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Der Artikel ist von mir aus dem Feuilleton der Zeit Nr. 34 vom 31. Juli 2014 abgetippt worden. Ich hoffe die Zeit wird mir das nicht negativ auslegen, da ich den Text für sehr wichtig halte.
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"Missbrauchen Sie die Geschichte nicht!"
Sehr geehrter Herr Botschafter,
in einem Beitrag für eine deutsche Zeitung haben Sie unlängst davon gesprochen, in Berlin seien „Juden verfolgt worden wie 1938“
Als israelischer Jude und deutscher Staatsbürger bin ich ebenfalls beunruhigt, dass in Berlin Parolen wie „Judenschweine“ oder „Tod den Israelis“ zu hören waren. Noch beunruhigender, darin sind wir uns wohl einig, sind konkrete Angriffe gegen Juden – hier in Deutschland, in Frankreich und anderswo in Europa. Weitaus beunruhigender erscheint mir jedoch der Vergleich, den Sie zwischen der Situation im heutigen Berlin und der des Jahres 1938 ziehen.
Problematisch an ihrem Vergleich ist nicht nur, dass er offenkundig unzutreffend ist. Irritierend finde ich, dass Sie beschlossen haben, das aktuelle israelische Vorgehen unter Zuhilfenahme eines so abwegigen Vergleichs vor der deutschen Öffentlichkeit zu rechtfertigen. Damit missachten Sie die deutsch-jüdische Geschichte.
Die jüngsten Ereignisse in Israel sind selbst für israelische Verhältnisse besorgniserregend. Sie erinnern sich vielleicht an die massiven antiarabischen Demonstrationen in Jerusalem, an die aggressive Stimmung auf den Straßen, als Tausende „Tod den Arabern!“ riefen. Vielleicht erinnern Sie sich, dass vor wenigen Wochen Araber wahllos zusammengeschlagen, andere von jüdischen Fahrgästen aus städtischen Bussen geworfen wurden. Es gibt Videos, auf denen israelische Polizisten zu sehen sind, die den 15-Jährigen amerikanisch-palästinensischen Cousin von Mohammed Hussein Abu Chdeir, dem 16-Jährigen, der bei lebendigem Leib verbrannt wurde, in Handschellen fast totprügeln. Haben Sie diese Bilder gesehen? Die Parlamentsabgeordnete Ajelet Schaked, deren Partei der Regierungskoalition angehört, die Sie vertreten, unterstützte unlängst die Idee, dass palästinensische Mütter „vernichtet werden müssen, mitsamt den Häusern, in denen sie ihre Schlangen heranziehen. Sonst werden andere kleine Schlangen dort heranwachsen“. Und als wäre das nicht schon genug, rief Außenminister Avigdor Lieberman zu einem Boykott arabischer Geschäfte in Israel auf. Das, Herr Botschafter, ist gewiss nicht ihrer Aufmerksamkeit entgangen, denn Lieberman ist ja praktisch Ihr unmittelbarer Chef.
Es ist fraglich, ob man angesichts der Gewalt auf den israelischen Straßen und der rassistischen Äußerungen israelischer Politiker einen Vergleich zwischen dem heutigen Israel und dem Berlin von 1938 ziehen kann. Eben deswegen finde ich den Vergleich, den Sie zwischen dem heutigen Berlin und dem von 1938 ziehen, als Beleidigung. Als Jude in Berlin fühle ich mich nicht bedroht, wenn ich einen deutschen Polizisten auf der Straße sehe. Leider gilt das nicht für einen arabischen Jugendlichen, der in Jerusalem oder Tel Aviv einen israelischen Polizisten auf der Straße sieht.
In den letzten beiden Wochen sind bei der Bombardierung des Gazastreifens durch die israelische Armee mehr als 1.000 Palästinenser, ganz überwiegend Zivilisten, getötet worden. In den letzten beiden Wochen hat die Armee, in der auch ich gedient habe – und ja, ich habe Gaza und die Tunnel gesehen –, mehr als 1.000 Tonnen Bomben über einem der am dichtesten besiedelten Gebiete der Welt abgeworfen. Kann man angesichts der beklagenswerten Tatsache, dass einige Leute auf dem Kurfürstendamm „Judenschweine riefen“, wirklich so einfach von 1938 sprechen, um sich auf diese Weise vor schwerwiegenden Fragen zu drücken?
Europäische Nationalisten wandten sich in den 1930er Jahren nicht zuletzt deshalb dem Antisemitismus zu, weil Juden aus ihrer Sicht die Erzfeinde des Nationalismus waren. Sie glaubten, ob zu Recht oder nicht, Juden seien in jedem Fall Kosmopoliten, Weltbürger. Herr Botschafter, es ist der beunruhigende Eindruck entstanden, dass sich mit ihren Äußerungen ein Kreis schließt. Indem Sie die gegenwärtige Situation in Berlin mit der des Jahres 1938 vergleichen, wollen Sie von den aktuellen Geschehnissen ablenken. Sie wollen den Eindruck erzeugen, als seien Weltbürger, die sich kritisch über das israelische Vorgehen in Gaza äußern, antisemitisch gesinnt.
Herr Botschafter, die deutsch-jüdische Geschichte ist wichtiger, als Sie es sich offenbar vorstellen können. Missbrauchen Sie diese Geschichte nicht zur Rechtfertigung der Bombardierung von Gaza. Und falls doch, dann bitte nicht in meinem Namen.
Ihr Omri Boehm
Aus dem Englischen von Matthias Fienbork
Omri Boehm forschte als Philosoph auch in München und Heidelberg.
Geboren 1979 in Gilon, Israel, ist Assistant Professor für Philosophie an der New York Schoolfor Social Research in New York.
Zuletzt erschien von ihm "Kant´s Critique of Spinoza" (Oxford University press)
Kommentare 5
Danke, lieber pleifel, für das Einstellen dieses Textes!
Ich bin betroffen über all die Unredlichkeit und Bosheit, die Boehm aufzeigt.
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Redliche und klare Worte von Boehm; tut gut, so etwas zu lesen.
Kontrastprogramm Wuppertaler Lokalzeitung vom 30. 7. 2014: Überschrift in dicken Lettern "Entsetzen über Anschlag auf die Wuppertaler Synagoge". Drei Männer sollen auf das Gebäude Molotowcocktails geworfen haben. Spontane Solidaritätskundgebungen am Tag danach. Verletzt wurde niemand, das Gebäude kaum. Eine dämliche Tat, kein Zweifel.
Heute, 31. 7. 2014, auch auf der Titelseite: Gaza: Schule beschossen. Kleine Überschrift, 15 Menschen, so wird darunter erläutert, seien gestorben. Nichts von Entsetzen.
Wieso sind alle dermaßen gelähmt und messen mit zweierlei Maß?
Danke, Pleifel.
Ich kann mir das nur so erklären, dass man das normale Maß, die Verhältnismäßigkeit im Zusammenhang mit Israel außer Kraft gesetzt hat.
Dann halten sich viele europäische Regierungen bedeckt, man weiß einfach nicht, was hinter den Kulissen läuft. Viel kann es aber nicht sein, denn es bewegt sich nichts.
Dann will man sich nicht mit Amerika anlegen, da man die besondere Beziehung Amerikas zu Israel kennt.
Und die Aussage kürzlich von Merkel in der Knesset, "die Sicherheit Israels sei Teil deutscher Staatsräson" (sie hatte den Satz gesagt, als es um die Frage eines Angriffs Israels auf den Iran ging, um den Bau einer iranischen Atombombe zu verhindern), ist jetzt auch nicht hilfreich.
Kurz: geschichtliche Momente behindern eine adäquate Behandlung der Katastrophe. Nur wer bereit ist, sich nicht von der zu erwartenden Kritik beeindrucken zu lassen, kann etwas bewegen.
Lieber Paul,
herzlichen Dank für die Übermittlung dieses wichtigen Artikels. Menschen wie Omri Boehm gibt es sicher mehrere in Deutschland, worüber ich froh bin. Sie sollten all unsere erdenkliche Unterstützung erfahren und wissen, dass sie durch das offizielle Israel nicht ausgegrenzt werden können.
LG, CE