Nordirland Bombenalarme, Brandsätze, Todesdrohungen: Noch scheint der Friedensprozess auf der Insel trotz der Zwischenfälle stabil, doch unter der Oberfläche gärt es
Es ist Abend, der Regen hat aufgehört. Der Springfield Park schließt zwar, aber für die Jugendlichen ist der Zaun kein Hindernis. Colin sitzt mit ein paar Freunden auf einer Gartenbank. Kurz geschorene Haare, helle Kapuzenjacke, vielleicht 17 Jahre alt. Natürlich sei er ein Republikaner, sagt Colin, „aber ein richtiger!“
Was ist das? „Na, ein Dissident. Continuity IRA, Real IRA, so was.“ Und warum? „Weil die noch wirklich kämpfen und nicht aufgegeben haben. Hast du schon mal was von den irischen Freiheitskämpfern gehört?“ Dann, fast übergangslos, fragt er: „Willst du Ecstasy? Ich habe Stoff dabei.“ Und nennt auch gleich den Preis: „Six for a tenner“, sechs Stück für zehn Pfund. Coli
fund. Colin kommt von der irisch-nationalistischen Seite der Springfield Road im Westen von Belfast. An dem Hügel, der sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite hochzieht, wohnen die anderen, die unionistischen Protestanten, die ebenfalls in Sozialwohnungen leben.Nicht viel – von ein paar Statistiken abgesehen – verbindet die katholischen und protestantischen Familien in dieser Geggend: Auf beiden Seiten liegt die Arbeitslosigkeit bei rund 60 Prozent, hüben wie drüben ist es schon die dritte Generation, die ein solches Schicksal erträgt. Die Hoffnung, dem zu entkommen und ein menschenwürdiges Auskommen zu finden, grenzt an Selbstbetrug.Trennt Protestanten und Katholiken in sozialer Hinsicht wenig, so in politischer alles: Die einen wollen im Vereinigten Königreich bleiben, die anderen sehnen sich nach einem vereinten Irland, die einen appellieren an London, die anderen an Dublin. Sie misstrauen einander, manche hassen sich – die Mauer zwischen ihnen wächst noch immer oder schon wieder. In Belfast hat sich seit dem Friedensabkommen von 1998 die Zahl der „peace lines“ genannten Zäune zwischen den beiden Gemeinschaften verdoppelt; die meisten sind heute so hoch, dass selbst olympiareife Wurfkraft kaum ausreicht, einen Stein von der einen auf die andere Seite zu schleudern. Aber kann die soziale Depression die Ereignisse der vergangenen Monate erklären? Hat es in den Arbeitslosenghettos, in denen der Bürgerkrieg bis 1994 ausgetragen wurde, nicht schon immer Armut und Ausgrenzung gegeben?Sie haben sich kaufen lassenWas in Nordirland geschieht, erreicht nur selten die Außenwelt. Es sei denn, Anschläge sorgen für Schrecken und Entsetzen, wie am 7. März, als in Antrim Mitglieder der Real IRA zwei britische Soldaten erschossen, die einen Pizza-Lieferdienst bestellt hatten. Oder zwei Tage später, als ein Kommando der Continuity IRA (CIRA) in Craigavon einen nordirischen Polizisten umbrachte. Diese Attentate kamen nicht aus heiterem Himmel. Von Mitte März bis Mitte April zählte die nordirische Tageszeitung Irish News 36 Zwischenfälle: Bombenalarme, die das öffentliche Leben blockieren; Überfälle; gewaltsame Fahrzeugentführungen; Brandanschläge auf Einrichtungen des militant-protestantischen Oranier-Ordens und auf Wohnungen von Abgeordneten der ehemaligen IRA-Partei Sinn Féin; Schüsse auf Polizeistationen.Hält der Friedensprozess noch, den eine Mehrheit der Nordiren 1998 in einem Referendum guthieß und der die großen Parteien zu einer Koalition verpflichtet, in der mittlerweile die Democratic Unionist Party (DUP) des Predigers Ian Paisley und die ehemalige Führung der IRA den Ton angeben? Im Moment scheint er trotz der vielen Zwischenfälle stabil. Doch unter der Oberfläche gärt es besonders auf republikanischer Seite. Mittlerweile, so die Polizei, sei sogar das Leben des stellvertretenden Regionalpremiers Martin McGuinness in Gefahr. Er war einst Stabschef der IRA.Offenbar ist der von London und Dublin gesteuerte Friedensprozess ganz unten nie angekommen. Die Friedensdividende, von der alle sprachen, floss in Shopping-Malls, Kongresshallen und neue Hotels.„Es wächst eine neue Generation heran“, sagt einer, der nicht mit Namen zitiert werden will, weil er zuletzt mehrmals festgenommen wurde. Bisher hätte die republikanische Jugend Sinn Féin stets unterstützt, „das aber ändert sich. Für immer mehr sind die heute Teil des Establishments.“ Die Provos (so werden die Ex-IRA-Kämpfer und Sinn-Féin-Aktivisten genannt; siehe unten) stünden nun auf Seiten des britischen Staates: „Sie haben sich kaufen lassen.“Der Mann aus der Grafschaft Fermanagh sieht nicht danach aus, als würde er demnächst in den Krieg ziehen: Er ist Anfang 50, recht beleibt, leidet unter Kurzatmigkeit und gilt als Sprecher von Republican Sinn Féin (RSF), der ältesten Dissidentenorganisation. „Wofür haben wir Republikaner denn ab 1969 gekämpft? Sicherlich nicht für eine ‚Gleichheit in der Wertschätzung‘, wie die Provos behaupten, sondern um die britische Herrschaft in Irland zu beenden.“ Markige Sprüche, die wie Parolen aus anderen Zeiten klingen, und doch finden sie wieder Gehör. „Noch unterstützt nur eine kleine Minderheit den republikanischen Kampf“, gibt der RSF-Matador zu, aber das könnte sich ändern: „Wenn der Staat weiter repressiv reagiert, wächst die Zustimmung für uns.“ Er sagt das gelassen wie einer, der die Geschichte hinter sich weiß.Die alten Ziele vergessen Tommy McKearney, Direktor der Gefangenenhilfe Expac, die inzwischen Konfliktberatung betreibt, kennt die Stimmung in den republikanischen Vierteln: Viele seien vom Friedensprozess enttäuscht, weil die Gewalt der nordirischen Klassengesellschaft die des britischen Staates ersetzt habe, sagt das ehemalige IRA-Mitglied. Die Provos würden das Elitedenken nicht los, sie glaubten immer noch, befehlen zu können wie damals im Krieg, seien aber nun zu einer Mittelstandspartei geworden.Wie sehr Sinn Féin den Kontakt zur Basis verloren hat, illustriert er an zwei Beispielen: Im August 2008 hätten Jugendliche in Bellymena Material für ein Freudenfeuer gesammelt, wie das im Katholiken-Viertel Dunclug seit Jahrzehnten üblich sei. Sie erinnern damit an die Internierungen von 1971, als die britische Armee wahllos Verdächtige verhaftete und jahrelang ohne Anklage festhielt. „Der Scheiterhaufen war klein, gerade acht Meter hoch, die Kids betrinken sich und randalieren ein bisschen, wie jedes Jahr“, erzählt McKearney, „dann aber schritten Sinn-Féin-Abgeordnete ein, besorgt um ihre Reputation als Friedensstifter, und zogen den Haufen auseinander – bis sie von Mitgliedern der Real IRA gewaltsam gestoppt wurden. Die sind jetzt in Dunclug die Helden.“ – Eine andere Episode: In der Stadt Armagh wehrte sich ein Quartier lange gegen die Modernisierung eines Stadions des irisch-konservativen Gälischen Sportverbands GAA. Neue Flutlichtanlage, mehr Spiele, mehr Verkehr, mehr Bierdosen: Das wollten die Bewohner verhindern und wurden dabei von den örtlichen Sinn-Féin-Räten unterstützt, bis sich die Sinn-Féin-Führung aus wahltaktischen Erwägungen mit dem GAA verbündete. Seither stelle Sinn Féin die bezahlten Ordner bei den Spielen, sagt McKearney.Es ist immer wieder die gleiche Geschichte von bewegten Militanten, die Frieden schließen, vom Gegner eingebunden werden, Karriere machen, respektabel sein wollen und alte Ziele vergessen. Das Phänomen ist nicht neu, schon gar nicht in Irland, wie die vielen Risse in der republikanischen Bewegung zeigen. Auf der Grünen Insel findet sich dabei immer jemand, der eine Pistole ausgräbt. „Viele Jugendliche, die für sich keine Chance sehen, eifern jetzt den Alten nach, die ihr IRA-Dasein früher wie eine Monstranz vor sich hertrugen. Sehr schade, diese Jungen opfern sich für eine Idee, deren Zeit vorbei ist. Sie kämpfen einen Kampf, der niemandem nützt, und landen – wenn sie nicht gleich erschossen werden – für Jahrzehnte in einer Zelle.“ McKearny weiß, wovon er redet: Er saß 16 Jahre in Haft.
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