Ungewöhnliche Gedanken von Pierre Flourens (1794 - 1867), die mir zumindest beim Stand der damaligen Wissenschaft als sehr verantwortungsbewusst erscheinen, zumal mir der totale Erinnerungsverlust nach Narkosen durchaus bekannt ist. Aber selbst bei der Annahme "gleicher Schmerzintensität" wäre immer noch die Entscheidung des Patienten zu treffen, ob es denn besser wäre, die Schmerzen auch noch im Erinnerungsvermögen zu behalten. Zumal die ganzen Qualen zusätzlich vom Arzt bei jeder OP mitzuerleben und zwecks präziser Durchführung verdrängt werden müssten.
Er schreibt:
"Noch immer kann ich mich nicht entschließen, der Anwendung des Chloroforms in der allgemeinen Praxis der Operationen zuzustimmen. Wie Ihnen bekannt sein dürfte, habe ich diesem Mittel ausgedehnte Studien gewidmet und aufgrund von Tierexperimenten als einer der ersten seine spezifischen Eigenschaften beschrieben.
Meine Skrupel sind der einfachen Tatsache begründet, dass die Operation mit Chloroform, ebenso wie vermutlich auch die anderen bekannten Formen der Narkose eine Täuschung darstellen. Die Mittel wirken lediglich auf gewisse motorische und Koordinationszentren sowie auf die residuale Fähigkeit der Nervensubstanz. Sie verliert unter dem Einfluss des Chloroforms einen bedeutenden Teil ihrer Eigenschaft, Spuren von Eindrücken aufzunehmen, keineswegs aber die Empfindungsfähigkeit als solche.
Meine Beobachtungen weisen im Gegenteil darauf hin, dass in Verbindung mit der allgemeinen Innervationslähmung (Unterbrechung von Nervenimpulsen) Schmerzen noch heftiger empfunden werden, als im normalen Zustand. Die Täuschung des Publikums ergibt sich aus der Unfähigkeit des Patienten, sich nach vollendeter Operation an die Vorgänge zu erinnern. Würden wir unseren Kranken die "Wahrheit" (Hochkommata von mir) sagen, so würde sich wahrscheinlich keiner von ihnen für das Mittel entschließen, während sie jetzt, infolge unseres Stillschweigens, auf seinen Gebrauch zu insistieren pflegen".
Und gefunden hatte ich den Passus in der "Dialektik der Aufklärung", wobei noch ein weiterer Vorbehalt von Flourens zitiert wird, der die Ärzte betrifft, die sich durch die Narkosen zu "leichtfertigerem" Verhalten hinreißen lassen, was ansonsten bei Tieren durchgeführt würde.
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Eine kuriose Textstelle. Ich möchte sie gerne ergänzen; Zitat, ebd.:
»Der Raum, der uns von anderen trennt, bedeutete für die Erkenntnis dasselbe wie die Zeit zwischen uns und dem Leiden unserer eigenen Vergangenheit; die unüberwindbare Schranke. … Verlust der Erinnerung als transzendentale Bedingung der Wissenschaft. Alle Verdinglichung ist ein Vergessen.«
Vieles dreht sich um diese Schranke, letztlich ist Kritik wie Denken, Dennoch-Leben, ein Versuch, die Unüberwindbarkeit nicht als verewigt zu glauben. Die Erinnerung gibt einen Teil der Subjektivität zurück bzw. stellt diesen erst her, gegen das Prinzip der sozialen Kausalität; und mit ihr, sofern begriffen (vgl. Analyse / das Unbewusste).
Das Ergebnis des Vergessens (im Text) ist sehr ambivalent. Aber ehrlich gefragt: wer will an Begriffen, Worten, Eigenschaften schon ständig die Spuren historischen Schmerzes ablesen, nachempfinden? Wie viel Schmerz war historisch sozusagen notwendig, damit es zu dem Artikel 1 unseres Grundgesetzes kam? Auch hier zeigt sich: das Vergessen könnte Wiederholung (der falschen Geschichte) bedingen. Wir sind gewarnt!
Der kuriose Abschnitt setzt meiner Meinung nach einen Gedanken fort bzw. erläutert diesen motivisch, den ich gerne einfüge. Zitat, ebd., Begriff der Aufklärung:
»Die Anstrengung, das Ich zusammenzuhalten, haftet dem Ich auf allen Stufen an, und stets war die Lockung, es zu verlieren, mit der blinden Entschlossenheit zu seiner Erhaltung gepaart. Der narkotische Rausch, der für die Euphorie, in der das Selbst suspendiert ist, mit todähnlichem Schlaf büßen läßt, ist eine der ältesten gesellschaftlichen Veranstaltungen, die zwischen Selbsterhaltung und -vernichtung vermitteln, ein Versuch des Selbst, sich selber zu überleben.«
"Der Raum, der uns von anderen trennt .." und "Die Anstrengung, das Ich zusammenzuhalten .. (in Verbindung mit seiner Vergangenheit im Zeitfluss und "schwächelndem Erinnerungsvermögen)".
Da klingt es schon kurios, wenn von: "Ich habe mein Bewusstsein verloren", gesprochen wird, als wäre da ein Subjekt, dass zu dem Zeitpunkt noch vorhanden wäre und nur seine Eigenschaft, das Bewusstsein (wie etwas objekthaftes) temporär abgelegt hätte. Aber was ist schon das Ich, wenn es nicht bei Bewusstsein ist.
Zitat aus D. d. Aufklärung:
"In nichts anderem als in der Zartheit und dem Reichtum der äußeren Wahrnehmungswelt besteht die innere Tiefe des Subjekts. Wenn die Verschränkung unterbrochen wird, erstarrt das Ich. Geht es, positivistisch, im Registrieren von Gegebenen auf, ohne selbst zu geben, so schrumpft es zum Punkt, und wenn es idealistisch, die Welt aus dem grundlosen Ursprung seiner selbst entwirft, erschöpft es sich in sturer Wiederholung. Beide Male gibt es den Geist auf. Nur in der Vermittlung, in der das nichtige Sinnesdatum den Gedanken zur ganzen Produktivität bringt, deren er fähig ist, und andererseits der Gedanke vorbehaltlos dem übermächtigen Eindruck sich hingibt, wird die kranke Einsamkeit überwunden, in der die ganze Natur befangen ist. Nicht in der von den Gedanken unangekränkelten Gewissheit, nicht in der vorbegrifflichen Einheit von Wahrnehmung und Gegenstand, sondern in ihrem reflektierten Gegensatz zeigt die Möglichkeit von Versöhnung sich an. Die Unterscheidung geschieht im Subjekt, das die Außenwelt im eigenen Bewusstsein (sich bewusst sein) hat und doch als anderes erkennt. Daher vollzieht sich jenes Reflektieren, das Leben der Vernunft, als bewusste Reflektion."
Geheimnisvoll ist für mich immer wieder der Vorgang, wenn ein Kind (Enkel) sich kurz vor dieser Grenze bewegt und noch nicht die Differenz erkennt. Denn wie kann eine "Projektion" sich selbst erkennen? Hier fehlt der Verständnishorizont für das Rätsel vom Ich (Geist?).
Der Begriff, d. h. die Differenz, ist wohl bereits im Kindesalter gegeben bzw. entwickelt. Allerdings scheint Kindern die Idee der (angesprochenen) Versöhnung entweder fremd oder nicht wirklich wichtig zu sein. (Nur Kindern?)
Da man selbst anders ist, ist alles in die Ebene der Andersheit gebracht. Vielleicht liegt aber gerade darin die versöhnliche Haltung; und nicht in der sogenannten Überwindung der Trennung vom Anderen durch Aneignung.
Ich meine, man muss quasi auch nicht alles wissen, und doch weiß man etwas. Der Satz stimmt dann auch ohne das Etwas. Nur die sprachliche Gewohnheit erwartet noch ein Objekt zum Wissen (überhaupt: Wissen als andauernde Tätigkeit in Differenz zum Objekt Wissen).
Zu Flourens: dass die Betäubung nicht vollständig stillstellt, kann doch sein, wenn der Körper nachvollzieht, was geschah.
Geist ist eventuell doch schon ein nicht ausführlich artikuliertes Wissen. Ob das an die körperliche Existenz geknüpft ist, bleibt fraglich, aber es schadet wenig, das anzunehmen.