Wie es sich den Menschen formt

Digitaler Kapitalismus: Wie kommt es, dass der "digitale Boheme" prekäre Arbeit mit garantierter Altersarmut und 24 Std. und 7-Tagewoche Einsatzbereitschaft als Selbstverwirklichung empfindet?

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Mal wieder ein lesenswerter Beitrag auf der Themenseite der jw vom 17. 02.2017. Timo Daum schreibt über die Individualisten der digitalen Welt, die sich als Freelancer verstehen, die ihnen wohl ein Gefühl von Unabhängigkeit (Freiheit?) und Selbstverwirklichung vermittelt.

Nur, in der virtuellen Welt der Konkurrenz der vielen, ist Solidarität, Kooperation und Organisation genau das, was dem Modell dieser "Selbstverwirklichung" widerspricht. So dämmert es wohl doch dem einen oder anderen, dass bei der ganzen coolen Selbstdarstellung ein Grundeinkommen "als Rettungsanker in ferner Zukunft", einmal bitter notwendig sein dürfte.

Abgesehen davon bietet diese Lebensweise weder eine Basis für eine Familie, noch lässt sich dieser Einsatz (Aufwand) über ein gewisses Lebensalter hinaus sowohl kräftemäßig als auch bei Gesundheit betreiben.

Das neue Pixelproletariat

Daraus:
(...)
"wie schafft es der Kapitalismus, sich selbst und uns gleich mit immer wieder neu zu erfinden?"

"Die Antwort findet sich auf dem Gebiet der Subjektivität. Der Kapitalismus formt und entwickelt auch die Individuen nach seinen Bedürfnissen. Er ist ein Meister darin, technologische Erfindungen voranzutreiben und seine eigene ökonomische Grundlage ständig zu transformieren.

Darüber hinaus ist er auch in der Lage, das Denken und Fühlen der Subjekte mit den ökonomischen und sozialen Realitäten in Übereinstimmung zu bringen, diese zu transformieren und anzupassen. Die Schaffung immer neuer Subjektivitätsmodelle, die mit den ökonomischen im Einklang stehen, ist ein wesentliche Eigenschaft und Fähigkeit des Kapitalismus und einer der wesentlichen Mechanismen, um sich gegen Krisen abzusichern: »Das zentrale Projekt kapitalistischer Politik liegt in der Synchronisierung ökonomischer, technischer und sozialer Bewegungen mit der Produktion von Subjektivität, dergestalt, dass politische Ökonomie und Subjektivitätsökonomie zusammenfallen«, so bringt es der Postoperaist Maurizio Lazzarato auf den Punkt.

Der Neoliberalismus hat alte Sozialbeziehungen und dazugehörende Subjektivitätsmodelle zerstört. Die Selbstverwirklichung als Konsument löste das kollektive Klassenbewusstsein ab, die Arbeit an der eigenen Persönlichkeit die soziale Revolution: willkommen in der Ära des Selbst, in dem individuelle Befriedigung zur höchsten Priorität wird und diese durch Unternehmen mit immer neuen Produkten geleistet wird!"

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Es ist also nicht nur der Konsument, sondern auch der prekäre Selbstvermarkter, der sich in den verkauften Illusionen des Kapitalismus verfängt.

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Nachtrag 21.02.2017
mehr zum Thema:
Digitale Naivität (12.11.2013)
Wer will das lesen? (10.02.2014)
Digitaler Sozialismus (11.10.2014)
Gesundheitskarte (25.01.2015)
Wenn die Arbeit den Menschen frisst (14.04.2015)
und
Kommando im Kopf (jw 21.02.2017 - Marcus Schwarzbach)

Timo Daum ist Dozent für digitale Ökonomie und Onlinetechnologien. Im Herbst erscheint in der Edition Nautilus sein Buch »Digitaler Kapitalismus«

Mehr von ihm unter Den digitalen Kapitalismus verstehen.

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