Es gibt in Liverpool ein Erinnerungsvermögen, das eher im Verborgenen lebt und ohne PR-Tamtam auskommt; es gibt noch eine Kultur, die neben den Großveranstaltungen und Feierlichkeiten im Kulturhauptstadtjahr 2008 kaum auffällt.
Nur wenige hatten beispielsweise die Totenfeier für John Nettleton mitbekommen. Die Merseyfähren, die der aktive Gewerkschafter und ehemalige Seemann vor Jahren mit einem klugen Konzept vor dem Aus bewahrt hatte, stellten den Verkehr ein, als Nettletons Asche auf dem Fluss verstreut wurde. Fährmatrosen warfen ihr Blumen nach, und ein Exemplar des Buches The Ragged Trousered Philanthropists, eine Art Bibel der britischen Arbeiterbewegung. Geschrieben hat das Buch Robert Tressell, der 1911 in einem Liverpooler Armenspital an Tuberkulose starb. Die Philanthropen, die Menschenfreunde, das sind die Arbeiter, die den Kapitalisten alles schenken. Hobbyhistoriker Nettleton hatte jahrelang nach Tressells Grab gesucht, bis er es auf einem Armenfriedhof fand.
Auch den "Picket" (Streikposten) gibt es noch, einen linken Club, der einst das große Arbeitslosenzentrum an der Hardman Street belebte, vor Kurzem aber in ein Industriequartier bei den früheren Süddocks umziehen musste, weil das gewerkschaftliche Zentrum von der Stadtverwaltung nicht länger bezuschusst wurde. In diesem kleineren Club sang vor Kurzem Elvis Costello (der in Birkenhead, auf der anderen Seite des Mersey, aufgewachsen ist), um dem neuen "Picket" zu einem guten Start zu verhelfen. Und dann ist da natürlich noch das "Casa", das die Liverpooler Docker nach ihrem langen Streik gegen die Rückkehr des Tagelohns im Hafen zu einem Kulturzentrum und einem Treffpunkt linker Gruppen aufgebaut haben.
Dave Jacques kommt oft ins "Casa" an der Hope Street zwischen den beiden großen Kathedralen; sein Atelier liegt auf der anderen Straßenseite. Jacques ist bildender Künstler, er hat im ganzen Land, in Mexiko, den USA, Deutschland und Irland ausgestellt und spricht den schönen Singsang der "Scouser", wie sich die Liverpudlians selbst nennen.
Gibt es noch so etwas wie eine Arbeiterkultur? "Schwer zu sagen", antwortet Jacques. "Initiativen sind noch da, aber sie werden an die Wand gedrückt." Die Politik Margaret Thatchers und ihrer Zöglinge in der Labour-Partei habe sich verheerend ausgewirkt. Liverpool ist demoralisiert, sagt er; vieles sei zerschlagen worden. "Noch nie haben sich so wenige Künstler für die Stadt interessiert wie jetzt im Jahr der Hochkultur." Nur an den Rändern gebe es noch Initiativen, in Kirkby zum Beispiel und auch in Nordliverpool. Dort arbeitet er mit Schulklassen an einem Projekt, das an die unzähligen walisischen Arbeiter erinnert, die im 18. Jahrhundert den Liverpool-Leeds-Kanal gegraben haben, einen der ältesten Kanäle der Welt und nur eines der vielen Großprojekte des imperialen Liverpool.
Die Geschichte der Arbeiterbewegung ist eins von Jacques´ zentralen Themen. Er hat in den letzten Jahren viele Gewerkschaftsbanner angefertigt - große, an Stangen getragene Transparente, die auf keiner Arbeiterdemo fehlen dürfen. "Die Grundsatzfragen - wer hat die Macht, und wer widersetzt sich unter welchen Bedingungen und mit welchen Ideen - haben sich nicht geändert", sagt Jacques, der auf den gestickten Fahnen das Spannungsverhältnis zwischen öffentlichem und privatem Raum thematisiert.
Dave Jacques kann sich in Rage reden, wenn er wütend ist. Da blitzt die Leidenschaft der Scouser auf, jenes merkwürdigen Volksstamms, der immer am Rande von allem existierte und stets im Zentrum des Tumults stand. Der die Mächtigen und die kulturellen Eliten respektlos behandelt und in der Katastrophe sentimental, passioniert und solidarisch agiert. Was haben die Scouser nicht schon alles erlebt? Die blutige Niederschlagung des Aufstands der Seeleute 1775, die vergeblichen Streiks der Tagelöhner im vorletzten Jahrhundert, die vielen Drohungen der Londoner Regierung - einmal schickte der frühere Innenminister Winston Churchill Kriegsschiffe in den Mersey, die ihre Kanonen auf die rebellische Stadt richteten - , die Niederlage im Generalstreik 1926, die Bombardierung der Stadt im Zweiten Weltkrieg, der Vernichtungsfeldzug von Margaret Thatcher, der Kollaps der lokalen Industrie, der Aufstand von Toxteth 1981, die Amtsenthebung von 47 linken Gemeinderäten durch die konservative Regierung 1987, der lange und verzweifelte Kampf der Docker 1995 bis 1998 - all das hat die Stadt bewegt und geprägt.
"Mich hat in all den Jahren der Vorbereitung niemand um eine Mitarbeit am Kulturprojekt 2008 gebeten", sagt Dave Jacques. "Erst zwei Tage vor der Auftaktveranstaltung rief mich einer an und fragte, ob sie eines meiner Gewerkschaftsbanner haben können. Da war offenbar ein paar Leuten aufgefallen, dass es in Liverpool auch eine Kultur diesseits der Popmusik gibt." Jacques hat abgelehnt. Denn: "Was machen die aus dieser Stadt? Teile des Zentrums sind einfach nur scheußlich - und das wird noch schlimmer, wenn erst einmal die Bauzäune verschwinden."
"Liverpool besteht aus zwei Städten", sagt Tony Mulhearn, der Mitte der achtziger Jahre Präsident der örtlichen Labour-Partei war. "Die durchschnittliche Lebensdauer der Menschen hier liegt deutlich unter dem nationalen Durchschnitt, viele suchen verzweifelt nach bezahlbarem Wohnraum, die meisten haben miserabel bezahlte Jobs. Kann man so was eine Kulturstadt nennen?" Das Clubleben habe die Fabriken und die Docks ersetzt, die in den achtziger Jahren zugemacht wurden. Und mit ihnen seien auch die Labour Pubs, die Workingmen´s Clubs und die Arbeiterfußball- und Cricketturniere verschwunden - "kollektive Formen einer Arbeiterkultur, in der alle für alle da sind."
Mulhearn war einer jener linken Liverpooler Gemeinderäte, die Mitte der achtziger Jahre der konservativen Thatcher-Regierung die Stirn boten: Sie investierten in den sozialen Wohnungsbau, obwohl London ihnen das verboten hatte, setzten Arbeitsbeschaffungsmassnahmen um, obwohl sie das nicht durften - und wurden 1987 in einem bis dahin beispiellos autoritären Akt von der Zentralregierung gefeuert und mit Schadensersatzprozessen überzogen.
Mulhearn kann sich gut daran erinnern, dass damals fast alle Kulturschaffenden ihre Unterstützung angeboten haben: spontane Theateraufführungen, Rockkonzerte, und Lesungen zugunsten der 47 gefeuerten Labourlinken. "Beim Dockerstreik zehn Jahre später war das auch so", sagt der Organisator einer Gruppe namens Alternative Kulturhauptstadt, die vor kurzem Ken Loach nach Liverpool einlud, um seinen Dokumentarfilm Flickering Flame über den Hafenarbeiterstreik zu zeigen. Derzeit gebe es keine Organisationen mehr, die den großen Konflikt wagen könnten, sagt Mulhearn. "Aber wenn sich die Arbeiterbewegung wieder aufrappelt, sind die Musiker und die Theaterleute alle wieder da."
Pit Wuhrer hat in den siebziger und achtziger Jahren lange in Liverpool gelebt. Sein Buch Die Freiheit ist zäh und stirbt endlos. Liverpool - über die Zerstörung einer Region (Rotbuch-Verlag 1983) ist nur noch antiquarisch erhältlich.
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