Willst du auch eine?“ Sean, etwa 30 Jahre alt, graue Regenjacke, dunkle Wollmütze, hält schon wieder eine hellblaue Plastiktüte in der Hand. Seit drei Stunden steht er an der Tür des Capuchin Day Centers nicht weit vom Zentrum Dublins. Und noch immer kommen Menschen vorbei, die auf den kleinen Proviant angewiesen sind – den Laib Brot, den halben Liter Milch, das Paket Würfelzucker, die 80 Teebeutel, das Stück Käse. Knapp tausend Tüten hat Sean an diesem Morgen verteilt. Fragen stellt er keine. Wer vorbeikommt, kann in der Bow Street auf sein Deputat rechnen.
Auch hinter der nächsten Tür, wo ein geräumiger Speisesaal Schutz vor der Kälte bietet, fragt niemand nach dem Woher und Wieso. „Es ist für die Menschen schon schwer genug, an diesen Ort zu kommen“, sagt Bruder Kevin Crowley, „da wollen wir sie nicht auch noch mit Fragen demütigen“. Crowley hat vor über 40 Jahren das Kapuziner-Tageszentrum gegründet. Damals, so erzählt er, habe man Obdachlosen helfen wollen, die frühmorgens aus ihren Notherbergen flogen und auf der Straße standen. Immer um die 50 Besucher seien es gewesen, erinnert sich der kleine Mann mit Brille und weißem Kinnbart, ausnahmslos Männer. Heute hingegen kämen auch junge Leute, Frauen und Kinder. Ganze Familien seien darunter, Jungen in ihren Schuluniformen, die zu Hause nicht genug zu essen hätten. Manchmal würden auch Menschen versorgt, die vor kurzem noch Besseres gewohnt waren. Sie alle sitzen an der Bow Street neben den einsamen Alten, denen sich die Armut ins Gesicht gefressen hat.
„Innerhalb der vergangenen 18 Monate hat sich unsere Besucherzahl mehr als verdoppelt“, sagt Crowley, dessen Zentrum derzeit über 200 Menschen täglich mit einem Frühstück und bis zu 500 Bedürftige mit einem Mittagessen versorgt, gratis natürlich. Jeden zweiten Tag kommt ein Arzt vorbei, und wer will kann morgens duschen. Bruder Crowley kennt die Bedürfnisse der Menschen in Not. Und doch verblüfft ihn manchmal, wer da bei ihm auftaucht. Es gibt Leute, die nur deswegen in der Suppenküche an der Bow Street essen, weil sie sonst die Hypothek für ihre Häuser nicht bezahlen könnten.
Mehr Häuser als Haushalte
Bald werde alles noch viel schlimmer, glaubt Crowley. Nicht viel anders denkt auch Paul Joyce. Seit 20 Jahren arbeitet der Jurist bei den Free Legal Advice Centres (Flac), einem Netzwerk aus Rechtsberatern mit 60 Filialen im ganzen Land. Einen Ansturm wie im Moment habe er noch nie erlebt, meint Joyce in der Flac-Zentrale an der Lower Dorsett Street in Dublin. „Früher haben uns vorzugsweise Arbeitsmigranten, Asylsuchende und Sozialhilfeempfänger beschäftigt. Heute suchen Schuldner unseren Rat.“ Oft seien es junge Iren, die sich in den Boomzeiten einen Hauskredit aufschwatzen ließen, den sie nun nicht mehr bedienen können, weil sie ihren Job verloren oder ein schrumpfendes Gehalt verkraften müssen. „Wie soll jemand auf Sozialhilfeniveau Raten von 2.500 Euro im Monat schultern?“ – fragt Joyce.
Den Königsweg aus der Schuldenfalle kann Flac nicht bieten. Etwa 500 juristisch geschulte Freiwillige zeigen verzweifelten Hausbesitzern immerhin, wie sie zu ihrem Recht kommen können, das dank des Engagements der Organisation etwas stärker geworden ist. „Bis letzten Sommer konnte in Irland noch eingesperrt werden, wer Privatschulden nicht zu begleichen vermochte“, erinnert sich Joyce. Seit Anfang Januar seien nun Banken und Bausparkassen verpflichtet, mit säumigen Zahlern über eine Umschuldung zu reden. „Trotzdem stecken viele im Schlamassel. 2010 hat sich die Zahl derjenigen, die mit ihrer Hypothekenzahlung im Rückstand sind, auf 44.000 verdoppelt“, zitiert Joyce die jüngste Flac-Schätzung. „Rund 40.000 können nur einen Teil ihrer Zinsen zahlen, aber die Schulden nicht tilgen.“ – Über 80.000 Hauskredite mit einem Wert von rund 20 Milliarden Euro stehen somit auf der Kippe – ein Zehntel aller Hypotheken. Und es werden mehr. Ende Februar haben viele Kreditinstitute den Hypothekar-Zins um zwei bis drei Prozent erhöht, ein weiterer Schub steht ins Aussicht.
Für Pferde den Gnadenschuss
Paul Joyce kann sich noch gut an die armseligen Verhältnisse in den achtziger Jahren erinnern. Ihn selbst trieb damals die Jobsuche durch halb Europa. Dann aber begann die Ära des Keltischen Tigers: Ausländische Investoren strömten nach Irland, weil sie niedrige Steuern zu schätzen wussten. Die Insel bot einen Zugang zum EU-Markt und verfügte über billige, gut ausgebildete, englisch sprechende Arbeitskräfte.
Erstmals seit Jahrzehnten wanderten Ende der neunziger Jahre wieder Menschen ein, die Wohnraum suchten und sich den auch leisten konnten. Bald aber verselbstständigte sich der Boom. Banken, Bauunternehmer und Immobilien-Makler witterten ein riesiges Geschäft und warfen mit geborgtem Geld um sich. Innerhalb weniger Jahre stiegen die Hauspreise um das Vierfache. Und die Banken offerierten noch immer billige Kredite, als längst absehbar war, dass es mehr Häuser als Haushalte gab. Joyce: „Selbst intelligente Leute glaubten, der Immobilienboom würde ewig anhalten. ‚Lass doch dein Geld für dich arbeiten’, bekamen sie auf der Bank zu hören, so dass sich mancher ein zweites oder drittes Haus kaufte, um es zu vermieten.“
Kaum überraschend kollabierte der Markt. Gleiches widerfuhr der Baubranche, die für ein Fünftel aller Jobs sorgte. Die Arbeitslosigkeit schnellte 2008/09 von vier auf offiziell 15 Prozent, Wohnungsbesitzer brachten das Geld für ihre Kredite nicht mehr auf, Banken brachen zusammen, der Staat sprang als Retter in die Bresche.
„Keine andere Regierung wäre so idiotisch gewesen“, glaubt Joyce, „den Banken eine Generalgarantie von 450 Milliarden Euro zu gewähren. Mit einem Federstrich wurden aus privaten Schulden die des Staates. Und nun erfahren viele Iren, wie ihnen die Banken, die sie als Steuerzahler retten durften, das eigene Haus abnehmen.“
"Auch wir gehören jetzt zu den Armen"
Etwa 300.000 Häuser, Ferienwohnungen inklusive, stehen derzeit leer. 2.800 Geistersiedlungen zählt die Regierung – über das ganze Land verstreute, schnell hochgezogene Bauten, die verfallen, weil sie nie bewohnt waren. Zwischen diesen Ruinen findet man verlassene Baustellen oder trifft Familien, die als erste eingezogen sind und sich nachts – weil die Straßenbeleuchtung fehlt – mit Taschenlampen behelfen müssen. Wer will schon in offene Baugruben stürzen? Aus solchen Gegenden wieder wegziehen können die Erstbewohner kaum. Niemand kauft ihnen ihr Eigenheim ab, niemand will dorthin. Nicht auszuschließen, dass den Einsiedlern beim Spaziergang über Feld und Flur halbwilde Pferde begegnen – von Eigentümern ausgesetzt, die das Futter nicht mehr bezahlen können. Eine Weile schlagen sich die Tiere in der Natur durch, dann werden sie von Wildhütern oder der Polizei erlegt.
James Tierney hingegen setzt seine Tiere nicht aus. Er hat noch sein großes Haus, seinen Marmorkamin und die teuren Sitzmöbel. „Bis vor kurzem zählten wir zum gehobenen Mittelstand“, bemerkt der Bauunternehmer, dessen Firma sich auf das Gießen von Fundamenten spezialisiert hatte. Er verbuchte Großaufträge für Warenlager und Supermärkte, doch dann blieb ein Auftraggeber das Geld schuldig. 300.000 Euro Verlust ließen sich nicht einfach wegstecken – Tierney entließ seine zehn Beschäftigten und erklärt seither der Familie, dass „auch wir jetzt zu den Armen gehören“. Hin und wieder würden ihm Kleinaufträge angeboten, aber selbst die könne er nicht annehmen. „Wer für mich arbeiten soll, der will zuerst Geld sehen.“ Er lote alle Möglichkeiten aus, wieder auf die Beine zu kommen, sagt der Mittvierziger. Es gebe viel Land im Süden der Grafschaft Monaghan, aber Rinderzucht zum Beispiel komme nicht in Frage. „Dieses Gewerbe wird vom Rinderbaron Lerry Goodman und den drei Großmolkereien beherrscht – da hast du absolut keine Chance.“
Lerry Goodman, der größte Empfänger von EU-Subventionen und einer der reichsten Männer Irlands, ist mit den großen Parteien eng vernetzt; er kontrolliert Schlachthöfe und Preise. „Augenblicklich“, resigniert James Tierney, „ist es einfach so, dass bei uns die Kerze von beiden Enden her abbrennt. Wenn das Ersparte aufgebraucht ist, werde ich wohl auswandern müssen.“ Kein einfacher Gedanke für einen Familienvater in seinem Alter, der für sechs Kinder sorgen muss.
Inzwischen verlassen pro Woche rund tausend, meist junge und gut ausgebildete Iren die Insel. Vom Zwang zur Auswanderung und von Sklavenarbeit sprechen auch die etwa 3.000 Krankenpflegeschüler, die kurz vor der Parlamentswahl durch Dublin ziehen. „No pay, no way!“ wird skandiert. Und: „They say cut back, we say fight back.“ Die Wut ist ihnen anzusehen, auch die Freude darüber, dass endlich einmal etwas passiert auf Dublins Straßen. Die Regierung hat erklärt, den Lohn kürzen zu wollen, der ihnen bisher im vierten Ausbildungsjahr zustand. Weil die künftigen Krankenpfleger am Ende ihrer Lehrzeit voll arbeiten, wurden dafür 80 Prozent des branchenüblichen Gehalts gezahlt. Dieser Satz soll ab Januar 2012 auf 60 Prozent sinken, dann auf 40 und 2015 auf null Prozent. Das heißt, am Ende würden sie für ihre 36-Stunden-Schichten im Hospital keinen Cent mehr sehen.
Es gibt also doch Proteste gegen die unverschämten sozialen Strafmandate, mit denen der Staat seine Bürger statt der Banken schröpfen will. Aufbegehren und Unmut haben sich auch im Ergebnis der vorgezogenen Parlamentswahl vom 25. Februar niedergeschlagen, die der bisher regierenden Fianna Fáil eine historische Niederlage bescherte (s. Glossar). Zum ersten Mal in der Geschichte des erst 1921 entstandenen irischen Staates ist eine Allianz dezidiert linker Kandidaten ins Parlament gewählt worden.
Pit Wuhrer schreibt seit Jahren für den Freitag über Großbritannien, Irland und Nordirland
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