Fünf Minuten Rechtsphilosophie

Gustav Radbruch: Ein Rechtsphilosoph, der die Grenzen des vom Menschen gesetzten positiven Rechts deutlich machte und auch durch die Radbruch’sche Formel bekannt wurde.

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Gustav Radbruch aus "Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht" (eine Hilfestellung für Richter):

Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als ‚unrichtiges Recht‘ der Gerechtigkeit zu weichen hat. Es ist unmöglich, eine schärfere Linie zu ziehen zwischen den Fällen des gesetzlichen Unrechts und den trotz unrichtigen Inhalts dennoch geltenden Gesetzen; eine andere Grenzziehung aber kann mit aller Schärfe vorgenommen werden: wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewußt verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur ‚unrichtiges‘ Recht, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur. Denn man kann Recht, auch positives Recht, gar nicht anders definieren als eine Ordnung und Satzung, die ihrem Sinne nach bestimmt ist, der Gerechtigkeit zu dienen.

Gustav Radbruch lässt sich als vielseitiger Intellektueller lesen, der gerade bei Fragen, die sich mit dem Widerstand gegen die Staatsgewalt beschäftigen, wichtige Antworten (zumindest Lösungen) anbietet, die gerade heute wieder in dem besonders mit dem positiven Recht durchsetzten Gesellschaft Probleme aufwirft, die mehr und mehr zur Rechtfertigung und Absicherung der Herrschaftsansprüche dienen und sich von der Gerechtigkeit entfernt. Einer Gerechtigkeit, die sich der Vernunft erschließt und auch als Naturrecht bezeichnet werden kann.

Nun aber zu dem eigentlichen Text, der am 12.09.1945 in der Rhein-Neckar-Zeitung erschienen ist:

Fünf Minuten Rechtsphilosophie

Erste Minute
Befehl ist Befehl, heißt es für den Soldaten. Gesetz ist Gesetz, sagt der Jurist. Während aber für den Soldaten Pflicht und Recht zum Gehorsam aufhören, wenn er weiß, daß der Befehl ein Verbrechen oder ein Vergehen bezweckt, kennt der Jurist, seit vor etwa hundert Jahren die letzten Naturrechtler unter den Juristen ausgestorben sind, keine solche Ausnahmen von der Geltung des Gesetzes und vom Gehorsam der Untertanen des Gesetzes. Das Gesetz gilt, weil es Gesetz ist, und es ist ein Gesetz, wenn es in der Regel der Fälle die Macht hat, sich durchzusetzen.

Diese Auffassung vom Gesetz und seiner Geltung (wir nennen sie die positivistische Lehre) hat die Juristen wie das Volk wehrlos gemacht gegen noch so willkürliche, noch so grausame, noch so verbrecherische Gesetze. Sie setzt letzten Endes das Recht der Macht gleich, nur wo die Macht ist, ist das Recht.

Zweite Minute
Man hat diesen Satz durch einen anderen Satz ergänzen oder ersetzen wollen: Recht ist, was dem Volke nützt.

Das heißt: Willkür, Vertragsbruch, Gesetzwidrigkeit sind, sofern sie nur dem Volke nützen, Recht. Das heißt praktisch: was den Inhaber der Staatsgewalt gemeinnützig dünkt, jeder Einzelfall und jede Laune des Despoten, Strafe ohne Gesetz und Urteil, gesetzloser Mord an Kranken sind Recht. Das kann heißen: der Eigennutz der Herrschenden wird als Gemeinnutz angesehen. Und so hat die Gleichsetzung von Recht und vermeintlichem oder angeblichem Volksnutzen einen Rechtsstaat in einen Unrechtsstat verwandelt.

Nein, es hat nicht zu heißen: alles was dem Volke nützt, ist Recht, vielmehr umgekehrt: nur was Recht ist, nützt dem Volke.

Dritte Minute
Recht ist Wille zur Gerechtigkeit. Gerechtigkeit aber heißt: ohne Ansehen der Person richten, an gleichem Maße alle messen. Wenn die Ermordung politischer Gegner geehrt, der Mord an Andersrassigen geboten, die gleiche Tat gegen die eigenen Gesinnungsgenossen aber mit den grausamsten, entehrendsten Strafen geahndet wird, so ist das weder Gerechtigkeit noch Recht

Wenn Gesetze den Willen zur Gerechtigkeit bewußt verleugnen, z.B. Menschenrechte Menschen nach Willkür gewähren und versagen, dann fehlt diesen Gesetzen die Geltung, dann schuldet das Volk ihnen keinen Gehorsam, dann müssen auch die Juristen den Mut finden, ihnen den Rechtscharakter abzusprechen.

Vierte Minute
Gewiß, neben der Gerechtigkeit ist auch der Gemeinnutz ein Ziel des Rechts. Gewiß, auch das Gesetz als solches, sogar das schlechte Gesetz, hat noch immer einen Wert - den Wert, das Recht Zweifeln gegenüber sicherzustellen. Gewiß, menschliche Unvollkommenheit läßt im Gesetz nicht immer alle drei Werte des Rechts: Gemeinnutz, Rechtssicherheit und Gerechtigkeit, sich harmonisch vereinigen, und es bleibt dann nur übrig abzuwägen, ob dem schlechten, dem schädlichen oder ungerechten Gesetze um der Rechtssicherheit willen dennoch Geltung zuzusprechen, oder um seiner Ungerechtigkeit oder Gemeinschädlichkeit willen die Geltung zu versagen sei. Das aber muss sich dem Bewußtsein des Volkes und der Juristen tief einprägen: es kann Gesetze mit einem solchen Maße von Ungerechtigkeit und Gemeinschädlichkeit geben, daß ihnen die Geltung, ja der Rechtscharakter abgesprochen werden muß.

Fünfte Minute
Es gibt also Rechtsgrundsätze, die stärker sind als jede rechtliche Satzung, so daß ein Gesetz, das ihnen widerspricht, der Geltung bar ist. Man nennt diese Grundsätze das Naturrecht oder das Vernunftrecht. Gewiß sind sie im Einzelnen von manchem Zweifel umgeben, aber die Arbeit der Jahrhunderte hat doch einen festen Bestand herausgearbeitet, und in den sogenannten Erklärungen der Menschen- und Bürgerrechte mit so weitreichender Übereinstimmung gesammelt, daß in Hinsicht auf manche von ihnen nur noch gewollte Skepsis den Zweifel aufrechterhalten kann.

In der Sprache des Glaubens aber sind die gleichen Gedanken in zwei Bibelworten niedergelegt. Es steht einerseits geschrieben: ihr sollt gehorsam sein der Obrigkeit, die Gewalt über euch hat. Geschrieben steht aber andererseits auch: ihr sollt Gott mehr gehorchen als den Menschen - und das ist nicht etwa nur ein frommer Wunsch, sondern ein geltender Rechtssatz. Die Spannung aber zwischen diesen beiden Sätzen kann man nicht durch ein drittes lösen, etwa durch den Spruch: Gebet dem Kaiser was des Kaisers und Gott was Gottes ist -, denn auch dieses Wort läßt die Grenzen im Zweifel. Vielmehr: es überlässt die Lösung der Stimme Gottes, welche nur angesichts des besonderen Falles im Gewissen des Einzelnen zu ihm spricht.

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Da nun der Lauf der Zeit die Stellung Gottes als "oberste Prämisse" (Gesetzgeber) infrage gestellt, bzw. relativiert, bzw. ganz als Maßstab entledigt hat (trotz Säkularisierung aber immer noch im Gedankengut vorhanden ist), müssen wir uns auf die von Radbruch herausgestellten "Arbeiten der Jahrhunderte" stützen, die als kollektive Leistung und durch den Gang durch die "Schluchten des Unrechts" erstritten wurden.

Und nun Frage sich jeder, wie es mit einer Gesetzgebung bestellt sein kann, die es den Mitarbeitern der Arbeitsagenturen gestattet, arbeitslosen Menschen die Gelder derart zu streichen, dass sie unter das Existenzminimum gedrückt werden und auch noch die Wohnung verlieren können. Hier hat sich ein gesellschaftlicher und rechtlicher Unrechtszustand etabliert, den ich locker unter die Definitionen Radbruchs subsumieren würde.

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Hinweis @Gebe - Nachtrag 21.03.2016
Artikel der Universität Potsdam Gustav Radbruch:
Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht - (Süddeutsche Juristenzeitung 1946, S. 105–108).

Biografisches über Gustav Radbruch

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