache wie schwer einzulösende Voraussetzung zum Gelingen: "Man muss wirklich für sein Publikum da sein. Die Leute müssen wissen: Die sind die nächsten zehn Jahre auch noch da. Dann wird es irgendwie ernst."
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