Lassen wir ihn draußen!

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Alles kommt wieder. Das scheint auch für tagesaktuelle Themen zu gelten. Heimkinder und Arbeitsunwillige waren schon einmal en vogue. Es waren die 60er Jahre und die Stimmung war prä-68. 1962 hatte der Gesetzgeber im Bundessozialhilfegesetz § 73 festgelegt, wie den „Gefährdeten“ mittels einer speziell für sie erdachten „Hilfe“ zu einer lebenswerteren Existenz zu verhelfen sei: „Die Hilfe soll den Gefährdeten zu einem geordneten Leben hinführen, insbesondere ihn an regelmäßige Arbeit und erforderlichenfalls an Seßhaftigkeit gewöhnen.“ Ist er „besonders willensschwach oder in seinem Triebleben besonders hemmungslos“ oder etwa „verwahrlost“ und weigert sich, von sich aus ein Arbeitshaus aufzusuchen, wird er höflich aber bestimmt aufgefordert, sich in eines zu begeben. Das "Bewahrungsgesetz" ist geboren.

Freiheitsentzug? Der Gesetzgeber schaut ahnungslos, während das Bundesverfassungsgericht den § 73 wegen Verstoßes gegen Artikel 2 des Grundgesetzes für nichtig erklärt. Es ist 1967, die Arbeitshäuser werden abgeschafft.

Es ist 2010, und wir sind wieder am Anfang der Geschichte. Damit wir uns richtig verstehen: Niemand will Arno Dübel wegsperren. Jedenfalls spricht es keiner offen aus. Stattdessen werden die Willensschwachen und Verweigerer höflich aber bestimmt aufgefordert, sich auf Stellen zu bewerben, auf denen sie keiner haben will oder sich zum Schneeschippen zu begeben. Sind ja selber Schuld, wenn sie keine Arbeit haben, dann sollen sie auch was für sich und die Allgemeinheit tun.

Ich unterstelle, daß die Arbeitsagentur und die Argen sich bemühen, ihren Klienten Perspektiven zu eröffnen. Aber auch die können nicht zaubern. Ihre Klienten werden trotzdem verpflichtet, das Publikum einer ganz miserablen Zauberrevue zu geben. Kein Wunder, daß gebuht wird. „Die haben eh nichts für mich“, „Da wirst du wie der letzte Dreck behandelt“, „Was soll ich da noch“, kein Applaus. Zu viele fühlen sich mittlerweile wie Bittsteller, die draußen vor der Tür stehen und warten müssen, daß einer aufmacht. Ab und an kommt jemand vorbei, der sie vor die geschlossene Tür stößt.

Ein Geist beginnt, gleichermaßen durch die Hinterzimmer wie durch die öffentliche Diskussion zu wehen, der noch viel weiter führen könnte als zurück in die 60er Jahre. Der Geist ist von höchster Stelle legitimiert, damals wie heute von der Sozialgesetzgebung, und wieder geht es um dasselbe: „Es geht allein um die 'Besserung' des Betroffenen: Er soll mit Hilfe der Freiheitsentziehung zu einem geordeten Leben hingeführt, an regelmäßige Arbeit gewöhnt, auf Dauer seßhaft gemacht werden. Der Staat hat aber nicht die Aufgabe, seine Bürger zu 'bessern' und deshalb auch nicht das Recht, ihnen die Freiheit zu entziehen, nur um sie zu 'bessern'“, urteilt das Bundesverfassungsgericht.

Auch wenn wir niemanden einsperren: Wir haben uns das Drohen angewöhnt. Wir drohen zuviel, nennen es nicht mehr „bessern“, sondern „fördern“ oder „fordern“ oder „aktivieren“. Wir motivieren nicht wirklich, wir stempeln lieber ab. Wir stöbern die Nichtsnutze auf und führen sie zum Besseren statt zu sehen, daß derjenige, der wie ein Nichtsnutz behandelt wird, sich tatsächlich irgendwann wie ein Nichtsnutz verhält. Menschen, denen man begegnet, als könnten sie selbständig handeln, tun das auch eher; die würden auch eher zum Schneeschippen kommen. Menschen, die plump als „faul“, „unwillig“, „dekadent“ in eine Ecke geschoben werden, kommen nicht.

Wir sollten uns nicht so sehr um ein paar wirklich Arbeitsunwillige kümmern. Wir sollten uns fragen, warum sich so Viele abgeschoben, drangsaliert und schikaniert fühlen. Provozierter Widerwille ist ein weit größeres Problem als Faulheit.

Wen wollen wir also draußen lassen? Die Arbeitslosen oder den Geist der Arbeitshäuser?

Alle Zitate aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungswidrigkeit von § 73 Abs. 2 und 3 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) vom 18. Juli 1967.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Peter Plöger

Wir brauchen nicht mehr Glück, wir brauchen mehr Sinn.

Peter Plöger

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