Gerade ist er dort angekommen, wo er seit über einem Jahrzehnt hin wollte, und schon hagelt es Forderungen von allen Seiten. Gordon Brown, der neue Mann in Downing Street 10, müsse - so verlangt es die Gewerkschaft Unite - bei einer Kabinettsumbildung Gesundheitsministerin Patricia Hewitt feuern. Die sei für das Desaster im teilprivatisierten staatlichen Gesundheitsdienst verantwortlich, sagte Derek Simpson, Co-Chef von Unite, der mittlerweile größten britischen Gewerkschaft. Rund 55 Milliarden Euro wolle sie in den nächsten Jahrzehnten "privaten Profiteuren" zukommen lassen, die im National Health Service nichts verloren hätten. Die Antikriegsbewegung wird gleichfalls vorstellig: Brown solle den Zapatero machen und wie der spanische Premier alle britischen Truppen aus dem Irak zurückziehen.
Schließlich melden sich die wenigen noch in den Wahlkreisen aktiven Labourmitglieder zu Wort. Sie erwarten von Brown mehr innerparteiliche Demokratie und Akzeptanz von Parteitagsbeschlüssen, die Blair stets ignorierte. Eine Partei, die nur auf die Medien schiele, könne nicht überleben, sagen sie, und verweisen darauf, dass man Anfang Mai bei der englischen Kommunalwahl in manchen Wahlkreisen nicht einmal mehr genug Kandidaten fand, die ihren Kopf für Blairs Politik hinhalten wollten. Labour hat in den zurückliegenden zehn Jahren über die Hälfte seiner Mitglieder verloren.
Der große Bluff
Die Erwartungen an den neuen Premier sind gewaltig, aber kann Brown einen "Kurswechsel" überhaupt vollziehen?
Es ist so viel über die Unterschiede zwischen ihm und seinem Vorgänger geschrieben worden. Hier der talentierte Kommunikator Blair, ein gewandter Redner von beachtlicher Überzeugungskraft - dort der eher dröge, detailversessene, manchmal arrogante Brown (als wäre Blair, der ohne Plazet des Parlaments Truppen in Kriege schickte, weniger autoritär gewesen). Hier der modernisierungsbesessene, scheinbar undogmatische Blair, den Kontinentaleuropäer gern mit Sozialdemokraten wie Gerhard Schröder vergleichen - dort der Schotte Brown, dem der Labour-Stallgeruch anhaftet, weil er hin und wieder für mehr Investitionen im öffentlichen Dienst plädiert.
Stimmen diese Unterscheidungen? Hat nicht Brown als zweiter Mann im Kabinett seit Jahren alles mitgetragen oder toleriert? Er hätte durch ein klares Veto Blairs Entscheidung für einen britischen Part beim Irakkrieg blockieren können. Er will auch jetzt die Truppen nicht abziehen. Scheut er den Konflikt mit George Bush? Hofft er immer noch, dass Britannien die Kontrolle über irakische Ölfelder gewinnt? Für die Annahme, dass Brown durchaus in imperialen Kategorien denkt und Interessen großer Rüstungskonzerne dient, spricht auch die Vehemenz, mit der er sich gerade für die Modernisierung der eigenen Atom-U-Boote einsetzt - Kosten für den Staat: etwa 40 Milliarden Euro.
Brown singt wie Blair seit Jahren das Lied von der freien Marktwirtschaft, die alles regelt, aber dann doch nicht so frei sein darf. So hat er stets die Antigewerkschaftsgesetze verteidigt, die einst Margret Thatcher den Trade Unions verpasste. Nirgendwo sonst in Westeuropa sind die Gewerkschaften in ein so enges Korsett gesperrt und so rechtlos wie im Vereinigten Königreich.
Auch in anderer Hinsicht sind sich Blair und Brown - trotz ihrer Rivalität - weitgehend einig. Beide vertreten die Auffassung, nur eine Politik zugunsten der eher konservativen Mittelschicht sichert Labour die parlamentarische Mehrheit. Nur eine strikte Kontrolle über die Partei verhindert eine Rückkehr zu den alten Werten der Arbeiterbewegung. Eine geschickte Beeinflussung der Öffentlichkeit über so genannte Spin Doctors, die alle Nachrichten in ihrem Sinn drehen, ist wichtiger als jede Debatte, die einem schnell entgleiten kann.
So nahm Brown auch hin, dass Blair letzten Sommer nach Kalifornien flog, um dort den News-Managern des Medienmagnaten Rupert Murdoch seine Referenz zu erweisen. Murdochs britische Boulevard-Blätter Sun und News of the World, aber auch die seriösere Sunday Times und Murdochs Satelliten-TV Sky haben die Labour-Politik zehn Jahre lang mehr geprägt als sämtliche Gewerkschaftskongresse, Antikriegskundgebungen und Proteste der durch Terrorismushysterie marginalisierten muslimischen Bevölkerung zusammen. Die Themen von Murdochs gnadenlosen Law-and-Order-Medien lassen sich auch an den völlig überfüllten Gefängnissen ablesen, in denen derzeit über 80.000 Häftlinge sitzen. Unter Labour sind prozentual weit mehr Menschen weggesperrt als sonst irgendwo in Westeuropa. Und das, obwohl die Zahl der Delikte seit Jahren schrumpft.
Das große Misstrauen
Brown zog bis kurz vor seiner Amtsübernahme auf einer "listen and learn"-Tournee über Land, um überall zu versichern, er werde künftig besser zuhören, die Labour-Basis respektieren und mehr Meinungsumfragen veranstalten. Doch so recht will ihm das Bild vom neuen Gordon Brown nicht gelingen, hält er doch weiter an seinen ideologischen Essentials fest und lässt keinen Zweifel: Die Privatwirtschaft ist unbedingt effizienter als der Staat. Mit dieser schon von Margaret Thatcher inhalierten Doktrin haben Blair und Brown öffentliche Einrichtungen privatisiert, an die sich selbst die konservative Premierministerin zu ihren Hochzeiten nicht gewagt hatte. Ausschlaggebend dafür war nicht nur Wahltaktik (Gewinn der Mittelklasse), sondern ein großes Misstrauen den Menschen gegenüber. Wie Thatcher scheinen auch Blair und Brown fest davon überzeugt, dass im Gesundheitswesen, im Fürsorgedienst oder Bildungssystem - die eine hohe Identifikation erfordern - auf die Beschäftigten so lange kein Verlass ist, wie sie im Sold des Public Service stehen. Wenn alle nur miserable Leistungen abliefern und angesichts der allgemeinen Trägheit des Menschen müsse die Knute einer Marktwirtschaft her, die Löhne kürzt, Unbotmäßigkeiten sofort ahndet und keinen Kündigungsschutz mehr kennt.
Nur dieser Ansatz erklärt, weshalb Brown bis heute seine vielfach gescheiterte Private Finanzierungsinitiative (PFI) verteidigt und fortsetzen will. Gleich zu Beginn seiner Amtszeit hatte ihn als Schatzkanzler jene Idee begeistert, die auf Margret Thatcher und ihren Nachfolger John Major zurückging: Der Staat überlässt große Projekte wie Krankenhäuser, Gefängnisse, Schulen, Straßen, Brücken oder Bahnstrecken Finanzinvestoren, die auf eigene Rechnung bauen, unterhalten und warten, und dafür vom Staat über eine festgelegte Frist (meist 30 Jahre) Miete kassieren. Das entlastet kurzfristig das Staatsbudget - die Investitionskosten trägt ja das private Kapital.
Langfristig kommt dieses, mittlerweile in Europa vielfach kopierte Verfahren, die Steuerzahler teuer zu stehen, denn der vereinbarte Mietzins übersteigt in der Regel die Investitions- und Wartungskosten um ein Mehrfaches. Das "effiziente" Privatkapital lieferte schludrig hingestellte Bauten, sparte bei Spitälern Bettenhäuser und Operationssäle ein und senkte überall den Lohn und das Qualifikationsniveau der Beschäftigten. Es gibt in Britannien kaum noch ein Krankenhaus, dessen Röntgenabteilung oder Fahrdienste nach allgemein anerkannten Standards arbeiten.
Am Tag nach Blairs und Browns großem Wahlsieg 1997 atmete die Finanzwelt tief durch: Labour hätte auch mit einem "weitaus antikapitalistischeren Programm gewonnen", schrieb damals die Financial Times, Britannien sei auch nach 16 Jahren Thatcherismus "hoffnungslos kollektivistisch". Das gilt auch heute noch - nach nunmehr 27 Jahren Thatcherismus, denn unter Blair und Brown wuchs die Kluft zwischen Arm und Reich, zwischen den Working Poor und den wohlhabenden Schichten rasant. Und das nicht trotz, sondern wegen Gordon Brown.
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