Abschaffung der politischen Parteien

Parteiunwesen: Gedanken aus einer kleinen Broschüre von Simone Weil: Note sur la suppression génerale des parties politiques (Editions Gallimard, Paris 1957

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Provokative Gedanken, zeitgemäßer denn je, formuliert in einer kleinen Schrift von Simone Weil. Sie hinterfragt radikal die Berechtigung der Existenz von Parteien, ob sich aus ihnen wirklich die Stärkung der Wahrheit, die Förderung des Guten ergibt oder nicht eher das Gegenteil der Fall ist.

An einem extremen Beispiel zeigt sie auf, dass "Die Demokratie, die Macht der größeren Zahl, keine Güter sind, sondern nur Mittel zum Guten .. Wenn statt Hitler die Weimarer Republik auf strikt parlamentarischem und legalem Weg entschieden hätte, die Juden in Konzentrationslager zu stecken und sie auf ausgeklügelte Weise zu Tode zu foltern, so wären die Foltern um kein Gran legitimer, als sie es jetzt sind. Und so etwas ist keinesfalls unvorstellbar".

Ausgehend vom Gesellschaftsvertrag Rousseaus, lässt sich eine Unterscheidung zur Wahrheit und Gerechtigkeit derart feststellen, dass "Irrtümer, die Ungerechtigkeiten sind (erzeugen) unendlich variabel seien und daraus folgt, dass Lüge und Verbrechen Menschen unendlich divergieren lassen, während die Menschen im Gerechten und Wahren konvergieren.

Bietet die Demokratie nun mit ihren Mechanismen, ihren Parteien diese Voraussetzung? Rousseaus Gedanke, dass "ein Wille, der einem ganzen Volk gemein ist, meistens der Gerechtigkeit entspricht, da die einzelnen Leidenschaften einander neutralisieren und ausgleichen. Das war für ihn der einzige Beweggrund, den Willen des Volkes einem Einzelwillen vorzuziehen."

"Der wahre Geist von 1789 besteht nicht in dem Gedanken, dass eine Sache gerecht ist, weil das Volk sie will, sondern darin, dass der Wille des Volkes unter gewissen Bedingungen eher der Gerechtigkeit entsprechen dürfte als jeder andere Wille."

"Herrscht in einem Land kollektive Leidenschaft, so ist es wahrscheinlich, dass ein beliebiger Einzelwille der Gerechtigkeit und Vernunft näher ist als der Gemeinwille oder vielmehr als das, was dessen Karikatur darstellt."

".. dass das Volk seinen Willen hinsichtlich der Probleme des öffentlichen Lebens ausdrücken kann und nicht nur eine Wahl zwischen Personen zu treffen hat. Noch weniger eine Wahl zwischen verantwortungslosen Kollektivitäten. Denn der Gemeinwille steht zu einer solchen Wahl in keinerlei Bezug."

Zwei Fragen stellt sie im Zusammenhang mit "Demokratie" und "Republik":
1. Wie kann man den Menschen, aus denen sich das Volk (eines Landes, hier Frankreich) zusammensetzt, die Möglichkeit geben, zuweilen ein Urteil über die großen Probleme des öffentlichen Lebens abzugeben?
2. Wie kann man sicherstellen, dass das Volk in dem Moment, wo es befragt wird, von keiner kollektiven Leidenschaft durchzogen wird?

Simone Weil meint, "wenn diese Punkte nicht bedacht werden, braucht nicht von republikanischer Legitimität gesprochen zu werden. Sie sagt aber bereits an dieser Stelle, dass jede Lösung "die Abschaffung der politischen Parteien verlangt".

Nun betrachtet sie die politischen Parteien unter den Gesichtspunkten von Wahrheit, Gerechtigkeit und des Gemeinwohls und erkennt drei Merkmale:
1. Eine politische Partei ist eine Maschine zur Fabrikation kollektiver Leidenschaft.
2. Eine politische Partei ist eine Organisation, die so konstruiert wird, dass sie kollektiven Druck auf das Denken jedes Menschen ausübt, der ihr angehört.
3. Der erste und genau genommen einzige Zweck jeder politischen Partei ist ihr eigenes Wachstum, und dies ohne Grenze.

Sie sagt zu den drei Merkmalen, "dass sie Tatsachenwahrheiten für jeden sind, der dem Leben der Parteien näher gekommen ist."

Im Grunde spiegelt das Parteiensystem unser System der Marktwirtschaft wieder. Die Propaganda entspricht der Werbung, das Machtstreben gilt der absoluten Mehrheit (Wachstum sic!), was einem Monopol entspricht und die Abhängigkeit zur Macht ist "leider" noch der Wähler, der mit dem Markt verglichen werden kann. Diese Gedanken erscheinen mir nicht ganz abwegig, zumal es bis heute nicht annähernd demokratische Verhältnisse gibt.

Für S. Weil ist die wesentliche Tendenz der Parteien totalitär, denn aus dem Axiom: Die notwendige und zureichende Bedingung dafür, dass die Partei wirksam der Konzeption des Gemeinwohls dient, um dessentwillen sie existiert, ist der Besitz einer großen Menge Macht."

Der Gedanke zur Totalität von Parteien ergibt sich allein aus der konsequenten Denke, was das Ziel jeder Partei sein muss. Nur, wer denkt i.d.R. so konsequent? (Nichtdenken scheint ja, wie ich kürzlich lernen konnte, Originalität auszudrücken).

Wer noch skeptisch ist, hinsichtlich der Notwendigkeit (Berechtigung) von Parteien, mag sich aus folgendem Beispiel selbst die Antwort geben. Und die kann für mich nur eindeutig ausfallen. "Nehmen wir an, ein Mitglied einer Partei - Abgeordneter, Kandidat oder einfach Aktivist - geht öffentlich folgende Verpflichtung ein: "Wann immer ich mich mit einem politischen oder sozialen Problem befasse, verpflichte ich mich, die Tatsache, dass ich Mitglied jener Gruppe bin, völlig zu vergessen und mich ausschließlich um das Gemeinwohl und die Gerechtigkeit zu sorgen.""
Wer demjenigen freundlich gesonnen ist würde wohl fragen: Warum bist du dann Anhänger einer Partei?

Wenn also jemand seinem "Gewissen folgt", wie es doch unsere Abgeordneten tun sollen, der gerät unverzüglich in einen Konflikt, denn "Er kann seine Partei nicht von diesem Entschluss in Kenntnis setzen. Er befindet sich ihr gegenüber somit in einem Zustand der Lüge."

Aktuell lässt sich diese Situation trefflich bei Bundesjustizminister Heiko Maas beobachten, der eine klare Meinung und Position zur Vorratsdatenspeicherung hatte. Es gab also bei ihm eine Übereinstimmung von Überzeugung und Inhalt und er sah sich zudem noch als Verteidiger des Gemeinwohls. Nun ist es völlig anders gekommen und Maas vertritt jetzt eine völlig andere Meinung. Was ist hier wohl auf der Strecke geblieben?

Es ergeben sich nun drei Formen von Lüge - gegenüber der Partei, gegenüber der Öffentlichkeit, gegenüber sich selbst - ist die erste bei weitem die harmloseste (nicht aber, was die ggf. die Folgen für den Abgeordneten betrifft). Wenn aber die Zugehörigkeit zu einer Partei immer und in jedem Fall zur Lüge zwingt (das System die Lüge quasi voraussetzt), dann ist die Existenz der Parteien absolut und bedingungslos ein Übel."

Simone Weil legt äußersten Wert auf die besondere Tiefe der Wahrheit und in der Verbindung damit die Gerechtigkeit. Sie schreibt: "Die Parteien sind ein fabelhafter Mechanismus, der bewirkt, das über ein ganzes Land hinweg nicht ein einziger Geist seine Aufmerksamkeit und Anstrengung widmet, in den öffentlichen Angelegenheiten das Gute, die Gerechtigkeit, die Wahrheit zu erkennen. Daraus ergibt sich - von ganz wenigen Zufällen abgesehen -, dass nur Maßnahmen beschlossen und durchgeführt werden, die dem Gemeinwohl, der Gerechtigkeit und der Wahrheit entgegenstehen."

Und wer nun vielleicht meint, diese ihre Gedanken seien religiöser Tradition entsprungen, der lese hier: "Man muss zugeben, dass der Mechanismus geistlicher und geistiger Unterdrückung, der den Parteien eignet, von der katholischen Kirche in ihrem Kampf gegen die Häresie in die Geschichte eingeführt worden war."

Simone Weils´ oberste Instanz ist die "Evidenz des inneren Lichts", dass ich für weit mehr als bloße Gewissensmaßstäbe halte. Sie ist für sie das Urteilsvermögen, was dem Geist den Zugang zur Wahrheit öffnet, gegen alle Kollektive, die Wahrheiten verkaufen wollen. Aber das zu vertiefen wäre eine andere Baustelle, die sich bei S. Weil ausführlicher darstellt.

S. Weil gibt in der Schrift noch weitere Hinweise, wie sich ohne Parteien gesellschaftliche Willensbildung demokratisch artikulieren lässt. Wobei die Frage bleibt: Es ist ein sonderbares Paradox, dass Maßnahmen, die keinerlei Nachteile haben, de facto von allen die geringste Aussicht haben, beschlossen zu werden. man sagt sich: Wenn es so einfach wäre, warum ist es dann nicht schon längst geschehen?"

Deutscher Titel: Simone Weil - Anmerkung zur generellen Abschaffung der politischen Parteien - Diaphanes 2009 (Übersetzung Esther von der Osten)

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