Bürger brauchen mehr als ihnen der Kapitalismus bieten kann

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Die Debatte, deren Startpunkt Frank Schirrmacher in der Frankfurter Allgemeinen Sontagszeitung gesetzt hat, ist überfällig. Sie sollte sich jetzt nicht in den alten Lagerkämpfen auflösen. An der Realität der lauten und leisen Proteste überall in Europa würde sie damit vorbeigehen.

Die bürgerlichen Mittelschichten in den industrialisierten Ländern mag die aktuelle Verunsicherung am unvorbereitetsten treffen. Weder gute Ausbildung noch gute Herkunft, so ihre erschreckende Bilanz, kein Talent und keine lebenslange Anstrengung reichen mehr hin für eine langfristig gesicherte Existenz. Unabhängig aber von ihrer grundsätzlichen Orientierung, ob bürgerlich, liberal oder links, werden die Menschen Zeugen der stetig wachsenden Notwendigkeit von Veränderung. Sie merken: Der Kapitalismus ignoriert grundlegende Bedürfnisse, die sie selbst lange Zeit stiefmütterlich behandelt haben.

Die Flut sollte einmal alle Boote nach oben treiben lassen. Es macht aber einen Unterschied, ob einer in einer hochseetüchtigen Jacht mit drei Baderäumen und Mini-Imax oder einer lecken Jolle fährt. Oder am Ende gar nicht bootfahren kann. Schirrmacher hat recht: „Das große Versprechen an individuellen Lebensmöglichkeiten hat sich in sein Gegenteil verkehrt.“ Die Räume sind zum Teil auf ein sehr enges Maß geschrumpft. Die aufeinanderfolgenden Krisen der letzten Jahre lassen deutlich hervortreten, wer in welchem Seefahrzeug sitzt.

Aber liegt wirklich Gier am Grund der Krisen, wie Jan Fleischhauer vermutet? Nein. Gier mag manche krisenhafte Eigenart unserer Wirtschaftsweise verstärken. Hier ist sie aber ein Argument über die Psychologie des Bösen, das von den strukturellen Problemen des Kapitalismus ablenkt: Er ist gänzlich einseitig fokussiert auf die Befriedigung individueller, materieller Bedürfnisse, der alle weitere Bedürfnisbefriedigung quasi automatisch nachfolgen soll. Das, so dämmert uns jetzt, ist mehr ein Programm der Befriedung als eines der Befriedigung. Der Deckel wird auf dem Topf gehalten, während die Ungleichheiten steigen. Die Benachteiligten sind übersatt, aber entmündigt. Der Kabarettist Hagen Rether hat es auf den Punkt gebracht: Wir sind genauso hohl wie wir voll sind.

Wenn Fleischhauer in seiner Entgegnung auf Schirrmacher daran erinnert, dass uns der Kapitalismus ungemein viel Wohlstand gebracht habe, unterschlägt er, welche eingeschränkte Wohlstandsidee der Kapitalismus erzeugt hat. Materieller Wohlstand ist den industrialisierten Gesellschaften tatsächlich reichlich zugekommen – doch wo sind die Zukunftsfähigkeit der Ressourcen und Lebensräume, Mitbestimmung über die Beschaffenheit der Güter, Sinn in der Arbeit, kooperative Nutzung von Gütern, wo sind Gemeinsinn, Menschlichkeit, Lebensqualität ohne Existenzangst? Die Menschen spüren allmählich immer deutlicher, dass ihnen vieles entscheidendes fehlt in diesem Kapitalismus und dass er es ihnen trotz aller Versprechungen wohl nicht mehr liefern wird.

Währenddessen üben neoliberale Politik und Wirtschaft ihre Macht weiterhin an den Bedürfnissen der Menschen vorbei aus. Was Wunder, dass der Souverän sich daraufhin machtlos fühlt. Das wichtigste Gut – für Politiker genau wie für Währungen – geht verloren: Vertrauen. Erst jetzt merken die Empörten, wem sie dennoch vertrauen können: denen, mit denen gemeinsam sie die ersten Steine gesetzt haben für eine neue Politik und Wirtschaft der Bürger – gegen diejenigen, die sie im Stich gelassen haben. Denen, die genau so empört sind wie sie selbst. Sie beginnen, über die Macht hinweg zu agieren, um sich ein gutes Leben selbst zu schaffen.

Und so wird Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft längst in der Praxis von jenen vollzogen, die (teils zur Klientel der bürgerlichen Parteien gehörend, teils nicht) sich endlich als souveräne Bürger begreifen und zu handeln beginnen. Die Jugendproteste sind nur eine Facette des Phänomens. In Spanien haben sich die Jungen zur „15.M“- (demnächst: „15.O“-) Bewegung zusammengeschlossen, in Israel campen sie auf den Straßen, in Griechenland und Frankreich protestieren sie ebenso. Bei uns herrscht noch größtenteils Schweigen.

Aber der Widerstand ist da, weniger spektakulär, in unerwarteten Formen: In offenen Werkstätten haben die Nutzer begonnen, ihre Gebrauchsgegenstände oder Möbel selbst herzustellen, explizit mit dem Gedanken, einen Sinn in ihrer Tätigkeit zu finden und sich eine Fertigkeit anzueignen, die sie gebrauchen können, wenn das Geld einmal nicht mehr reicht. In den Städten wächst die Zahl der Selbstversorger, die in Hinterhofbeeten oder Nachbarschaftsgärten Gemüse ziehen oder nachts „Mülltauchen“ gehen, weil sie die industrielle Fertigungsweise von Lebensmitteln und deren weltweiten, mit enormer Verschwendung einhergehenden Vertrieb ablehnen. Im Web werden Protestaktionen organisiert, aber auch Software für den heimischen Bau von Gebrauchsgütern ausgetauscht und neue Formen des kooperativen Konsums und der dezentralisierten Produktion getestet. In Hamburg protestiert „Recht auf Stadt“ erfolgreich gegen die Gentrifizierung der eigenen Stadtviertel und beweist, dass konzertierte Selbstorganisation ein sehr wirksames Mittel der Regionalpolitik ist. Überall in Deutschland erproben junge, gut qualifizierte Menschen ein Arbeitsleben jenseits von Festanstellung und sicherem Einkommen als Arbeitssammler, Multijobber, Soloselbständige in zum Teil abenteuerlichen Jobkonstellationen.

All das sind keine Aussteigereien, sondern ausgesprochen politische Handlungsweisen, denen eine gezielte Kritik an den herrschenden ökonomischen und politischen Verhältnissen eingeschrieben ist. Sie sind daneben Vorkehrungen gegen mögliche Not in Zeiten einer versagenden Wirtschaftsordnung. Wenn diese Flut weiter steigt, hat man wenigstens ein Floß, auf dem es sich weiter leben lässt. Vor allem aber antworten alle diese selbstorganisierten Mikroökonomien und -gemeinschaften auf Bedürfnisse, die lange nicht artikuliert wurden, sondern der oberflächlichen Zufriedenheit mit dem, was der Kapitalismus bot, geopfert wurden.

Wenn man irgendwo Bürgerlichkeit in ihrem besten Sinne von souveränem, selbstbestimmten Handeln in der Gemeinschaft finden kann, dann hier. Hier liegen die Beispiele für eine vernachlässigte Rolle: Bürger nehmen die Zukunft von Bürgern in ihre eigene Verantwortung. Sie formulieren ihre Bedürfnisse klar, fordern ein, was für ihr gutes Leben notwendig ist. Mehr sollten sich denen anschließen, die bereits begonnen haben, sich ein Stück gutes Leben zu schaffen, in Nachbarschaftsgärten, in freien Werkstätten, auf Social-Commerce-Plattformen, in Quartiersinitiativen, in Umsonstläden.

Wer das jetzt alles für „links“ hält, glaubt wahrscheinlich auch, dass Klimaschutz und Ökologie Randthemen einer abseitigen ideologischen Strömung sind. Genauso wenig, wie man heute eine Politik ohne Ökologie denken kann, wird man in Zukunft Politik ohne bürgerschaftliche Selbstorganisation praktizieren können.

Die Krise des CDU-Bürgertums, die Schirrmacher diagnostiziert, ist eine Chance der freien Gesellschaft. Der Wertewandel von unten hat begonnen. Es ist gut, wenn er sich um die alten Lager nicht schert, sondern endlich dafür sorgt, das die Ungleichheiten zurückgedrängt werden und die schleichende Entmündigung echtem gemeinschaftlich-bürgerschaftlichem Handeln zur Steigerung der Lebenschancen aller Platz macht.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Peter Plöger

Wir brauchen nicht mehr Glück, wir brauchen mehr Sinn.

Peter Plöger

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