Politik in Zeiten der Verstopfung

Grossbritannien Bürgermeister Ken Livingstone hat London eine Straßenmaut verordnet, die für Europas Metropolen ohne Beispiel und für die Stadtkasse enttäuschend ist

Ken Livingstone kann in London als Stadtoberhaupt nicht viel bewegen. Wirkliche Entscheidungsgewalt hat er nur auf einem Gebiet - dem des öffentlichen Nahverkehrs So will er die U-Bahn vor Verfall und Filetierung retten, denn deren Streckennetz und Signalsystem ist durch die Blair-Regierung im April an drei Privatfirmen verkauft worden. Doch für die berühmte Tube braucht der Bürgermeister Geld, das er sich von den Einnahmen der im Februar eingeführten City-Maut erhofft hatte. Damit sollte die Innenstadt ihr Verkehrschaos loswerden, was tatsächlich gelang.

Der Mann liebt den Disput, und er liebt die Öffentlichkeit. Ganz besonders behagt es ihm, wenn er beides verbinden kann und im Zentrum der Kontroverse steht. So auch an diesem Oktobermorgen, Ken Livingstone, der Oberbürgermeister von London, gestikuliert, argumentiert, zitiert; und wenn ihm ein besonders guter Spruch gelungen ist, lehnt er sich genüsslich zurück. Es ist Mayor´s Question Time, die monatlich stattfindende Fragestunde. Ihm gegenüber sitzen die Abgeordneten der Londoner Versammlung, und die haben in den vergangenen Wochen 302 Fragen zusammengetragen, die Livingstone entweder mündlich oder schriftlich beantworten wird. Wird die U-Bahn im nächsten Jahr streikfrei sein? Warum bleiben im neuen Rathaus immer wieder die Lifts stecken? In welchem Zustand sind die öffentlichen Toiletten.

Der rote Ken

An diesem Tag jedoch geht es besonders um die Maut, die Ken Livingstone Mitte Februar eingeführt hat, um die chronische Verstopfung der Straßen im Londoner Stadtzentrum zu lindern. Es geht auch um die U-Bahn, die ihm erst seit einigen Wochen unterstellt ist, und um höhere Fahrpreise im öffentlichen Nahverkehr, die er gerade verkündet hat. Er wird auch zur Wohnungsbaupolitik befragt und zur Zukunft der Familiengerichte. Aber was soll Bürgermeister Livingstone dazu sagen? Dafür ist er nicht zuständig. Er ist überhaupt für nur sehr wenig zuständig.

Ein Blick zurück: Während der ersten Amtszeit der Labour-Regierung unter Tony Blair hatten Nordirland, Schottland und Wales Regionalversammlungen erhalten, um den separatistischen Tendenzen im Vereinigten Königreich Einhalt zu gebieten. Im Zuge dieser moderaten Dezentralisierung verabschiedete das Unterhaus auch ein Gesetz zur Demokratisierung der Hauptstadt. Nachdem Margaret Thatcher Mitte der achtziger Jahre den Rat für Großlondon (GLC) abgeschafft hatte, war damit die einzige Metropole der westlichen Welt ohne gewählte Verwaltung. Die 32 Gemeinden auf dem Gebiet der Stadt verfügten zwar weiter über Stadt- und Gemeinderäte; die stadtteilübergreifenden Einrichtungen wie das öffentliche Transportwesen, die Feuerwehr und die Polizei waren aber direkt den Ministerien unterstellt.

Erst Anfang 2000 konnten die Londoner wieder einen Bürgermeister und die Versammlung (Assembly) der Greater London Authority (GLA) wählen. Mit großer Befugnis sind die neuen Institutionen allerdings noch immer nicht ausgestattet: Strom- und Wasserversorgung sind längst privatisiert, die Krankenbetreuung und das Bildungswesen werden auf anderen Ebenen geregelt, über die Metropolitain Police entscheidet der Innenminister. Der Bürgermeister darf Vorschläge unterbreiten und Wirtschafts-, Umwelt- und Kulturstrategien skizzieren, tatsächliche Entscheidungsgewalt hat er jedoch nur in einem Bereich - dem des öffentlichen Nahverkehrs.

Schon lange vor der Wahl des Bürgermeisters im Mai 2000 wussten alle, wer sich um das Amt bewerben würde: Ken Livingstone, der Anfang der achtziger Jahre Thatchers großer Gegenspieler war. Während seiner Amtszeit als Vorsitzender des Rats von Großlondon verkündeten riesige Ziffern auf dem Dach des alten Rathauses - es liegt dem Parlament gegenüber - die neueste Arbeitslosenzahl. Der GLC widersetzte sich vehement den von den Konservativen verordneten Preiserhöhungen im Nahverkehr, agitierte gegen Thatchers Rassismus und den Rassismus der Polizei und entwarf eine alternative Flüchtlings- und Immigrationspolitik. Und die wurde von einer Mehrheit der Londoner unterstützt - nur nicht von Thatcher. Die schaffte 1986 den GLC ab, um Livingstone loszuwerden.

Auf einen so populären Widersacher hatte auch Tony Blair wenig Lust: Als Livingstone Ende 1999 seine Kandidatur bekannt gab, fiel der gesamte Parteiapparat über den Londoner Labourabgeordneten her - die Zentrale eröffnete eine Schlammschlacht gegen ihn, fälschte Wahlergebnisse und warf ihn, als er trotzdem kandidierte, aus der Partei. Die Londoner hatten ihn jedoch nicht vergessen. Livingstone gewann und versprach, mit allen Mitteln die von Blair angekündigte Teilprivatisierung der Londoner U-Bahn zu bekämpfen.

Doch zur Verteidigung des wichtigsten Verkehrsmittels der Stadt konnte er nur wenig unternehmen. Wider alle Erfahrungen bestand die Labour-Regierung darauf, die Fehler der Konservativen zu wiederholen. So hatte Blairs Vorgänger John Major das Staatsunternehmen British Rail privatisiert und in über 100 Einzelfirmen zerlegt, die prompt Tausende von Beschäftigten feuerten, enorme Dividenden auszahlten, teilweise - wie die Firma Railtrack - bankrott gingen und für viel Geld wieder vom Staat übernommen werden mussten. Ähnliches wollte Ken Livingstone für die Londoner U-Bahn verhindern. Er entwarf ein anderes Sanierungskonzept für die chronisch unterfinanzierte "Tube", holte sich die besten Experten, zettelte ein breite Kampagne an und zog vor Gericht - vergebens. Blair hatte vorsorglich beschlossen, die Zuständigkeit für die U-Bahn so lange bei der Regierung zu belassen, bis für sein Modell einer Public Private Partnership alle Verträge unterzeichnet waren. Das geschah im April 2003.

Seither werden die Züge, Bahnhöfe, Signal- und Gleisanlagen von drei Konsortien unterhalten, die einigen Bauunternehmen gehören und das Netz unter sich aufgeteilt haben; die Behörde von Großlondon (GLA) ist nur mehr für Betrieb und Personal zuständig. Nachdem Blair das Kind in den Brunnen geworfen hat, darf Livingstone es vor dem Ertrinken retten: Seit Mitte Juli hat er alle Verantwortung für das Funktionieren der U-Bahn und für die Sicherheit der drei Millionen Passagiere, die täglich die Tube nutzen.

Eine schier unmögliche Aufgabe, wie Tim O´Toole, Londons neuer U-Bahn-Direktor, weiß. "Es wird noch lange dauern, bis wir den Fahrgästen einen guten Service bieten können", sagt er. Livingstone hat O´Toole wie seinen Verkehrsberater Bob Kiley aus den USA geholt. Beide haben dort erfolgreich Bahn- und U-Bahn-Systeme saniert und sind erfahren im Umgang mit Privatunternehmen. Aber an der neuen Struktur können sie nur wenig ändern: Die Aufteilung des U-Bahn-Netzes ist kaum rückgängig zu machen. Der von der Labour-Regierung mit den Firmen Metronet SSL, Metronet BCV und Tube Lines ausgehandelte Vertrag läuft über 30 Jahre. "Und selbst danach", so O´Toole, "ist an eine Zusammenführung der einzelnen Linien nicht mehr zu denken. Jede Firma entwickelt eigene Sicherungssysteme, eigene Signalanlagen, eigenes Rollmaterial." Der Staat wird also noch Jahrzehnte viel Geld an private Unternehmen zahlen müssen für Dienstleistungen, die der öffentlichen Hand billiger gekommen wären.

Das I und O der Maut

Ja, sagt Ken Livingstone während der Mayor´s Question Time. Auch ihm sei bewusst, dass die Firma Capita Group kläglich versagt habe. Aber hätte man deswegen das Projekt stornieren sollen? Auch ihm wäre es lieber gewesen, wenn eine Behörde die neue Straßenmaut in der Londoner Innenstadt verwalten würde. Aber hätte so ein Amt in so kurzer Zeit die nötigen Kenntnisse erwerben und die erforderlichen Mittel aufbringen können? - Beim Thema Straßenmaut geht es hoch her im Plenarsaal des neuen Rathauses, aus dem man durch die gläserne Fassade auf die Themse und den Tower von London blicken kann. Erst vor wenigen Wochen hat Livingstone mit der Capita Group, die die Staugebühr eintreibt, einen neuen Vertrag ausgehandelt. Mit ihr ist der Bürgermeister angreifbar - im Unterschied zur U-Bahn, für deren Zustand Livingstone nicht verantwortlich ist. Alle Fehler, die da passieren, werden ihm direkt angelastet. Und Mängel gibt es - acht Monate vor der nächsten Bürgermeisterwahl - genug.

Capita Group, kritisieren die Stadtverordneten, lasse ein Viertel aller Schwarzfahrer ungestraft entkommen, dafür erhielten andere ungerechtfertiger Weise Zahlungsaufforderungen in Höhe von 40 bis 120 Pfund (soviel muss zahlen, wer nicht rechtzeitig die Maut von fünf Pfund pro Tag entrichtet), weil das Erfassungssystem manchmal die Ziffern 0 und 1 mit den Buchstaben O und I verwechselt. Und hat Livingstone nicht getan, was er der Regierung immer wieder vorwirft, nämlich die Verwaltung der Straßenmaut privatisiert? Nein, entgegnet der, von einer Privatisierung könne keine Rede sein, die Oberhoheit liege immer noch bei ihm, außerdem sei der Vertrag auf fünf Jahre begrenzt.

Über ein Problem kann der Bürgermeister nicht hinweg gehen: Das Mautsystem ist erfolgreicher als geplant - es fahren weniger Autos in die Innenstadt als berechnet -, so dass statt der erhofften 130 Millionen Pfund nur 65 Millionen in die öffentlichen Kassen fließen. Da Livingstone zugleich das Busnetz ausweitet, um das höhere Passagieraufkommen zu bewältigen, klafft nun im Budget ein Loch. Um dieses zu stopfen, hat er - entgegen eines früheren Wahlversprechens - eine Anhebung der Preise für Bus- und U-Bahn angekündigt. "Nie zuvor", rechtfertigt sich Livingstone, "hat eine Stadt ein Mautsystem von dieser Größenordnung ausprobiert". Nur eine Frage scheint niemanden in der Versammlung zu interessieren: die der Überwachung (s. Kasten).

Trotz aller Anfangsschwierigkeiten befürworten knapp 80 Prozent der Londoner die Maut - die meisten hätten auch nichts dagegen, wenn die Mautzone ausgeweitet würde. Immerhin haben die Staus spürbar abgenommen. Da die Bevölkerung auch weiß, wie zäh Livingstone gegen die Zersplitterung der U-Bahn kämpfte, dass er ein Kulturkonzept für den Trafalgar Square entwickelte und eine Flüchtlingsinitiative europäischer Großstädte anregte, ist seine "Hegemonie in London" (The Guardian) ungebrochen. Nur die Labour Partei, die ihn vor drei Jahren rausgeworfen hat, steht vor einem Problem. Sie verlor vor drei Wochen den einst sicheren Londoner Wahlkreis East Brent - nicht weil, sondern obwohl Livingstone für den Labour-Kandidaten warb. Der Bürgermeister ist in London populärer als die Partei, und da die Partei mittlerweile auch populärer ist als der Premierminister, wird Tony Blair (der im vergangenen Jahr Livingstones Wiederaufnahme noch blockiert hatte) rechtzeitig vor den Londoner Wahlen im Mai 2004 Ken Livingstone wieder in der Labour-Partei begrüßen müssen.


Big Brother Livingstone

Der Preis war redlich verdient. Im Frühjahr verlieh die britische Menschenrechtsorganisation Privacy International den Big Brother Award 2003 in der Staatskategorie an Ken Livingstone (Tony Blair erhielt eine Auszeichnung für sein Lebenswerk) und in der Businesskategorie an die Firma Capita, die unter anderem die Londoner Straßenmaut verwaltet. Livingstone wurde für seine "Besessenheit bei der Verkehrsüberwachung" ausgezeichnet. Am Rande der rund acht Quadratmeilen großen Mautzone erfassen mehrere hundert Kameras die Kennzeichen der ein- und ausfahrenden Kraftfahrzeuge; diese Information wird dann mit der Meldeliste jener Fahrzeuglenker abgeglichen, von denen die Maut bezahlt wurde. Einem Bericht des Observer zufolge sollen die Geheimdienste an der Ausarbeitung des Programms beteiligt gewesen sein, das auch biometrische Daten registrieren kann.

Im Büro von Ken Livingstone weiß man jedoch weder etwas von diesem Preis noch von einer Zusammenarbeit mit MI5 und Special Branch - oder will es nicht wissen. Livingstone stand für ein Interview nicht zur Verfügung. Er hätte wohl auch nur mit den Schultern gezuckt. Die Überwachung des öffentlichen Raums war in Britannien schon vor der heutigen Terrorismus-Hysterie kein Thema. Die Londoner City zum Beispiel ist seit den Anschlägen der IRA Anfang der neunziger Jahre flächendeckend Video überwacht. Im ganzen Land sind mittlerweile über 1,5 Millionen Kameras installiert, viele davon können Gesichter lesen. Dass mit dieser Methode bisher kein einziger Terrorist gefasst wurde, kümmert die Öffentlichkeit wenig.

P.W.

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