Weiter auf Crash-Kurs

Grossbritannien Eine wieder verstaatlichte Bahn zeigt, wie öffentliches Eigentum funktionieren kann, doch die Labour-Regierung setzt weiter auf Privatisierung

"Es ist ein Scheiß-Gefühl. Du betrittst den Führerstand, blätterst im Logbuch und siehst all die Störungen aufgelistet: Bremsprobleme beim Wagen 6, Störungen im Computersystem, eine Tür, die nicht sofort schließt. Und trotzdem musst du raus auf die Strecke. Dabei wurden die Mängel schon vor Monaten gemeldet, aber nicht behoben." Peter Sheridan ist Lokführer auf der Central-Line der Londoner U-Bahn und beim staatseigenen Unternehmen London Underground Ltd. angestellt, steuert aber Waggons, die eine Privatfirma betreibt und wartet. Er führt seine Züge über Gleise, die diese Firma für 30 Jahre gemietet hat und in Stand halten sollte. Er durchfährt Bahnhöfe, die ebenfalls von Privaten betrieben werden, und nennt die Teilprivatisierung der Londoner U-Bahn ein "Desaster", die Sicherheitsvorkehrungen einen Albtraum. "Sechs große Unfälle hat es seit der Privatisierung vor zwei Jahren gegeben und trotzdem heißt es immer wieder: Raus, raus, raus, auch auf defekten Zügen."

Trotz des Widerstands der Gewerkschaften, trotz der vielen Bedenken der Londoner Stadtverwaltung und gegen den Willen einer überwältigenden Mehrheit in der Stadt selbst hatte die Labour-Regierung 2002 einen Großteil der hauptstädtischen U-Bahn privatisiert. Sie zerschlug die bis dahin einheitlich operierende "Tube" in vier Unternehmen. Der Bahnbetrieb selber blieb in öffentlicher Hand und unter der Regie von London Unterground Ltd. Die Züge und Depots, die Wartungsarbeiten, die Gleis- und Signalanlagen sowie die U-Bahnhöfe wurden jedoch an drei Konsortien vergeben: Tube Lines, Metronet BCV und Metronet SSL, die britischen Bauunternehmen wie Jarvis und Balfour Beatty, US-Konzernen wie Bechtel, und Zugfabrikanten wie Bombardier gehören.

Da aber selbst Premierminister Tony Blair und Schatzkanzler Gordon Brown nicht erwartet hatten, dass die Konsortien nur zum Dienst am Gemeinwohl entstanden waren, verpassten sie den Privaten ein enges Regelwerk, gegen das zu verstoßen, Strafen heraufbeschwört. So müssen die privaten Betreiber fest vereinbarte Ziele einhalten. Dazu gehört auch die Zahl der Züge, die sie pro Stunde von den Depots aus losschicken. "Jede Zugformation, die zehn Minuten zu spät das Depot verlässt, kostet die Firmen 2.000 Pfund Strafe", sagt Peter Sheridan. "Bleibt ein Zug auf der Strecke liegen, ist der Regress geringer. Diejenigen, die eigentlich auf die Sicherheit achten müssten, haben also jedes Interesse daran, die Züge laufen zu lassen."

Noch viel schlimmer sei der völlige Zusammenbruch der Kommunikation. "Wenn ich merke, das etwas nicht stimmt, melde ich das meinem Vorgesetzten bei London Underground. Der informiert den zuständigen Manager bei Metronet, welcher irgendwann das Depot in Kenntnis setzt, das anschließend die Techniker eines Subunternehmens ordert. In der Regel erfahre ich erst drei Monate später, ob die Reparatur ausgeführt wurde - oder eben nicht." Diese "Fragmentierung" sei das Hauptproblem. Niemand fühle sich zuständig, die Probleme würden weiter geschoben, nur in dringenden Fällen werde sofort gehandelt.

Der Defekt zum Beispiel, der im Januar 2003 zur Entgleisung eines vollbesetzten U-Bahn-Zugs der Central Line beim U-Bahnhof Chancery Lane führte, war schon vorher bekannt. "Dass sich die Schrauben der Motoren lösen können, wussten die Techniker des Depots. Sie haben auch eine Warnung herausgegeben. Nur hat dieser Hinweis das Wartungspersonal und die Lokführer nie erreicht."

15.500 Ausnahmegenehmigungen und das King´s-Cross-Desaster von 1987

Auch die Entgleisung eines U-Bahn-Zugs der Northern Line bei der Station Camden Town im Oktober 2003 schien absehbar: die Waggons flogen an einer Kurvenweiche aus den Schienen, deren Störanfälligkeit seit langem bekannt war. "Früher hätte man vor allen Weichen dieses Typs eine Geschwindigkeitsbegrenzung verfügt", sagt Sheridan, "aber früher gehörte ja zum Kundenservice auch noch der Schutz der Passagiere."

Dabei kann von Pünktlichkeit keine Rede sein. Jeden Tag stehen Züge still, sind ganze Strecken gesperrt, müssen Tausende stundenlang in den engen Röhren ausharren, weil Signale ausgefallen sind, Weichen nicht funktionieren oder einer der vorlaufenden Züge Antriebsprobleme hat. Um die Firmen nicht übermäßig zu drangsalieren, hat der Staat für die Londoner U-Bahn den privaten Infrastruktur-Companies etwa 15.500 Ausnahmegenehmigungen erteilt. So viele Gleisabschnitte sind derzeit "schadhaft", aber noch betriebsfähig, wie es heißt. Nur manchmal dann eben doch nicht, wie die Entgleisungen bei Baron´s Court im Oktober 2003 und White City im Mai 2004 zeigten.

Besonders absurde Folgen hat die Fragmentierung für größere U-Bahn-Stationen. Kreuzen sich dort die Linien verschiedener Gesellschaften (wie in der Station Baker Street die Jubilee-Line der Firma Tube Lines, die Bakerloo-Line der Firma Metronet BCV und die Metropolitain-, Circle- und Hammersmith City-Lines der Firma Metronet SSL sind unter Umständen drei verschiedene Unternehmen für die Instandhaltung von Gleisen und Signalen zuständig.

Unjum Mirza ist Stationswärter von Mile End und Sicherheitsbeauftragter der Eisenbahnergewerkschaft RMT. Das Stationspersonal habe sich vorrangig um den Schutz der Passagiere zu kümmern, meint er, doch sei dies wegen des Drucks von oben kaum noch möglich. Als beispielsweise im Mai auf der Station Tottenham Court Road Bombenalarm ausgelöst wurde, da auf dem Perron der Central-Line ein verdächtiges Gepäckstück lag, wurde zwar diese Linie gesperrt, nicht aber die tiefer gelegene Northern-Line. "Wäre wirklich eine Bombe explodiert, hätten wir die aussteigenden Passagiere direkt ins Verderben geschickt - gerade so wie beim King´s-Cross-Desaster 1987."

Beim bisher schwersten U-Bahn-Unglück in London starben seinerzeit 31 Menschen, weil einige Züge nicht rechtzeitig gestoppt werden konnten und die Menschen direkt ins Brandzentrum liefen. Die damals noch konservative Regierung hatte daraufhin ein strenges Sicherheitsreglement für alle Untergrund-Stationen erlassen, das neben Brandschutzanlagen auch ein Minimum an Stationspersonal vorschreibt. Diese Anweisungen will nun Labour auf Druck der Privatfirmen aufheben; der Gesetzentwurf liegt dem Unterhaus bereits vor.

Manchmal würden jedoch auch Detektoren nicht helfen. So hat vor einem Jahr die Infrastrukturfirma Tube Lines die notwendige Erneuerungsarbeit an der zentralen Sicherheitskontrolltafel im Bahnhof Knightsbridge an die Subfirma Gleesons vergeben, die ihrerseits den Job an Siemens weiterreichte. Siemens schickte billige Arbeitskräfte, die von ihrer Qualifikation her den Auftrag gar nicht hätten ausführen dürfen, von Tube Lines aber eine provisorische Lizenz erhielten. Erst Anfang Februar 2004 stellte man fest, dass in der Leitstelle des Bahnhofs die zentrale Kontrolltafel 40 Tage lang nicht funktioniert hatte.

Dänemarks Staatsbahnen sind interessiert, auch die Chinesen

Der britische Staat hat den U-Bahn-Konsortien eine 30-jährige Betriebsgenehmigung erteilt, sie aufzuheben, wäre mit erheblichen Kosten verbunden. Optimistischer können da die Kollegen bei der Eisenbahn sein: Hier laufen in den nächsten Jahren eine Reihe von Betriebslizenzen aus. "Da muss die öffentliche Hand keine Verträge lösen, da kann sie einfach die Schlüssel zurückverlangen", sagt Paul Cox, Lokomotivführer am Ausgangsbahnhof Victoria.

Auch Cox kann Gruselgeschichten über defekte Züge erzählen, über Ursachen der letzten Zugunglücke, über zu geringe Fristen, die den Lokführern eingeräumt werden, um Strecken kennen zu lernen, über zu viele Überstunden und die Profite der Bahngesellschaften. Aber Cox hat Hoffnung. Schon 2001 hatte die Regierung die angeschlagene Infrastrukturgesellschaft Railtrack unter öffentliche Verwaltung gestellt - seither wird wieder in Gleis- und Signalanlagen investiert. Im September 2004 votierte zudem der Labour-Parteitag mit großer Mehrheit für eine "Wiederverstaatlichung" des gesamten Bahnsystems. Die Regierung teilte zwar umgehend mit, den Beschluss ignorieren zu wollen - aber der politische Druck wächst.

Größter Vorteil der Privatisierungsgegner könnte das gute Beispiel sein, denn seit November 2003 ist der Zugverkehr im Südosten Englands wieder in öffentlicher Hand. Im Sommer 2003 hat die Regulierungsbehörde der Firma Connex South Eastern Ltd. die Betriebslizenz entzogen. Connex - ein Tochterunternehmen des französischen Multis Veolia Environnement (vormals Vivendi) - war durch finanzielle Unregelmäßigkeiten aufgefallen. Daraufhin gründete die Behörde South Eastern Trains, stellte erfahrene Bahnmanager ein und übernahm den Betrieb. Seither ist der Zugverkehr zwischen Hastings, Dover und London wieder zuverlässiger.

Das positive Beispiel überzeugte nicht nur die Labour-Delegierten, sondern auch viele Lokalpolitiker in der konservativen Grafschaft Kent. Bisher haben sich 117 Unterhaus-Abgeordnete (darunter viele Tories) einem Antrag der Labour-Linken angeschlossen, die einen Verbleib von South Eastern Trains im public service fordern. Die Regierung will davon nichts wissen. Sie hätte das geplante Ausschreibungsverfahren auch schon abgeschlossen, wenn ihr dabei nicht zu viele Fehler unterlaufen wären. Bei einer öffentlichen Anhörung kam nämlich heraus, dass die Planer reichlich geschlampt und manche Bahnhöfe glatt vergessen hatten. Der öffentliche Aufruhr verzögerte das Vorhaben.

Dennoch haben sich bereits Interessenten gemeldet: Dank der massiven Subventionen - sie sind höher als je zuvor - ist der Bahnbetrieb ein gutes Geschäft. Zu den Bewerbern gehört neben den Dänischen Staatsbahnen, einem britischen Unternehmen, einem britisch-französischen Konsortium auch ein Joint Venture, an dem die chinesische MTR Corporation beteiligt ist, die Hongkongs Metro betreibt. Die Chinesen, sagt Paul Cox, würden sich noch wundern: "Die kennen nur moderne Züge auf Neubaustrecken."

Zuvor aber werden die Eisenbahner ihre Kampagne zum Erhalt von South Eastern Trains verstärken. Sie haben vor der Unterhauswahl im Mai 2005 eine Vielzahl von Aktionen geplant. Wohl auch deswegen hielt es die Regierung für ratsam, die Lizenzvergabe zunächst einmal zu vertagen. Ursprünglich war sie für Dezember vorgesehen. Nun wurde der Termin verschoben - auf die Zeit nach der Wahl.



Eisenbahnen

Privatisierung: 1993/1994

Privat sind der Zugbetrieb und der Gleisneubau; in öffentlicher Hand befinden sich (seit 2001) Bahnhöfe, Gleis- und Signalanlagen, Gleiswartung und (seit 2003) der Zugbetrieb im Südosten.

Privatunternehmen: 19 Passagiergesellschaften, 6 Frachtfirmen, 7 Gleisbauunternehmen, 3 Leasingfirmen für das Rollmaterial und rund 150 weitere Unternehmen.

Subventionen: 2004 5,6 Milliarden Euro im Jahr, davon gehen etwa 2,6 Milliarden an die privaten Passagierfirmen.

Profite: Rund 16,7 Milliarden Euro in den ersten zehn Jahren; die Gewinnrate der Rollmaterial-Leasingfirmen liegt bei 30 Prozent.


Underground

Privatisierung: 2002/2003

Privat sind Bahnhöfe, Zugdepots, Gleis- und Signalanlagen; das öffentliche Unternehmen London Underground ist nur noch für den Zugverkehr zuständig.

Privatunternehmen: 3 Infrastrukturgesellschaften (Tube Lines, Metronet BCV und Metronet SSL), die Baufirmen, Waggonbauunternehmen und Banken gehören.

Subventionen: 2004 1,8 Milliarden Euro.

Profite: Tube Lines erzielte 61,5 Millionen Euro im ersten Jahr, Metronet umgerechnet 80 Millionen Euro; die Profitrate beträgt mehr als 14 Prozent.

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