Wie fruchtbar ist Thilo Sarrazin?

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Thilo Sarrazin möchte nicht zu einem Fremden im eigenen Land werden. Deshalb strampelt er mit Macht, einigen zehntausend Worten und noch mehr Zahlen dagegen an. Wie fremd er in seinem eigenen Land schon ist, hat er noch gar nicht mitbekommen.

Was macht der da eigentlich? Das gesellschaftliche Bedürfnis nach ungeschminkter Wahrheit befriedigen jedenfalls nicht. Nach dem Geist, in dem er seine stammelnden Provokationen geschrieben hat, müsste das ohnehin die Gesellschaft Kaiser Wilhelms II. sein. „Wir erwarten von euch ...“ schreibt er an die „muslimischen Einwanderer“ gerichtet. Aha, also fordern will er! Womöglich im Namen aller guten Deutschen, „wir“, der Plural ist ein Massen-Kasus. Ich nehme das rhetorische Mittel gerne auf und bediene mich ebenfalls des Phantasmas der Unterstützung durch –zum Beispiel – einen gesunden Volksverstand:

Wir erwarten von Ihnen, dass Sie, wenn Sie von Wahrheiten reden, nicht bloß dem Statistischen Bundesamt die dort redlich gesammelten Nummernkolonnen abschauen und mit ihren persönlichen Befindlichkeiten übertünchen. Ihre Schlüsse sind von einer Sozialwissenschaft, gegenüber der sie hinterm Mond leben, widerlegt, noch bevor sie gedacht waren. Teilweise sind sogar die Ausgangsdaten falsch: Die Geburtenrate bei Familien mit türkischer Herkunft zum Beispiel hat sich über die drei Generationen, die inzwischen hier leben, der der „deutschen“ Familien fast angeglichen.

Wir erwarten von Ihnen, dass Sie Ihre versteckten Assimilationsforderungen offen aussprechen, dann würde noch klarer werden, wie rückwärtig auch diese sind. Assimilation worin überhaupt? Eher in den Shanty-Chor, in den Taubenzüchterverein oder doch in die Lederhose? Ein sozialpolitisches Konzept von Vorgestern macht eine These nicht interessanter.

Wir erwarten von Ihnen einzusehen, dass Sie dieser Gesellschaft nichts zu sagen haben, wenn Sie weiter im Geist des 19. Jahrhunderts denken, nach dem einem „traditionelle Lebensformen“ noch „anhaften“. Das Rucksackbild von Kultur taugt allenfalls noch für Gespräche unter Bierdeckelintellektuellen.

Wir erwarten von Ihnen, dass Sie nicht weiter dem unseligen Trend unter Politikern Vorschub leisten, nachdem ohnehin schon sozial Benachteiligten das Versagen der Funktionssysteme dieser Gesellschaft in die Schuhe geschoben und ihnen als Eigenverantwortung angetragen wird: ALG II-Empfänger bemühen sich zu wenig um einen Job, sind per se zu faul, deshalb müssen sie zu recht kalt duschen. Muslimischen Migranten steckt die Dummheit in den Genen, aber rammeln können sie alle, deshalb müssen sie jetzt härter behandelt werden. Das ist, sagen wir mal, neukonservativ.

Wir erwarten von Ihnen, dass Sie ihre eigene diffuse Überfremdungsangst nicht weiter zum Anlass nehmen, Ihrem so geliebten Volk zu suggerieren, es gäbe einen rationalen Grund für ihre diffusen Überfremdungsängste. Wir hoffen, dass Ihr Buch keine Wirkung auf die Zaudernden entfaltet, werde seine Auflage auch noch so groß, und dass sich kein leicht Verführbarer in Ihre Richtung lenken lässt.

Und schließlich erwarten wir von Ihnen, dass Sie die Zunft der Sachbuchautoren nicht länger in Verruf bringen.

Würden Sie das alles beherzigen, könnte es so kommen, dass Sie sich nicht mehr gar so fremd fühlen müssten in Ihrem eigenen Land. Aber womöglich schreiben Sie schon an neuen Denkanstößen, sprich Appellen an archaische Verteidigungsinstinkte. Fruchten werden auch die wohl nicht, jedenfalls nicht, wenn Sie weiter gegen eine Gesellschaft anschreiben, die sich längst zu ihrem besseren entwickelt, zu mehr Solidarität, Gegenseitigkeit, Wahrnehmungsbereitschaft und Selbstironie. Das zumindest erwarte ich von ihr, der deutschen Gesellschaft.



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Geschrieben von

Peter Plöger

Wir brauchen nicht mehr Glück, wir brauchen mehr Sinn.

Peter Plöger

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