Europa muss sich für Demokratie einsetzen

Türkei Erdogan möchte endgültig eine Diktatur. Der Kampf um die demokratische Republik wird dieses Jahr seinen Höhepunkt erreichen. Europa darf nicht zusehen

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Das türkische Parlament wird in den kommenden zwei Wochen über eine Verfassungsänderung abstimmen, die den absolutistischen Herrschaftsanspruch des Präsidenten in Recht und Gesetz verankern soll. Es ist davon auszugehen, dass die islamistisch-autoritäre Mehrheit im Parlament der Änderung zustimmen und den Weg zu einem Volksentscheid ebnen wird. Die neue Verfassung, ein Bauplan für die Diktatur am Bosporus, wäre der Todesstoß für die demokratische Republik. Das freie Europa darf nicht zusehen, wie die Türkei endgültig in eine Diktatur abgleitet.

Ein Bauplan für die Ein-Mann-Diktatur

Kernelement der Verfassungsänderung ist die Konzentration grenzenloser Staatsmacht beim Präsidenten unter gleichzeitiger Schwächung oder Ausschaltung staatlicher Institutionen, die der Machtausübung Schranken setzen könnten. Die Exekutivmacht wird ausschließlich beim Präsidenten gebündelt, der die Regierung und Verwaltung nach Belieben gestalten und das Land per Dekret regieren soll.

Die Legislative und Judikative, beide bereits heute fest im Griff des Präsidenten, würden unter der neuen Verfassung völlig in Bedeutungslosigkeit versinken. Erdogan könnte als Vorsitzender seiner Partei die Abgeordnetenkandidaten für die Parlamentswahlen bestimmen, mit seinem Veto Gesetzesvorhaben ersticken und das Parlament nach Belieben auflösen. Zudem könnte er direkt und indirekt die höchsten Richter und Staatsanwälte ernennen und versetzen. In dem Einheitsstaat Türkei könnte der Präsident somit grenzenlos richten.

Das de facto gelebte Präsidialsystem und die weitgehenden Notstandsrechte, die auf den Putschversuch im Juli folgten, erlaubten ein massives Vorgehen gegen oppositionelle Abgeordnete, Beamte, Richter, Wissenschaftler und Journalisten. Über 100.000 Beamte, Soldaten, Polizisten und Richter wurden suspendiert oder inhaftiert, darunter auch zwei Verfassungsrichter. Diese Kompetenzen sollen nun dauerhaft sichergestellt werden.

Die Demokraten können und müssen gewinnen

Erdogan kann sich im Kampf um die Zustimmung der Türken der vollständigen Unterstützung des Staatsapparats sicher fühlen. Sein Sieg im Volksentscheid ist jedoch keinesfalls unabwendbar. Die demokratischen Kräfte wappnen sich für einen harten Wahlkampf mit unsicheren Folgen. Die Türkei hat eine unvollkommene, aber lange demokratische Tradition mit künstlerischer und intellektueller Tiefe und Vielfalt. Große Bevölkerungsschichten, allen voran Kemalisten, Aleviten, Kurden und Sozialdemokraten, stehen der Einmanndiktatur Erdogans im Wege.

Deutschland hat ein besonderes Interesse am türkischen Freiheitsbestreben. Millionen von türkischstämmigen Bürgern leben in Deutschland. Diejenigen von ihnen, die für eine demokratische Türkei und die Achtung der Menschenrechte stehen, sind zunehmend besorgt und enttäuscht von der deutschen und europäischen Gleichgültigkeit. Die Anhänger Erdogans sind demgegenüber immer stärkeren Einflüssen aus Ankara ausgesetzt, die Einfalt, Autorität, Nationalismus und zunehmend auch Islamismus preisen.

Wenn in Deutschland heute ein Kulturkampf gegen den Islamismus gepredigt wird, darf nicht vergessen werden, dass dieser Kulturkampf allen voran in Anatolien geführt wird. Atatürks Türkei, eine laizistische Republik, wusste es, Islam und Moderne zu vereinen. Diese Errungenschaft diente als Vorbild für die islamische Welt weit über die Türkei hinaus. Erdogans Staats- und Religionsapparat verbreitet und verteidigt einen einfältigen und zunehmend kompromisslosen Islam, der jeden Dissens reflexartig zerschlägt. Das Bildungssystem verkommt zu einem Instrument der Islamisierung.

Die Oppositionellen hingegen stehen weiterhin für moderne, europäische Werte, für Säkularismus, Gleichstellung von Mann und Frau, für freie Medien, freies Individuum, Vielfalt und Demokratie. Diese Menschen leben und wirken im europäischen Thrakien, an der Ägäis und in den modernen Metropolen der Türkei. Sie gehören zum kulturellen Erbe Europas. Sie im Stich zu lassen heißt ein Stück Europa aufzugeben.

Ein Sieg der demokratischen Kräfte in der Türkei, einer Brücke zwischen Ost und West, kann weltweit ein Zeichen für Vielfalt und Fortschritt setzen. Ein solches Zeichen hat eine Welt, in der Einfalt, Hass und Rückschritt das politische Geschehen bestimmen, dringend nötig.

Europa muss die Demokratie unterstützen

Deutschland und Europa haben traditionell einen erheblichen Einfluss auf die Türkei, auch auf Erdogan. Die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen der Türkei mit der Europäischen Union befestigte im Jahre 2005 die noch junge Regierung Erdogan und beflügelte die türkische Wirtschaft. Die Verhandlungen sind heute de facto ausgesetzt. Das EU-Parlament stimmte am 24. November letzten Jahres mit einem unverbindlichen Beschluss für die auch formelle Aussetzung der Beitrittsverhandlungen. Dieser Vorschlag wurde von der EU-Kommission und von den Staats- und Regierungschefs nicht aufgegriffen.

„Wir sollten daran arbeiten, dass sich die Türkei wieder auf die Europäische Union zubewegt und sich nicht mit Riesenschritten noch weiter entfernt“, sagte Jean-Claude Juncker, der Präsident der Europäischen Kommission, der Welt am Sonntag. Spätestens mit den Bestrebungen zur Verfassungsänderung hin zum Einmannstaat kommt es jedoch bereits frühzeitig zum befürchteten „Riesenschritt“ weg von der EU, der unumkehrbar sein könnte.

Die Europäische Union muss der Türkei tatsächlich eine engere Zusammenarbeit in Aussicht stellen, wenn sie demokratischen Einfluss ausüben möchte. Eine formelle Einstellung der Verhandlungen könnte weite Bevölkerungsgruppen in der Türkei verunsichern und, mangels verbleibender Alternativen, in Erdogans Schoß führen. Die Reaktion Europas darf nicht pauschal türkeifeindlich sein, sondern muss sich als konstruktive Kritik für die Demokratie darstellen. Anknüpfungspunkte für solch eine Kritik bieten insbesondere die Gespräche zu der Visaliberalisierung sowie zu der Ausweitung der Zollunion mit der Türkei.

Die Visaliberalisierung ist eine wichtige Forderung der Türkei, die es ihren Staatsbürgern ermöglichen möchte, ohne Visum in die EU einzureisen. Eine Zollunion hat die Türkei mit der EU bereits seit 1996. Diese soll auf Vorschlag der EU-Kommission vom Dezember letzten Jahres jedoch massiv ausgeweitet und die wirtschaftliche Integration auf die Bereiche Landwirtschaft, Dienstleistungen und öffentliche Auftragsvergabe ausgedehnt werden.

Während die EU die Visaliberalisierung bereits von einer Reform der türkischen Anti-Terror-Gesetze abhängig gemacht hat, wurde Erdogan die Ausweitung der Zollunion in einer Zeit der massiven Menschenrechtsverletzungen in Aussicht gestellt. Beide Schritte müssen von einer Rückkehr zum demokratischen Rechtsstaat abhängig gemacht werden. Zugeständnisse der EU trotz anhaltender Menschenrechtsverletzungen und zunehmendem Abbaus der Rechtsstaatlichkeit würden ein fatales Signal nach Ankara senden. Erdogan und seine Anhänger würden sich in seinem autoritären Kurs bestätig, seine Kritiker hingegen sich im Stich gelassen fühlen.

Politiker und Persönlichkeiten in der EU müssen die Lage in der Türkei verfolgen und sich mit der demokratischen Opposition solidarisieren. Eine öffentlichkeitswirksame Kampagne für die Demokratie würde die Meinungsbildung von Millionen von türkischen Staatsbürgern in Mittel- und Westeuropa beeinflussen, die wahlberechtigt sind und den Ausgang des Volksentscheids entscheidend prägen können. Darüber hinaus würde ein einhelliger europäischer Ruf nach Demokratie die Opposition in der Türkei dazu ermutigen, sich trotz staatlicher Repressionen öffentlich für den Demokratiekampf einzusetzen.

Der Einfalt und dem Hass der Zeit zum Trotz müssen sich Demokraten einen und dort, wo die Brücke zwischen Ost und West verläuft, ein starkes Zeichen des Widerstands setzen. Und das können sie auch, wenn sie denn nur wollen.

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