Die Gunst der Stunde

Wahlen in Grossbritannien Der 5. Mai dürfte für Labour erneut die Mehrheit bringen. Doch hoffen viele, dass danach manches anders wird

In wohl jedem anderen europäischen Land hätte die Schließung eines so renommierten Unternehmens einen Proteststurm entfacht und die Parteien unter großen Druck gesetzt, besonders vier Wochen vor einer Parlamentswahl. In Britannien jedoch blieb der große öffentliche Aufschrei aus: MG Rover, das letzte Autowerk in britischem Besitz, ging in Konkurs, aber außer den 5.000 unmittelbar betroffenen Arbeitern, den 20.000 Beschäftigten in Zulieferbetrieben und ihren Gewerkschaften scherten sich nur wenige um das Ende einer Firma, die einst der Stolz einer Industrienation war. Sicher, Premier Blair reiste mit Schatzkanzler Brown sofort zu einem Fototermin vor das Werk Longbridge in Birmingham, auch die Medien berichteten kurz über den absehbaren Verlust von 25.000 Arbeitsplätzen, aber viel mehr passierte nicht.

Die Labour-Regierung habe sich schon um Rover bemüht, sagt Eric McDonald, Sekretär der Gewerkschaft TGWU in Birmingham, "sie hat potenziellen Investoren hohe Überbrückungskredite in Aussicht gestellt und den Arbeitern eine Woche lang den Lohn bezahlt." Ein neues Gesetz garantiere den Beschäftigten sogar einen Großteil ihrer Rente (bisher verloren bei ähnlichen Pleiten die Beschäftigten auch ihre Pensionsansprüche). Aber die gleiche Regierung, sagt McDonald, "wirbt in anderen Ländern mit tiefen Löhnen und den schlechtesten Arbeitsgesetzen in der EU."

Unter Tony Blair ist Britannien endgültig zum Billiglohn-Dienstleister mit rechtlosen Gewerkschaften verkommen. Und zu einem Land, in dem der Unterschied zwischen arm und reich größer wurde als sonst irgendwo in der EU (von Griechenland und Portugal abgesehen), in dem öffentliche Einrichtungen zerfallen, Millionen von Kindern in Armut heranwachsen, allzu flexible Arbeitskräfte in unsicheren, überfüllten Verkehrsmitteln von einem Job zum nächsten hetzen, und die Gesellschaft auseinander fliegt. Ein Land, in dem Obdachlose wegen Bettelns eingesperrt werden und in dem verhältnismäßig mehr Menschen in Gefängnissen sitzen als in jedem anderen europäischen Staat.

Und doch stellt sich nun die Regierung Blair ein Jahr früher zur Wahl als es notwendig gewesen wäre. Offenbar wollen der Regierungschef und seine Berater - sie spielen eine viel größere Rolle bei Entscheidungen als die Labour-Fraktion und die Parteigliederungen - die Gunst der Stunde nutzen. Die Konservativen befinden sich als größte Oppositionspartei in einem erbärmlichen Zustand und flüchten sich immer weiter in die kleinbürgerlich-rassistische Ecke, vom fehlenden Charisma eines Parteichefs wie Michael Howard ganz zu schweigen.

Außerdem verbucht die Ökonomie Zuwachsraten, auf die Länder wie Frankreich und Deutschland nur neidisch sein können. Der Konsumboom scheint ungebrochen und beruht ein gut Teil auf dem phänomenalen Anstieg der Immobilienpreise, der es den vielen Wohnungs- und Hauseigentümern erlaubt, immer wieder neue Kredite aufzunehmen. In Kilburn im Nordwesten von London zum Beispiel stiegen die Wohnungspreise in den zurückliegenden 15 Jahren um das Vier- bis Fünffache. Diese Blase aber, da sind sich alle Experten einig, könnte demnächst platzen. Und ein Teil der Dienstleistungsjobs, die dank des Sprachvorteils in Britannien entstanden sind, wandert derzeit wieder ab: Immer mehr Callcenter werden nach Indien verlegt.

Dennoch setzt Tony Blair ganz auf die Wirtschaft. Gordon Brown sei wohl "der beste Schatzkanzler der letzten 100 Jahre", lobte er seinen parteiinternen Widersacher zu Beginn des Wahlkampfs. Damit band er nicht nur Brown, den die Parteibasis im Unterschied zu Blair noch für einen Sozialdemokraten hält, sondern auch die Partei selbst in seine Kampagne ein. Wir kümmern uns um die Armen, wir investieren in die Gesundheit, wir unternehmen etwas gegen den Hunger in Afrika, lautet die Botschaft, denn dem Premier ist nicht entgangen, dass sich viele loyale Aktivisten von der Partei verabschiedet haben.

Auf den ersten Blick kann die Regierungspartei kaum verlieren. Sie gewann bei der letzten Wahl 419 der insgesamt 659 Sitze; die Torys müssten 158 Sitze hinzu gewinnen, um regieren zu können - das erscheint kaum denkbar. Andererseits hängt Labours Mehrheit im Unterhaus von Wahlkreisen ab, in denen die Partei 2001 nur bis zu 5.800 Stimmen mehr bekam als der Kandidat der nächststärksten Oppositionspartei (Konservative, Liberaldemokraten, schottische Nationalisten). Sollte Labour in all diesen Wahlkreisen verlieren, wäre die Mehrheit weg.

"Die Partei der Nichtwähler ist unser größter Gegner", fürchtet der ehemalige Außenminister Robin Cook. Bei Labours erstem Sieg 1997 lag die Wahlbeteiligung noch bei 71 Prozent, 2001 war sie bereits auf 59 Prozent geschrumpft, 2005 könnte sie auf knapp über 50 Prozent sinken. Nach einer Studie der Wahlkommission glaubt nur noch ein Drittel der Bevölkerung, dass eine Stimmabgabe darüber entscheidet, wer das Land wie regiert.

Kein anderes Thema hat die Briten seit 2003 so sehr beschäftigt und gespalten wie Blairs Rolle beim Krieg gegen den Irak. Dass er das Parlament und die Öffentlichkeit belogen hat, steht für die meisten außer Frage. Allerdings stecken die Kriegsgegner bei der jetzigen Wahl in einem Dilemma: Sie können ja nicht über eine Partei und deren Kurs entscheiden, sondern aufgrund des Majorzsystems nur über einzelne Wahlkreisabgeordnete. Votieren sie für Labour-Kandidaten, wird Blair dies als nachträgliches Plazet für seinen Kriegskurs interpretieren. Stimmen sie für die Liberaldemokraten, würden sie auch deren rechtskonservative Sozialpolitik gutheißen. So bietet sich nur den Wählern im nordenglischen Wahlkreis Sedgefield die Gelegenheit, einen Kriegstreiber direkt abzuwählen. Dort tritt der unabhängige Kandidat Reg Keys, dessen Sohn Tom im Irak-Krieg starb, gegen den Labour-Abgeordneten Tony Blair an.


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