Briten lieben Underdogs

Wahl in London Die letzte Schlacht des Roten Ken

Seit acht Jahren regiert der Labourlinke Ken Livingstone die britische Hauptstadt und hat fast alles richtig gemacht. Dennoch könnte er die Bürgermeisterwahl am 1. Mai verlieren - gegen einen reaktionären und nicht selten rassistischen Hanswurst.

Sein alter Elan ist dahin, seine frühere Frechheit verflogen, sein Witz kommt kaum noch an. Und wenn er - wie vor ein paar Tagen - seinen konservativen Gegner verspottet, hat der schlagfertige Boris Johnson oft die Lacher auf seiner Seite. Er habe in seinen acht Amtsjahren viele schwierige Entscheidungen treffen müssen, sagte Ken Livingstone auf einem Podium im Bürodschungel von Canary Wharf, dem zweiten Zentrum des britischen Finanzkapitals. Sein Hauptkonkurrent, den er für einen überaus unterhaltsamen Menschen halte, hätte bisher hingegen nur eine Frage beantworten müssen: Wohin gehe ich nach der Sitzung mit meinen Leuten zum Lunch?

"Das war gar nicht so einfach" - konterte Johnson - "aber immerhin habe ich Führungsqualität bewiesen". Das Publikum johlte, die dezent gekleideten Bank- und Börsenmanager führten sich auf wie eine Horde ausgelassener Schulkinder, ihr Boris hatte schon wieder gewonnen.

So geht das seit Wochen. Wann immer die beiden Kontrahenten aufeinander treffen - meist ist auch der ehemals hochrangige Polizeioffizier Brian Paddick dabei, der für die Liberaldemokraten kandidiert -, klopft Johnson seine Sprüche. Und Livingstone, der schon so viel ausgefochten hat, der Margaret Thatcher, Tony Blair und Gordon Brown die Stirn bot, rudert mit aller Kraft dagegen. Er argumentiert mit seiner Kompetenz, liefert Fakten, verweist auf seine Erfolge - und wirkt doch müde und manchmal auch blasiert. Er, der ewige Rebell und Außenseiter, ist Teil des Establishments geworden. Und das macht ihm zu schaffen.

Vorsprung für den Exzentriker

Die meisten Londoner lieben - wie fast alle Briten - Underdogs. Aber sie mögen eben auch so einen wie Boris Johnson. Einen Mann, der sich bisher vor allem durch konservative, manchmal reaktionäre und rassistische Kommentare hervorgetan hat. Der Schwarze "Negerlein mit dem Melonenlächeln" nennt und den Islam für "die bösartigste sektiererische Religion der Welt" hält.

Viel vorzuweisen hat Johnson nicht. Er genoss eine privilegierte Ausbildung, lernte (wie David Cameron, der konservative Oppositionsführer) in der Eliteschule Eton, studierte in Oxford und arbeitete danach als Journalist - zuerst bei Lokalblättern, dann bei der Times, die ihn aber feuerte, weil er ein Zitat gefälscht hatte, anschließend beim nicht minder konservativen Daily Telegraph und zuletzt als Chefredakteur des reaktionären Magazins Spectator.

Aufgefallen war er allenfalls durch einen Leitartikel im Spectator, der 2004 der Liverpooler Bevölkerung eine "zutiefst unattraktive Psyche" zuschrieb; sie bade "in Selbstmitleid" und würde durch ihre Anspruchshaltung gegenüber dem Staat den Niedergang der Stadt beschleunigen. Das war selbst dem damaligen Tory-Chef Michael Howard zu viel: Johnson, mittlerweile Unterhausabgeordneter der Konservativen, musste sich in Liverpool entschuldigen.

Und so einer hat nun gute Chancen, die Bürgermeisterwahl zu gewinnen. Dass er keine Verwaltungserfahrung besitzt, bestreitet Johnson nicht - "aber das", sagte er vor kurzem, "hatten Margaret Thatcher und Tony Blair auch nicht, als sie in die Downing Street 10 gewählt wurden". Schon wieder ein Punkt für den Mann, der sich selbst gern einmal als "Clown" bezeichnet.

Die von konservativen Medien in Auftrag gegebenen Meinungsbilder sehen Boris Johnson mit zehn Prozent deutlich vor Ken Livingstone; der linksliberale Guardian gibt dem Konservativen zwar nur ein Prozent Vorsprung, doch rechnet auch er mit einem Kopf-an-Kopf-Rennen. Andere Umfrage sehen zwar Livingstone in den ärmeren Quartieren weit vorn, vermelden aber, dass dort nicht einmal 30 Prozent überhaupt abstimmen wollen. Der Amtsinhaber, der seit Jahrzehnten wie kein anderer Lokalpolitiker gegen Rassismus und Unterdrückung ankämpft und auf vielen Anti-Irakkriegs-Meetings spricht, kann offenbar nicht einmal mehr Minderheiten wie die rund 500.000 stimmberechtigten Muslime mobilisieren.

Was lief da schief? Warum favorisiert eine Mehrheit der Bevölkerung einen 44-jährigen Exzentriker, der den Klimaschutz für eine Nebensache hält und wochenlang kein anderes Thema fand als die Wiedereinführung der alten Routemaster-Doppeldeckerbusse? Livingstone hatte diese Fahrzeuge, auf deren offene Plattform am Heck man aufspringen konnte, abgeschafft und rollstuhlgängige Gelenkbusse eingeführt.

Mühlstein Labour

"Das Hauptproblem für Ken ist New Labour", sagt Tony Benn, der 51 Jahre als Labour-Abgeordneter im Unterhaus und lange Zeit im Kabinett saß. "Er wird für die katastrophale Politik der Regierung mit verantwortlich gemacht, obwohl er dafür nichts kann. Die hängt ihm wie ein Mühlstein um den Hals." Viele lasten Premier Gordon Brown - nicht ganz zu Unrecht - die aktuelle Finanzkrise (die Londoner City rechnet mit bis zu 13.000 Entlassungen) und die Erschütterungen auf dem Immobilienmarkt an. Die traditionelle Labour-Kientel befindet sich ebenfalls in heller Aufregung. Die Lebensmittelpreise schnellen in die Höhe, Postämter sollen geschlossen werden, und dann hat Browns Kabinett vor Wochen eine Verdoppelung der Steuern für Geringverdienende beschlossen - um Steuernachlässe für Reiche und Firmen zu finanzieren.

All dies wird auch Livingstone angekreidet, der inzwischen wieder für eine Labourpartei antritt, die mehrheitlich den Militäreinsatz im Irak und in Afghanistan befürwortet. Doch Browns Politik ist nicht der einzige Makel des Roten Ken, wie Livingstone vor kurzem noch genannt wurde.

Wen immer man in diesen Tagen auch befragt: Eine Meinung zum Bürgermeister haben alle. Mehmet Berker zum Beispiel, ein türkischstämmiger Architekt, lässt über seinen Ken nichts kommen: "Er hat den öffentlichen Verkehr gerettet, mit den Erlösen aus der Straßenmaut das Bussystem ausgeweitet und modernisiert und Travelcards für alle Verkehrsmittel eingeführt." Natürlich werde er ihn wiederwählen. Dass Livingstone die Maut für benzinschluckende Geländewagen auf 25 Pfund pro Tag (etwa 30 Euro) anheben und 500 neue Hybrid-Busse einführen will, hält er für eine ausgezeichnete Idee.

Neil Stockwell hingegen beklagt genau dies: Er könne ja nicht einmal mehr ins Stadtzentrum fahren, sagt der Händler aus dem Osten von London. Die Straßenmaut spaltet die Bevölkerung - auf der einen Seite die Nutzer des öffentlichen Verkehrs, auf der anderen die Autofahrer; hier die Stadtbewohner, dort die Wohlhabenderen aus den Vororten. So gesehen ist die Wahl auch eine Art demokratischer Öko-Test: Wie viele sind bereit, Einschränkungen hinzunehmen? Boris Johnson tourt bei seinem Wahlkampf vorzugsweise durch die besseren Viertel.

Auch andere Faktoren spielen eine Rolle. Die Medien zum Beispiel: Londoner Lokalzeitungen wie der Evening Standard und die Gratisblätter Metro, Lite und London Paper - sie hassen Livingstone und seine Politik. Für sie ist er ein Antisemit, weil er den früheren israelischen General und Premier Ariel Sharon wegen der Massaker in den palästinensischen Flüchtlingslagern Sabra und Shatila (1982) einen Kriegsverbrecher nannte. Für sie ist er Terroristenfreund, weil zu seinen Unterstützern einer zählt, der wiederum einen kennt, der die Motive palästinensischer Selbstmordattentäter für nachempfindbar hält. Der Evening Standard machte daraus sogar die Plakatzeile: Islamischer Extremist betreibt Kens Wahlkampagne!

Alle Wähler haben am 1. Mai zwei Stimmen. Die erste für den Kandidaten ihrer Wahl. Sollte der, was absehbar ist, nicht auf Anhieb über 50 Prozent erzielen, wird ihm oder ihr die zweite Präferenz all jener zugeschrieben, die für den Liberalen Paddick, für die Grüne Sian Berry oder Lindsey German von der Linken Liste stimmen. Oder für den Kandidaten der neofaschistischen British National Party, der alle aufgerufen hat, mit ihrer Zweitstimme den konservativen Kandidaten zu wählen, was Johnson dankbar annahm.

Entscheidend ist also, wie viele Livingstone ihre zweite Stimme geben. Da zögern noch manche. Dass sich der Rote Ken für weitgehende Polizeibefugnisse ausspricht und Londons Polizeichef Ian Blair nach dem Staatsmord an Jean Charles de Menezes (der brasilianische Staatsangehörige wurde nach den Londoner Anschlägen 2005 von der Polizei erschossen) deckte, kreidet ihm vor allem die Linke an. Er sei ein Kontrollfreak, der für immer mehr Videokameras im öffentlichen Raum plädiert, sagen viele, die ihm - wie die Medien - zugleich vorwerfen, dass er seine Mitarbeiter und Berater nicht an der kurzen Leine führt und deren Geschäftsgebaren nicht genügend überwacht.

Angst vor dem eigenen Mann

Dass die Wahl zu einem Personality-Contest, zu einer Art Schönheitswettbewerb zwischen den Kandidaten à la USA geriet (bei dem politische Inhalte in den Hintergrund treten), ist nicht Livingstones Schuld. Er hat die Londoner Personenwahl von Anfang an abgelehnt.

Wie ausschlaggebend aber die Person ist, zeigen die Auftritte von Boris Johnson. Der Mann mit dem losen Mundwerk wurde unter die Kuratel des erfahrenen PR-Managers Lynton Crosby gestellt, der für den erzkonservativen australischen Politiker John Howard drei fremdenfeindliche Wahlkämpfe gemanagt hatte. Crosby verpasste Johnson einen Maulkorb - und hofft, dass sein Zögling keinen Fehler macht. Das hofft auch Oppositionsführer David Cameron. Sollte Johnson die Wahl gewinnen, hätte er bei der nächsten Unterhauswahl leichtes Spiel. Besser geschulte, erfahrenere Konservative sind sich da nicht so sicher. Sollte Johnson triumphieren, sagen sie hinter vorgehaltener Hand, werden die Londoner Verwaltung und wir bald zum Gespött im ganzen Land.

Schon deswegen, glaubt Tony Benn, "wird sich Livingstone am Ende noch durchsetzen". Er könne sich nicht vorstellen, dass einer, der so vieles richtig gemacht habe, verliert. Falls doch, stehe Johnson eine harte Zeit bevor, "dann werden sich die Londoner wehren". So leicht gäben sie das, was sie in den vergangenen Jahren gewonnen hätten, nicht auf.

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