Kollaps in Raten

Britannien Tony Blair hat nur noch ein politisches Ziel. Sein Überleben und die Geschichtsbücher

Am 4. Mai schaffte Tony Blair, was Margaret Thatcher vergeblich versuchte: Jahrelang hatte die frühere konservative Premierministerin gegen die widerspenstigen Labour-Organisationen in London gekämpft, den in der Hauptstadt regierenden Linken Befugnisse entzogen und schließlich kurzerhand den demokratisch gewählten Großrat der Metropole abgeschafft. Doch London blieb rot. Die Bevölkerung der Weltstadt, die aus 32 Kommunen besteht, widerstand allen Pressionen der Tories. Sie kürte auch gegen die ausdrückliche Empfehlung des eher christdemokratisch gestrickten Premiers Blair den linken Labour-Dissidenten Ken Livingstone zum Oberbürgermeister.

London mit seinen zahlreichen Arbeiter- und Immigrantenquartieren blieb eine Labour-Stadt - bis zu den Gemeinderatswahlen vor einer Woche, als die Partei die Kontrolle über einstige Hochburgen wie Hammersmith and Fulham, Camden, Lewisham und Croydon verlor. Und nicht nur das: Labour verlor im ganzen Land. Die Regierungspartei belegte in der Summe alle Einzelergebnisse hinter den Tories und Liberaldemokraten gerade einmal Rang drei. Das war zwar bei den letztjährigen Kommunalwahlen auch der Fall (in Britannien wird jährlich ein Teil der Gemeinderatssitze neu besetzt), aber da stand nicht London auf dem Spiel. Wenn die Partei nicht einmal diese Bastion halten kann, brauchen viele Unterhausabgeordnete zur nächsten Wahl gar nicht erst anzutreten. Das wissen die Parlamentarier - und deswegen ist bei Labour derzeit Feuer unterm Dach. Nicht nur die Parteilinke fordert Blairs Rücktritt, auch der Anhang von Schatzkanzler Gordon Brown. Doch Blair bleibt hart. Er hievte bei einer radikalen Kabinettsumbildung vor allem treue Gefolgsleute in die wichtigsten Posten und gab beim Treffen mit der Labourfraktion zu Wochenbeginn keinen Millimeter nach - er werde weitermachen wie gehabt.

Ein Gradmesser für den Zustand von Parteien, vor allem von Regierungsparteien, sind die Skandale, in die sie verstrickt sind. Das war bei den Tories so, und das gilt offenbar auch für Labour. So musste der jetzt geschasste Innenminister Charles Clarke, dessen Behörde Asylsuchende gnadenlos und ohne Rücksicht auf die Umstände abschiebt, vor zwei Wochen zugeben, dass seinen Beamten rund tausend ausländische Straftäter entschlüpft sind - obwohl sie nach Verbüßung ihrer Haftstrafe hätten ausgewiesen werden müssen. Für die konservativen Medien (und die rechtsradikale British National Party) war diese Nachlässigkeit ein gefundenes Fressen. Am selben Tag brach Gesundheitsministerin Patricia Hewitt ihre Rede auf dem Gewerkschaftstag der nationalen Krankenschwesternvereinigung ab, weil sie zuvor 50 Minuten lang ausgebuht worden war. Sie hatte den schlecht bezahlten und überarbeiteten Pflegerinnen Labours Gesundheitsreformen schmackhaft machen wollen, die enormen Investitionen im Gesundheitswesen gelobt, die horrenden Gehaltserhöhungen für die Ärzte verteidigt - und gleichzeitig die Entlassung von Tausenden Krankenschwestern angekündigt. Und dann ließ sich auch noch Vizepremier John Prescott mit heruntergelassenen Hosen ertappen.

Vor ein paar Jahren hätte Labour solche Geschichten noch als nebensächlich abtun können. Vor ein paar Jahren hätte sich kaum jemand darüber aufgeregt, dass Premier Blair großzügigen Spendern einen Adelstitel zuschanzt. Vor ein paar Jahren hätte sich die Basis auch nicht über die Coiffeur-Rechnung der Blair-Gattin zu Lasten der Parteikasse echauffiert (Cherie Blair ließ sich über 11.000 Euro erstatten, weil sie von ihrem Frisör während des letzten Unterhauswahlkampfes 28 Mal gefönt worden war). Vor ein paar Jahren hat Labour alle Skandale leicht weggesteckt - auch die um den Blair-Vertrauten Peter Mandelson, den der Premier gleich zwei Mal aus einem Ministeramt entlassen musste, weil der seine Finger überall hatte und nicht nur dort, wo sie für ein Kabinettsmitglied hingehören. Niemand hinderte Blair - schon gar nicht seine europäischen Amtskollegen - Mandelson danach in das höchst einflussreiche Amt eines EU-Handelskommissars zu bugsieren.

Aber vor ein paar Jahren hatte Labour auch noch Mitglieder, die an eine bessere Zukunft glaubten und bereit waren, als Anhänger alter Labour-Werte vieles zu dulden, was die Parteizentrale für angebracht hielt - bis hin zum Ausschluss unbequemer, weil streitbarer Mitglieder. Inzwischen ist die Zahl der unentwegten Parteiaktivisten jedoch drastisch zurückgegangen. Viele haben die Partei wegen des Irak-Kriegs verlassen, andere konnten die Asylpolitik, die Antiterrorgesetze, die immer stärkere Überwachung, den Einfluss nicht gewählter Kommissionen auf alle gesellschaftlichen Bereiche, den Fortbestand der Anti-Gewerkschaftsgesetze und die Privatisierung im Bildungs- (s. Freitag 13/06) wie im Gesundheitssektor nicht länger hinnehmen. Mittlerweile hat Labour weniger Mitglieder als Mitte der achtziger Jahre. Zu Beginn von Blairs Amtsübernahme waren es noch 400.000 - jetzt sind es vielleicht noch 170.000. Viele davon Karteileichen, mit denen sich kein Wahlkampf führen lässt, schon gar nicht in Britannien, wo Parteiwerbung an der Türschwelle immer noch große Bedeutung hat.

Dem ewigen Kronprinzen Gordon Brown rennt nun allmählich die Zeit davon. Sollte Blair noch jahrelang durchhalten, dürfte dem Schatzkanzler der nötige Stimmungswechsel misslingen (ein wirklicher Politikwechsel ist von ihm nicht zu erwarten). Verliert Labour dann (wie durchaus möglich) die nächste Wahl, hätte er - und nicht Blair - die Unterhausmehrheit vergeigt. Vielleicht geht es dem Premierminister genau darum.


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