"Die machen mit uns Bürgern, was Sie wollen." und analog ist es nicht nur zu Wahlkampfzeiten zu vernehmen, wenn mal wieder über die Politiker geschimpft und das eigene Verhalten dabei marginalisiert (ausgeblendet) wird.
Worauf lässt sich dieses Verhalten zurückführen und gibt es entsprechende Literatur, die erhellendes darüber zu sagen hat? Ja es gibt sie und es ist u.a. die immer noch oder wieder aktuelle Kritische Theorie (kritische Gesellschaftstheorie oder auch kritische Sozialphilosophie genannt), die über die marxistische Denkrichtung der Entfremdung durch ökonomische Faktoren hinaus (wiewohl auch diese Faktoren Einfluss ausüben) die in der Industriegesellschaft vorherrschenden Kräfte der "technischen Vernunft", "formalisierten Vernunft", "technischen Rationalität", "eindimensionales Denken" erfordern (generiert), wie sie laut den Denkern der Frankfurter Schule (FS) ihren Ausdruck im Positivismus und Pragmatismus erhält.
Sicher lässt sich auch diese Denkrichtung kritisieren, zumal sie utopistische Gesamtentwürfe erstellt und damit Fragen offen bleiben (müssen), die die Herrschaftsstrukturen selbst betrifft, die sich nicht nur aus der "technologischen Rationalität" oder "instrumentellen Vernunft" ableiten lässt.
Deshalb zur Auffrischung oder Erinnerung nun eine Textpassage, die einiges zum Verhalten der Wähler erklären kann:
"Neben dieser (a) instrumentalistischen Grundtendenz hat man der technischen Rationalität noch eine Reihe von anderen Merkmalen zugeschrieben: so (b) die Tendenz, vornehmlich quantitative Kategorien an die Wirklichkeit anzulegen und möglichst alle Phänomene und Sachverhalte unter formale Gesetzmäßigkeiten und quantifizierbare Regeln zu subsumieren. Das "Diktat der Quantifizierung" (Adorno) wird für die Kritischen Theoretiker in der Gegenwart an der mathematischen Logik und an übertriebenen Mathematisierungstendenzen in den einzelnen Wissenschaften offensichtlich oder etwa an Bemühungen, unbedingt quantitative Kriterien zur Arbeitsplatzbewertung festsetzen zu wollen (neue Taylorisierung), Freizeitverhalten durch das Vorschreiben von quantitativen Normen zu regulieren usw.
Die Tendenz zur Quantifizierung, Formalisierung und Rationalisierung (Ökonomisierung) der menschlichen Lebensbereiche hat zur Folge, das wesentliche qualitative Aspekte und Unterschiede im menschlichen Leben eingeebnet und Freiheitsspielräume eingeschränkt werden (was dem einen oder anderen gar als positives Element erscheint!).
Ein Gedanke, der in diesem Zusammenhang erwähnt werden muss, weil er in der Kritischen Theorie ein oft wiederholtes Denkmotiv darstellt, ist folgender: der moderne Mensch, der in der technologischen Rationalität (und konsumtiv abhängig) befangen ist, schafft auf der einen Seite immer neue Gesetzmäßigkeiten in der Natur und der Gesellschaft, weil er deren Phänomene kategorisieren, rationalisieren und damit beherrschbar machen will. Auf der anderen Seite erkennt er aber die von ihm selbst in die Natur und die Gesellschaft projizierten Gesetzmäßigkeiten nicht mehr als seine eigenen Denkprodukte (es gibt keine Alternativen), sondern er hält sie für von ihm unabhängige, unveränderliche Sachzwänge, denen er sich hilflos ausgeliefert sieht.
Dieser Gedanke verweist auf ein weiteres Kennzeichen jener instrumentell-technologischen Denkweise, deren Kritik im Philosophieren der Frankfurter Schule einen so zentralen Stellenwert einnimmt: (c) die resignative Inaktivität und den Konformismus gegenüber allem Bestehenden und Etablierten (also Denkweisen, Institutionen, Verhältnisse usw.).
An weiteren Merkmalen der technologischen Rationalität oder instrumentellen Vernunft heben die Philosophen der Kritischen Theorie hervor: (d) die Tendenz zur Stabilisierung der in der Gesellschaft gegebenen Macht- und Herrschaftsverhältnisse; (e) die Tendenz zur Unterdrückung von schöpferischer Spontaneität und von unreglementierten, spekulativ-kühnen Gedankenentwürfen, die über die eingefahrenen Denkbahnen hinausgehen (wie es aktuell z.B. notwendig wäre zum Aufbau einer neuen Verkehrsinfrastruktur); (f) die Unfähigkeit, gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Prozesse in ihrem Gesamtzusammenhang und historischen Kontext zu erkennen.
Der in der technologischen Rationalität befangene Mensch kann an solchen Prozessen angeblich immer nur isolierte Ereignisse und Aspekte sehen, er ist nicht dazu in der Lage, diese Prozesse in ihrer "Totalität" zu erfassen; (g) die Tendenz zur Standardisierung und Nivellierung der menschlichen Denkweisen, Bedürfnisse und Verhaltensweisen. Diese Tendenz wird durch die von der Reklame- und Konsumindustrie verbreiteten Stereotypen besonders gefördert sowie durch jene Normierung von Denk- und Verhaltensformen, die mit der Anpassung an die Zwänge der Rationalisierung und Mechanisierung im modernen Arbeitsprozess verbunden ist.
Als letztes Merkmal der technologischen Rationalität sei hier auch noch (h) die Tendenz genannt, (moralische, politische usw.) Wertentscheidungen aus dem Bereich des vernünftig Begründbaren auszuschließen und sie als Ergebnisse von irrationalen Entschlüssen hinzustellen. Gegen diese Tendenz wurde von den Kritischen Theoretikern der Vorwurf des Dezisionismus erhoben."
Zitat Ende.
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Nachtrag 30.08.2017
Kurzcharakteristik der Kritischen Theorie (KT) in der Einführung von Kurt Salmun als Zitate.
"a) Eine Kernannahme der KT, die als allgemeiner spekulativer Bezugsrahmen hinter den meisten Argumentationen ihrer Vertreter steht, ist eine Verdinglichungs- oder Entfremdungsthese. Diese These besagt in ihrer einfachsten Form ausgedrückt, dass die Gesellschaft und die Menschen nicht das sind, was sie ihrem Wesen oder ihren Möglichkeiten nach sein könnten. Sie sind ihrem Wesen bzw. ihren Möglichkeiten entfremdet. (...)
Fragt man nach den Ursachen des Entfremdungs- und Verdinglichungsphänomens, dass die Philosophen der KT immer wieder eindringlich beschrieben haben, wird man von Horkheimer, Adorno und Marcuse auf mehrere Faktoren verwiesen (nun als Aufzählung): die kapitalistischen Produktions- und Marktverhältnisse - "Warenfetischismus" -, der den Beziehungen der Menschen zu den Dingen und untereinander Warencharakter verleiht, d.h. sie zu unpersönlichen Mittel-Zweck-Verhältnissen und Nutzensbeziehungen macht, die extreme Arbeitsteilung im Produktionsprozess, die Mechanisierung des Arbeitsprozesses, die Bürokratisierung der Verwaltung, die Massenproduktion, die Reklame und Kulturindustrie, die Massenmedien usw. Der letzte Punkt wurde bereits eingangs unter
b) weiter ausgeführt.
c) Eine weitere Kernthese der KT ist die These vom Repressions- und Herrschaftscharakter der modernen, fortgeschrittenen Industriegesellschaft. Diese These besagt in ihrer allgemeinsten Fassung, dass die moderne, hochtechnisierte Industrie- und Wohlstandsgesellschaft ein umfassendes System von Unterdrückung und Herrschaft darstellt. Vor allem Marcuse hat diese These immer wieder nachdrücklich vertreten und sie u. a. aus der Kulturphilosophie und der Philosophie der Psychoanalyse von Sigmund Freud zu begründen versucht. Er übernimmt dabei von Freud die Auffassung, dass die bisherige gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung der Menschheit nur aufgrund von permanenter Unterdrückung und Hemmung von menschlichen Triebbedürfnissen möglich war. (...)
Für unseren Zusammenhang ist nun bedeutsam, dass Marcuse über Freud hinausgehend die Ansicht vertritt, in allen bisherigen Gesellschaften sei jenes Maß an Triebunterdrückung und repressiver Triebmodifikation, das für das Fortbestehen der Menschheit unerlässlich war, noch um ein zusätzliches, unnotwendiges Maß an Unterdrückung verstärkt gewesen. Dieses unnotwendige Maß an Unterdrückung in der sozialen Entwicklungsgeschichte der Menschheit sei stets auf ungerechtfertigte Interessen und Institutionen von Herrschaft zurückzuführen gewesen. Auch für die moderne, fortgeschrittene Industriegesellschaft gilt in den Augen der Vertreter der KT, dass in ihr ein hohes Maß von unnotwendiger Unterdrückung und Herrschaft institutionalisiert sei (und ihr auch immanent ist!) (...)
Die Zwänge dieser technischenApparate (Strukturen), die oftmals gar nicht mehr als Zwänge empfunden werden, gehen soweit, dass sie die Menschen über die Suggestion von unechten Bedürfnissen und die Verinnerlichung von stereotypen Verhaltensformen bis in die Privatsphäre hinein beherrschen.
d) Im engen Zusammenhang mit der Repressions- und Herrschaftshypothese in der KT steht die These von der Manipulation der Bedürfnisse. Dieser These zufolge führen die Menschen in der modernen Konsum- und Wohlstandsgesellschaft, in der sie ihre geistigen und materiellen Bedürfnisse in einem Ausmaß wie nie zuvor befriedigen können, bloß subjektiv und oberflächlich gesehen ein zufriedenes Leben. Bei genauerer Betrachtung erweisen sich (aber) nahezu alle Bedürfnisse, deren Befriedigung unter den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen Zufriedenheit und Glücksgefühle vermitteln, als falsche, repressive Bedürfnisse, weil sie den Fortbestand eines Lebens in Unfreiheit, harter Arbeit (prekäre dazu!) unnotwendiger Triebrepression nur verewigen. Sie werden den Menschen letzten Endes von den herrschenden Mächten (oder auch systemischen Ergebnissen) in dieser Gesellschaft suggeriert, die daran interessiert sind, den gesellschaftlichen Status quo aufrecht zu erhalten (und wer kann schon ernsthaft bestreiten wollen, dass das nicht vorzüglich gelingt).
e) Ein weiteres Hauptcharakteristikum der KT ist ein kritisch-revolutionärer Grundzug. Dieser Grundzug ergibt sich nicht zuletzt aus dem Anspruch der KT, die Alternative zur "traditionellen Theorie" zu sein, d.h. zu jener Denkweise und theoretischen Einstellung, die (mehr oder weniger) blind am Gegebenen orientiert ist. Aus diesem Anspruch heraus üben die Vertreter der KT scharfe Kritik an anderen philosophischen Richtungen, vor allem dem Positivismus und Pragmatismus, an etablierten wissenschaftlichen Denkformen und an der modernen Industriegesellschaft. (...)
Daraus ergibt sich dann im Rahmen der KT mehr oder weniger explizit die Forderung, diese Gesellschaft von Grund auf zu revolutionieren, d.h. nicht nur die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Organisationsformen zu verändern sondern auch das Denken (selbst), die Einstellungs- und Bedürfnisstruktur und sogar die die Sprache der darin lebenden Menschen.
f) Als weiteres Charakteristikum der KT sei hier die vieldiskutierte These von den erkenntnisleitenden Interessen in den wissenschaftlichen Forschungsprozessen genannt (explizit von Habermas, aber vorformuliert von Horkheimer in einem Aufsatz von 1937). Habermas unterscheidet drei Typen von Wissenschaften bzw. wissenschaftlichen Denkweisen: die empirisch-analytischen, die historisch-hermeneutischen und die systematischen Handlungswissenschaften. Diesen drei Wissenschaftstypen werden drei erkenntnisleitende Interessen zugeordnet, welche jeweils die Konstitution von Erkenntnissen und Theorien im Rahmen dieser Wissenschaften bestimmen. In der Reihenfolge der Aufzählung wären das technische Erkenntnisinteressen (Beherrschung der Natur), ein praktisches Erkenntnisinteresse, das ist ein Interesse, das die „Intersubjektivität“ handlungsorientierter Verständigung garantieren will und die systematischen Handlungswissenschaften (laut Habermas Ökonomie, Soziologie und Politik), verfolgen als kritische Sozialwissenschaften ein „emanzipatorisches Interesse“, d.h. sie zielen von vornherein darauf ab, den Menschen aus naturwüchsigen Zwängen zu befreien und ihn durch Selbstreflexion zur Mündigkeit zu verhelfen.
g) In seiner sog. Theorie des kommunikativen Handelns unterscheidet Habermas – in teilweiser Anknüpfung an die These von den erkenntnisleitenden Interessen – zwei grundsätzlich verschiedene Typen des Handelns: 1.) das erfolgsorientierte zweckrationale Handeln und 2.) das verständigungsorientierte kommunikative Handeln. Habermas möchte in Bezug auf das letztere gewisse Regeln herausarbeiten, die immer schon der Idee vernünftiger Rede zugrundelagen und die bei jeder Verständigungsbemühung als implizite Geltungsansprüche einer idealen Sprechsituation vorausgesetzt werden. Als solche Geltungsansprüche werden genannt: Verbindlichkeit, Wahrheit, Wahrhaftigkeit und Richtigkeit.
--> Daraus die Entwicklung einer allgemeinen Theorie der kommunikativen Kompetenz und Rationalität (zum Unterschied von der kognitiven- instrumentellen Rationalität), die einer kritischen Gesellschaftstheorie als normativer Maßstab zur Korrektur von Deformationen und „Pathologien“ in der modernen Lebenswelt dienen könnten“.
Text zur kritischen Theorie entnommen aus "Was ist Philosophie?" (UTB), herausgegeben von Kurt Salamun.
Kommentare 15
Interessanter Beitrag.
Und was ja stets bei solchen Aussagen, wie "Gegen die da oben können Sie nichts machen", u.ä., das Frappierende ist, ist die Dämlichkeit vermeintlich logischen Anspruchs und Lebensweisheit dabei, welche aber nur Hosenscheißer-Ausreden in Form von Plausibilitäts-Mantren sind.
Aber in Wirklichkeit und tatsächlich ein logischer Schluß ist, daß selbst Resignieren und Nichtstun eben Taten sind, nämlich Handlungsprämissen, und zwar äußerst wirksame. So kann gesagt werden, daß die Zuständ, die man meint, daß gegen sie nichts auszurichten sei, genau durch dieses (Nichts)-Tun erzeugt worden ist und dann auch noch mittels solcher schwatzhaften Handlungsanweisungen konsolidiert werden. – Im Grunde ist so ein Vordersatz tiefster Arabismus.
Es ist gut, an die Kritische Theorie zu erinnern, die alles andere als von der Geschichte überholt ist, derer sich allerdings als des schärfsten möglichen Einspruchs gegen das besinnungslose Weiter-so des etablierten Systems die Gesellschaft durch Ignorieren weitgehend entledigt hat. Weniger zufrieden bin ich mit dem Text, den Du hier eingestellt hast, weil er nach der von ihm selbst kritisierten summarischen Methode die Merkmale des Antipositivismus der Kritischen Theorie aufzuzählen versucht. Dabei ist mir die Schwierigkeit durchaus bewußt, mit ein paar Sätzen substantielle Hinweise auf die KT zu geben. Zum Thema der instrumentellen Vernunft könnte man am besten vielleicht auf den Beitrag Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie in dem Sammelband Aufsätze zur Gesellschaftstheorie und Methodologie von Adorno verweisen, dem ein paar erhellende Zitate zu entnehmen wären.
Warum Dein Blog kein diskussionswürdiger Beitrag zu sein scheint, ist mit rätselhaft.
Sehe gerade, wenigstens eine Antwort zu der defaitistischen self fulfilling prophecy des "Gegen die da oben können Sie nichts machen" gibt es wenigstens.
Es ist in Gesprächen auszuloten, auf welchem Stand der jeweilige Gesprächspartner ist und was er oder sie als Problematik überhaupt wahrnimmt.
Ich hatte aus der Einführung von Salmun den Teil des Textes zur Kritischen Theorie ausgewählt, der sich insbesondere auf die Mutlosigkeit (Hilflosigkeit, Resignation, Passivität usw.) bezieht.
Die erzeugte Konformität (die so vielfach nicht gesehen wird) der technologischen Rationalität lässt einen revolutionären Wandel (im Sinne evolutiver Veränderungen) kaum zu, da das als gegen die eigenen Interessen fälschlich ausgelegt wird. Kaum anders lässt sich ansonsten erklären, wie Merkel ein Land wie Deutschland so lange vertreten kann.
Manche Dinge entwickeln sich schon mal später. Und wer es liest, lässt sich leider nicht feststellen.
Ich ergänze im Beitrag noch ein paar Punkte, die Salmun in der Einführung angesprochen hat, lasse aber seine Würdigung und Kritik weg.
Mit dem Nachtrag ist nun hoffentlich der Inhalt der KT etwas deutlicher geworden.
Mutlosigkeit und roter Faden-nehme an, damit sind Menschen verschiedener Altersklassen gemeint.
Ich möchte folgendes anführen für mich:
- das Nichterwähnen von z.B. Altersarmut in Gesprächen k... mich an und entsprechende Vorschläge so halbwegs regulativ einzugreifen
- das Nichtwahrhaben wollen von Kinderarmut oder Armut Alleinstehender Eltern, denn Kinder bedeuten ein größeres Risiko-geeignete Vorschläge?-Frau Schwesig (SPD) leider ehemalige Familienministerin hat sich da stark gemacht und staatliche Vorauszahlungen bis zum 18.Lebensjahr gesetzmäßig verankert
- Der Kampf um Ganztagsschulen und dieses ewige Navigieren war doch entnervend, das prägt und macht müde.
Ja,Mensch kann Alles aus allen Himmelsrichtungen oder nur von oben und unten betrachten aber es gibt Problematiken-sicher falsche Mehrzahl-die dulden kein Betrachten von wo aus immer,weil nach bestimmten Entscheidungen ,,Die Felle weggeschwommen sind....'' Und die bekannten Hinhaltetechnicken müssen endlich mal auch so benannt werden,sonst ist es zum wegrennen,nichtwählen oder aussteigen bzw. Rückzug komplett.
"Das gewohnte ist uns allen recht. Man will keine Veränderungen, also ist die Konsequenz die, man ändert bei sich selber die Dinge so wie man es gerne haben möchte und sich auch damit wohlfühlt."
Der Spielraum eigener Handlungsfreiheit hat natürlich auch etwas mit den Ressourcen zu tun, über die man eigenständig verfügen kann. Ich kann auch als Millionär (Milliardär) eine einfache Lebensweise führen, muss es aber nicht! Allein das Bewusstsein darüber schafft aber gelebte Unabhängigkeit und vermittelt zudem Selbstbewusstsein. Aber egal wie derjenige sich auch verhält, es verändert kaum etwas am System.
In unserer Wohlstandsgesellschaft betrifft es aber viele Menschen dergestalt, dass sie über die alltäglichen Sorgen um Arbeitsplatz, Einkommen, Wohnung, Kinder, Betreuung von Eltern (oder Enkelkindern), Krankheit usw. hinaus nur einen geringen Freiheitsspielraum zur Verfügung haben. Sicher, es gab da schon schlechtere Zeiten, aber die Gesellschaft entwickelt (spaltet) sich wieder in nicht mehr gekannte (erwartete) Zustände zurück.
Das Gewohnte ist uns aber eben nicht allen recht, ansonsten würden wir hier bestimmte Texte nicht so formulieren. Natürlich ist es positiv zu beurteilen, wenn durch den staatlich vermittelten Bildungsstand und/ oder der persönlichen Aneignung entsprechenden Wissens ein kritischer Bewusstseinsstand erreicht wird. Das bedeutet aber auch einen ziemlichen Frustlevel, wenn die erkannte Diskrepanz des Faktischen mit den eigenen Erkenntnissen deutlich auseinander fällt.
In einer komplett durchstrukturierten modernen Gesellschaft der Spezialisierung und Arbeitsteilung ist ein Neuanfang weder möglich, noch kann er gewünscht sein. Aber es muss einen Weg der flexiblen Änderungen geben, der sich auf andere Weise manifestiert. Das bedarf allerdings aufgeklärter Bürger, die sich von den jetzigen Systemzwängen soweit befreien können, dass sie überhaupt erst einmal in der Lage sind, die Vorteile einer Demokratie zu leben, wenn sie denn tatsächlich vom Volke ausgehen soll.
Dazu bedarf es folgender Voraussetzungen:
1. ein Mindestverlangen (Bedürfnis) nach Änderungen,
2. ein Mindesterkennen vorhandener Misstände,
3. eine Mindestvorstellung davon, was geändert oder welches Ziel angestrebt werden sollte,
4. ein hinreichender Impuls (Willen), daraufhin zu arbeiten und sich zu engagieren (organisieren),
5. die Bereitschaft (Notwendigkeit) zum ständigen Lernen und damit verbunden
5. die Erkenntnis, dass es keine endgültigen Lösungen geben kann.
Jeder Punkt für sich gesehen erscheint gering, aber in der Summe eine ziemlich hohe Hürde, die nur von einer Minderheit genommen wird, sowohl aus subjektiven oder auch objektiven Gründen.
Ja, mit dem Nachtrag sind die Kerngedanken der Kritischen Theorie etwas deutlicher geworden. Ich möchte noch ergänzen, daß man die KT als eine historisch angepaßte und reflektierte Fortschreibung der Marxschen Theorie, genauer als eine spezifische Weiterentwicklung einer kritisch-materialistischen Theorie des kulturellen Überbaus verstehen muß.
Darin sind die Begriffe Verdinglichung und Entfremdung zentral. Sie gehen ja auf die ökonomische Basis zurück, die Verdinglichung ist ursprünglich die Verwandlung von Gebrauchswert in Tauschwert, dieser fundamentale Quantifizierungsprozeß, und die Entfremdung ist das Gegenübertreten der eigenen Arbeit als einer fremden Macht, als Kapital.
Eine kleine Anmerkung zum Repressions- und Herrschaftscharakter. Marcuse knüpft an Freuds Unbehagen in der Kultur an, aber er entfernt sich auch wieder, mE stammt der Begriff repressive Entsublimierung von ihm. Man kann schwerlich leugnen, daß wir in einer hedonistischen Gesellschaft leben, dieser Befund gilt auch für die unterprivilegierten Schichten. Jenseits der Arbeit hat uns der Konsumismus voll im Griff. Und im Vergleich mit dem Rest der Welt geht es uns doch scheinbar gut. Die Unterdrückung ist für die meisten subtil und systemisch, kaum bemerkbar und durch einzelne Maßnahmen nicht korrigierbar. Erst in letzter Zeit (Du hast es erwähnt) zeigt sich für immer mehr Menschen eine Rückentwicklung, eine wahrnehmbare Verschlechterung (Prekarität, Kinder- und Altersarmut). Und erst der Widerstand gegen das System, erst das Herausfallen aus dem System provoziert die massive Repression und demaskiert die Klassenherrschaft. Abgesehen von diesem Rand funktioniert das System erstaunlich reibungslos. Und damit kommen wir zu einer weiteren zentralen Erkenntnis der KT, (nicht das Einzelne,) das Ganze ist das Unwahre.
Mein Vorkommentar ist auch eine Antwort auf die Diskussion mit na64. Der Einzelne kann sich zu einem gewissen Grad dem System entziehen, das ist evt mühevoll und kostspielig, aber es geht. Allerdings entlastet es eher, als daß es das System infragestellt. Der Einzelne ist machtlos gegen das System.
Man könnte es auch Verblendungszusammenhang nennen.
Wolfgang Pfreundschuh und eine Textstelle dazu:
"Das Kapital hat keine eigenständige Bewusstseinsmacht nötig, die auch noch durch es versammelt und als Kulturindustrie zusammengebracht werden müsste. Ihm genügt die politische Macht des Kapitals, um die Menschen zu verdingen und die Unfähigkeit des bürgerlichen Verstandes, seine im Warenfetisch fixierten Widersprüchlichkeiten zu durchbrechen. Doch diese Unfähigkeit bedarf keines psychologisch zu verstehenden Vorwurfs, sondern eines Wissens, das aus einer Analyse der Verhältnisse hervorgeht und zu erarbeiten gerade Sache der Intelligenz wäre, die sich durch den Verblendungsvorwurf aus diesen Verhältnissen herausnimmt.
Letzteres würde meinen Vorstellungen entsprechen und geht in eine Selbstverpflichtung über zur Entwicklung eines kritischen Bewusstseins. Die sich aus Fragen ergeben, warum etwas ist wie es ist und nicht anders.
Nachtrag: Wolfram und nicht Wolfgang Pfreundschuh.
Auch ich finde Deinen Hinweis auf die KT und die daran anschliessende Diskussion wichtig. Sie formuliert den theoretischen Begruendungs- und Handlungszusammenhang, der heute die wenigsten Menschen interessiert. Das war in den 60er und 70er Jahren, als die KT noch relativ "breit" diskutiert wurde, auch nicht anders.
Meine individuelle Loesung bestand darin, mich von den gesellschaftlichen "Zwaengen" bewusst zu verabschieden (einschliesslich Konsumverzicht) und einen gesellschaftlich Handlungszusammenhang in der Dritten Welt fuer mich zu entwickeln.
Viele meiner ehemaligen Genossen haben das verstaendlicherweise kritisiert. Hab ich gut verstanden. Und die "Verheissungen" des globalen Kapitalismus haben inzwischen auch Indien ereicht und bedrohen die wenigen Veraenderungen, die wir im Verlauf der Zeit erreicht hatten.
Es gibt wohl kein Entkommen.
Hab das gerade erst gesehen und nur überflogen, kann aber - bei aller Hochschätzung der KT ff. - schomma sagen, daß die o.g. Ansätze letztlich eher wenig zur Frage von polit. Passivität, Resignation/Regression bestimmter Bev.-Teile und polit. Stagnation (Stagn.: im BILD des Politischen mit solchen Dauerrepräsentanten wie Merkel, Özdemir, Varoufakis usw.! Nicht, bzw.weniger, im objektiven Szenario ständig auch neuer Herausforderungen!) beitragen.
Polit. Teilhabe/-nahme ist schon a priori ein äußerst voraussetzungs-volles Geschehen, zu dessen auch noch 'gutem Gelingen' nocheinmal vieles zusammenkommen muß. Hab leider nicht die Zeit, das alles auszuführen, erst recht nicht dazu, aus der Immanenz der angeführten Texte heraus auf die polit. Praxis und die damit verbundenen Erfahrungen hin aus- bzw. überzuschreiten.
Ein wichtiger Kernpunkt, neben der weitgehend berechtigten Deplazierung der "Systemfrage" in diesem komplexen Geschehen, das man sich eben u. a. auch "von unten" ansehen muß, wenn man darüber urteilen will, ist a) auch die Frage der Eliten, ohne die nix geht, und b) das kooperative Un-/Vermögen im je überhaupt erlernten/gewohnten Verhaltensrepertoire bzw. das schwierige bis Miss-Verhältnis von Herausforderungen/Aufgaben gegenüber persönlichen und allg. Fähigkeiten, die zu Bewältigung bzw. Lösung erforderlich sind.
Wenn ich das Stichwort "Phantasie" aufgreife, dann nehme ich den Begriff und übertrage (verallgemeinere) es mit dem Gefühl. Antonio Damasio unterscheidet hier Gefühle als geistige kognitive Erfahrungen, die als Reaktion aufgrund physischer Emotionen auftreten, also unmittelbare Impulse wie Ärger, Mitgefühl, Freude usw. Dabei ist die Emotion keine unbeeinflussbare Größe und lässt sich willentlich beeinflussen, bzw. ggf. neu ausrichten. Die Erklärung deshalb, weil diese Bereiche menschlicher Konstitution einen wichtigen Einfluss auf das generelle Verhalten hat, wie es sich auch ihrem Text entnehmen lässt.
Vieles wird also geleitet durch das Gefühl und den Schablonen des Denkens, die sich aus der eigenen Vita ergibt. Wenn man das erkennt, dann kann es nur richtig sein, diese Gefühle aufzunehmen (zu berücksichtigen), die die Menschen umtreiben. Es bedarf daher der Kenntnis der jeweiligen Lebensumstände und die Beantwortung der Frage, ob sich daraus etwas generalisieren lässt, was als politisch verwertbarer Input dienen kann und zwar nicht nur, um überhaupt Stimmen der Wähler zu bekommen, sondern dem eigentlichen Anspruch der Demokratie gerecht zu werden, die doch eine der Anliegen der Bürger sein sollte.
Sie haben gute Beispiele aufgeführt, wie die den Bürger unmittelbar betreffenden Faktoren nicht zu den eigentlich notwendig erkennbaren Änderungen von Produktion und Handlungsweisen führen, sondern zu bloßen Scheinlösungen, die den Abläufen des Systems Vorgang geben vor den Lebensinteressen der Menschen. Das ist kein einmaliger Vorrgang, sondern beinahe ein alltägliches Erleben, wenn mit etwas geschärften Blick die politischen Entscheidungen "seziert" werden.
"Das Thema Infrastruktur Arbeit und Verkehr bietet soviel Möglichkeiten mit neuen Ideen, mit anderer Phantasie und Meinung auch ohne Politik und Wirtschaft, mit Ideen von Bürgern, die vorherrschenden negativen standhaft festgefahrenen Ritualen Dinge ins positive verändern zu können (...) --> volle Zustimmung!
Sicher lässt sich das eigene Leben in gewissem Ausmaß so ändern, dass sich sowohl eine theoretische, wie auch praktische Distanz zum System entwickeln lässt, so wie es @Aussie42 gemacht hat. Aber man sollte dabei nicht der Illusion erliegen: "Es gibt wohl kein Entkommen.", wie er es zum Schluss formuliert hat.
Das ist nicht zwingend als Resignation auszulegen, wohl aber eine nüchterne Einschätzung der eigenen Möglichkeiten in den gegebenen Verhältnissen.