Am Ende hat die Schwerstarbeit der Fraktionsführung der Labour-Partei im Unterhaus wenig genutzt. Über Wochen hinweg hatte sie in zahllosen Einzelgesprächen rund hundert Labour-Abgeordnete in die Mangel genommen, gedroht, gelockt, nachgehakt, die Rebellen nochmals antreten lassen, Minister in Debatten geschickt - und Mitte März doch eine Schlappe hinnehmen müssen. 77 Labour-Abgeordnete verweigerten der Regierung bei der zweiten Lesung des neuen Bildungsgesetzes die Zustimmung. Premier Blair erlitt eine weitere Niederlage. Das "wichtigste Gesetz seiner dritten Amtszeit" - so hatte er den Entwurf im Oktober noch genannt - nahm nur dank der Zustimmung durch die Konservativen die erste parlamentarische Hürde.
Dabei hatte Blair die Latte in Sachen Bildungsreform ziemlich hoch gelegt. Mit dieser Reform wolle er einen "unumkehrbaren" Wandel im Schulsystem einleiten, den Eltern und Schulen "mehr Freiheiten" geben und einen Wettbewerb zwischen den Bildungseinrichtungen im Sekundarbereich einführen, von dem alle nur profitieren könnten. Viele Labour-Abgeordnete, alle Gewerkschaften und Fachverbände des Lehrpersonals sehen dies anders. Blairs Reform würde das alte Labour-Ziel von gleichen Bildungschancen für alle zunichte machen, das Bildungssystem dem Marktdiktat unterwerfen, die Verantwortung für die Schulen an Private delegieren, die althergebrachte Klassenteilung im Bildungswesen weiter verstärken und den Kindern aus ärmeren Familien die Zukunft verbauen. Dieser Dissens zwischen Labour-Führung und -Basis wird neben den Fragen nach Blairs Korruptheit (viele seiner Sponsoren haben Adelstitel verliehen bekommen) und dem Irak-Krieg auch in den nächsten Wochen die öffentliche Debatte bestimmen.
Zu den üblichen Verdächtigen von der Labour-Linken haben sich auch moderate Abgeordnete gesellt. Das Bildungsgesetz "ist einfach falsch, und weitere Korrekturen machen es nicht besser", sagt etwa der Londoner Labour-Abgeordnete Frank Dobson, der Gesundheitsminister in Blairs erstem Kabinett war. "Wer genügend Geld hat, kann künftig eine Schule kontrollieren", kritisiert Gwyneth Dunwoody, die den Wahlkreis Crewe im englischen Nordwesten vertritt und wie Dobson nicht der traditionellen Labour-Linken angehört. Olive Forsythe von der National Union of Teachers (NUT), der größten Lehrergewerkschaft, befürchtet gar eine "weitgehende Privatisierung des Schulsystems".
Grammar und Ghetto-Schulen
Seine Regierung habe drei Prioritäten, hatte Blair bei seinem Amtsantritt 1997 gesagt und die Schwerpunkte auch gleich benannt: "Education, education, education". Das Bildungswesen war damals, nach 18 Jahren Thatcherismus, in einem desolaten Zustand. Die Konservativen hatten die alten Strukturen verbissen verteidigt: Hier ein paar wenige Privatschulen und Eliteuniversitäten für die Sprösslinge der Wohlhabenden; dort die Bildungseinrichtungen für den Rest. Damals mussten viele öffentliche Schulen ihre Schüler mindestens einmal im Jahr zum Fundraising, zum Geldsammeln, auf die Straßen schicken - ohne Spenden hätten sie weder die Kosten für Lehrmittel decken noch die Gehälter des Lehrpersonals auszahlen können.
Die neue Labour-Regierung änderte dies. Sie stockte den Bildungshaushalt auf und reduzierte vorübergehend die Auswahlprüfungen am Ende der Primarschulzeit, bei denen die Noten und oftmals auch die Herkunft darüber entschieden, ob die Elfjährigen künftig eine elitärere Grammar School (ein Gymnasium), eine Gesamtschule (Comprehensive School) oder eine miserabel ausgestattete Mittelschule besuchen.
Die Labour-Regierung investierte, und das in den siebziger Jahren erstmals erprobte Comprehensive-Modell wurde zur Regelschule, das Bildungsniveau der Schüler stieg. In der Vergleichsstudie PISA 2000 lagen die britischen Ergebnisse in allen Belangen deutlich über den deutschen. Andererseits konnten all diese Anstrengungen von Gemeinden, Schulgremien, Lehrern und Sozialarbeitern die alten schichtspezifischen Unterschiede nicht beseitigen: Während die einen gute Ergebnisse vorweisen, schaffen - so die letztjährigen Prüfungsresultate - rund 40 Prozent eines Jahrgangs nur mit Mühe den untersten Schulabschluss.
Dafür gibt es mehrere Gründe: Die fehlende Motivation der Kids in den Arbeitslosenquartieren zum Beispiel, die ohnehin keine Zukunft sehen. Oder der Mangel an qualifizierten Lehrern: Die werden miserabel bezahlt und stehen in den Ghettoschulen unter einem enormen Druck. Viele verlassen vorzeitig den Beruf - mit der Folge, dass auch nicht ausgebildetes Personal eingesetzt wird.
Der Politikwechsel, der jetzt vollzogen werden soll, hat sich seit Jahren abgezeichnet. Bereits 2002 begann die Regierung, privat gesponserte City-Akademien einzuführen - Schulen, deren Lehrplan von den Sponsoren beeinflusst werden kann. 2004 beschloss sie trotz vieler Proteste die Einführung von Studiengebühren an den Universitäten - und nun krempelt sie den Sekundarbereich für die 11- bis 18-Jährigen um.
Microsoft und Cadbury
Das Bildungswesen benötige eine größere Vielfalt, um den Ansprüchen der Eltern gerecht zu werden, sagt die Labour-Führung. Ihr Gesetz - über das noch in dritter Lesung abgestimmt wird und das der Zustimmung des Oberhauses bedarf - sieht folgende Maßnahmen vor:
Alle öffentlichen Schulen können künftig im freien Wettbewerb gegeneinander antreten, um Schüler werben, selber über die staatlichen Gelder verfügen und über die Arbeitsverhältnisse und -bedingungen ihres Personals bestimmen. Elternvereinigungen, Unternehmen, Wohltätigkeitsverbände, Religionsgemeinschaften und andere Organisationen können Stiftungen ("trusts") bilden, die bestehende Schulen übernehmen und leiten - oder eigene Schulen gründen. Diese Trusts entscheiden künftig über die Lehrpläne, das Personal und das Management der Schulen. Dabei ist es gleichgültig, wer die Stiftung dominiert (das kann auch eine Einzelperson sein). Bisher hatten gewählte Gremien die Aufsicht, bestehend aus Vertretern der Eltern, der Lehrer, der Gemeinde und lokaler Gruppen. Leistungsschwache Schulen, die im Notenwettbewerb schlecht abschneiden, sollen künftig unter Aufsicht gestellt und notfalls geschlossen werden. Gemeinden dürfen nur noch mit Zustimmung des Bildungsministeriums Schulen gründen.
Das Gesetz enthalte auch positive Elemente, sagt Olive Forsythe von der Lehrergewerkschaft NUT. Dass personalisiertes Lernen intensiviert werden soll, dass mehr Geld für besseres Schulessen ausgegeben werde, dass die Lehrer mehr Spielraum im Umgang mit Schulschwänzern bekommen - all dies sei vernünftig.
Doch die Nachteile überwiegen. Kritisiert werden besonders das Konzept der Trägerschaft und die sich abzeichnende Aufspaltung des Bildungswesens. So hatte Blair Ende Februar eine Reihe von Organisationen und Firmen zu einem Seminar in seinen Amtssitz an der Downing Street eingeladen. Darunter waren Vertreter von Microsoft und der weltweit agierenden Steuerberatungsfirma KPMG. McDonald´s und der Süßwarenhersteller Cadbury waren ebenfalls interessiert. Diese Firmen könnten künftig ebenso unmittelbar Einfluss auf die Ausbildung von Tausenden von Kindern nehmen wie die Emmanuel-Foundation des evangelikalen Multimillionärs Peter Vardy, die bereits an zwei City-Akademien die "christliche Wahrheit" der Schöpfungsgeschichte lehren lässt. Eine Schnapsidee sei auch die Vorstellung, dass Eltern am besten wüssten, wie eine Schule zu führen sei. "Eltern sind naturgemäß nur kurz an einer Schule interessiert, je älter die Kinder werden, desto schneller verblasst ihr Engagement", sagt Olive Forsythe. "Außerdem kümmern sie sich vorwiegend um ihre eigenen Kinder."
Mittelfristig verheerend ist auch, dass die Stiftungsschulen die Gesamtschule verdrängen. "Künftig werden wir noch mehr religiöse Schulen, Sportschulen, Technikschulen, Grammar Schools, City-Akademien, Privatschulen haben - aber keine Gesamtschulen mehr, in denen alle Kinder die gleichen Chancen haben", sagt etwa die Schulexpertin Melissa Benn. "In 20 Jahren wird unser System so aussehen wie das in den USA mit seinen nach Schicht- und Rassenzugehörigkeit getrennten Schulen."
Dass Schulwahl die ehrgeizigen und mobilen Mittelschichteltern begünstige, sei eine altbekannte Tatsache, sagt auch die Bildungsanalytikerin Fiona Millar. Die Stiftungsschulen dürfen zwar nach dem vorliegenden Gesetzentwurf keine Auswahlgespräche mit Eltern und Kindern führen, um sich wie die Grammar Schools die Schüler auszusuchen, "aber es gibt ja bekanntlich viele Hintertüren": "Die von Privaten kontrollierte Schulleitung muss nur ein paar Erkundigungen über die Eltern einholen, die Vorlage einer Heiratsurkunde verlangen oder eine teure Schulkleidung beschließen." Wenn der agile Mittelstand die Schulen selber wählen könne und die miteinander konkurrierenden Schulen sich ihre Zöglinge aussuchen dürften, sei klar, wer auf der Strecke bleibe.
Lord gegen Lord?
Was treibt die Regierung dazu, ein funktionierendes System zu zerschlagen? Man werde auf diese Art die Mittelschichten für das öffentliche Schulwesen gewinnen, heißt es in Blairs Umfeld. Das klingt etwa so, als wolle man die Schönheit eines Waldes zeigen, indem man ihn abholzt. Der Grund ist banaler: Blair, der selber nur Elite-Einrichtungen besuchte, hat für das öffentliche Bildungssystem so viel übrig wie die Limousinennutzerin Margaret Thatcher für das öffentliche Verkehrswesen. Und, wichtiger noch: Wenn das Wasser, die Mobilität, die Gesundheit privatisiert werden können, warum dann nicht die Bildung?
Nach der dritten Lesung, die im April erwartet wird, diskutiert das Oberhaus über das Gesetz. Wie die Lords votieren, ist noch offen. In der zweiten Kammer sitzen Leute wie Andrew Adonis, "Blairs Bildungsguru" (BBC), der als Staatssekretär im Bildungsministerium die Privatisierung des Schulsystems vorangetrieben hat. Aber auch Neil Kinnock, der frühere Labour-Chef, hat dort einen Platz. Dass er das Gesetz ablehnt, zeigt, wie umstritten Blairs Vorhaben ist - Kinnock hat seinen Nachfolger noch nie so offen kritisiert.
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