Der Widerstand wächst.

Systemische Umbrüche Es werden historische Neuordnungsversuche in Verbindung mit gesellschaftlichen Bewegungen seit dem 2. Weltkrieg bis in die aktuelle Zeit untersucht.

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Klaus Moegling

Der Widerstand wächst, eine neue Ordnung scheint hindurch.

Vorbemerkung

Sich der Geschichte bzw. historischen Entwicklungen zu nähern, ist immer ein riskantes Unterfangen.

Ich versuche im vorliegenden Beitrag, wichtige weltweite Entwicklungen nach dem 2. Weltkrieg insbesondere unter dem Aspekt systemischer Erneuerung zu thematisieren. Hierbei soll ein Schwerpunkt auf kulturellen Umbrüchen, auf Versuchen einer systemischen Neuordnung und auf den gesellschaftlichen Bewegungen gelegt werden, die diese Umbrüche in Gang zu setzen versuchten.

Natürlich kann hier im Rahmen eines Artikels kein vollständiger Überblick über alle seit dem 2. Weltkrieg stattgefundenen Befreiungsbewegungen gegeben werden. Ich berücksichtige daher die internationalen Widerstands- und Protestbewegungen, wie sie sich mir im Zuge meiner Biografie zu einer eigenen historischen Narration und subjektiver Bedeutsamkeit entwickelt haben. Dementsprechend ist die Darstellung selektiv und gesellschaftlich-biografisch überformt – so wie dies in der Regel bei historischen Zusammenfassungen der Fall ist. Andere werden hier vielleicht zu anderen Auswahlentscheidungen und historischen Gewichtungen kommen.

Die Ausführungen werden bis in die aktuelle Gegenwart reichen und des Weiteren eine Perspektive auf mögliche bzw. notwendige Widerstandsformen gegen zukünftige Technologieentwicklungen eröffnen. So kann Geschichte, mit Ist-Analyse und Zukunftsforschung zumindest in Ansätzen miteinander verbunden werden.

Historische Neuordnungsversuche nach dem Zweiten Weltkrieg

Das Ende des Zweiten Weltkriegs leitete den Aufstieg der USA als Weltmacht ein. Eine Zeit lang konnte man die USA nach dem Zusammenbruch des sowjetkommunistischen Systems und dem Wegfall der Systemkonkurrenz zwischen USA und UDSSR sogar als Welthegemon ansehen. Allerdings fällt es schwer, hier von einem systemischen Umbruch zu sprechen, da sich letztendlich der Weltkapitalismus in seine nächste – neoliberale – Entwicklungsphase ausdehnte.

Zumindest war die Nachkriegszeit in den westlichen Staaten durch eine tendenzielle Abwendung von faschistischen Strukturen und durch die Installierung von Systemen mit demokratischem Anspruch im Rahmen kapitalistischer Demokratien gekennzeichnet. Hierbei ist zwar bis heute ein deutlicher Unterschied zwischen dem demokratischen Verfassungsanspruch und der Verfassungsrealität in diesen Staaten zu analysieren, dennoch entstanden erhebliche systemische Spielräume für das zivilgesellschaftliche Engagement der vom Faschismus befreiten Bürger_innen.

Gleichzeitig waren die meisten Befreiungsbewegungen in Afrika erfolgreich. Die Entkolonialisierung Afrikas schritt voran. Entsprechende Befreiungskämpfe und postkoloniale Widerstandsbewegungen konnten jedoch bislang nur zu einer sehr unterschiedlichen Umsetzung einer gerechten, demokratischen und einer ökologisch vertretbaren Neuordnung in den verschiedenen afrikanischen Staaten führen. Auch die 2002 gegründete Afrikanische Union (AU) besitzt noch nicht das Niveau einer tragfähigen und wirkmächtigen transnationalen Organisation.

Gesondert zu betrachten ist allerdings die südafrikanische Befreiungsbewegung, der es Anfang der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts durch massiven innenpolitischen und außenpolitischen Druck gelang, das menschenfeindliche System der Apartheid zu überwinden. Trotz der polizeistaatlichen Unterdrückung in Südafrika sowie zahlreicher Opfer unter der farbigen Bevölkerung gelang es nach dem Fall des Apartheid-Regimes unter der Führung Nelson Mandelas, ein Blutbad unter der weißen Bevölkerung Südafrikas zu verhindern. Insbesondere die Wahrheits- und Versöhnungskommission, in deren Verhandlungen sich Opfer und Täter begegneten, ihre leidvolle Geschichte aufarbeiteten, Traumata bewältigten und sich die Täter oftmals unter Tränen bei den Opfern für das von ihnen angerichtete Leid entschuldigten, sind hier positiv hervorzuheben. Die Arbeit der südafrikanischen ‚Truth and Reconciliation Commission‘ (TRC) stellt in dieser Form eine bisher weltweit einmalige Erfahrung dar, mit über Generationen angesammeltem Leid und aufgestautem Hass in Richtung auf eine gesellschaftliche Versöhnung so umzugehen, dass nicht noch mehr Hass entsteht. Durch diese institutionalisierte Form gesellschaftlicher Versöhnungsarbeit steigt die Wahrscheinlichkeit, dass einst traumatisierte Opfer, ihre Feindbilder auflösen und nicht selbst wieder zu Tätern werden. (1)

Die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs mit über 60 Millionen Toten führte zu einem wieder gestärkten Bestreben nach internationaler Verständigung und Kriegsprävention. So führte die Wiederaufnahme internationaler Absprachen und Regulierungen über die Gründung der Vereinten Nationen (Oktober 1945) zu einem Niveau multilateraler Verständigung, das über die Bemühungen des nach dem ersten Weltkrieg begründeten und letztlich gescheiterten Völkerbundes hinausging. Die United Nations Organization (UNO) befindet sich allerdings trotz einiger zwischenzeitlicher Erfolge derzeit aufgrund der Rückkehr national-chauvinistischen Großmachtdenkens (u.a. Trump!) in einer existenziellen Krise, so dass sie ohne entscheidende strukturelle Änderungen ihre in der UN-Charta fixierten Ziele nicht zufriedenstellend erreichen kann. Wenn sich im UN-Sicherheitsrat die ständigen Mitglieder aufgrund ihres Veto-Rechts im Sinne eigener nationalstaatlicher Interessen durchsetzen können sowie kein demokratisch gewähltes UN-Parlament vorhanden ist, werden die UN ihr Versprechen einer internationalen Völkerverständigung nicht einhalten können.

In den letzten 50-60 Jahren gab es des Weiteren den Versuch mehrerer kultureller Umbrüche in verschiedenen Weltregionen. Die 68er-Generation hat sich im siebten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts vorwiegend in den westlichen Staaten gegen die etablierten Generationen ihrer Eltern und Großeltern durchaus erfolgreich gewehrt, gegen überholte oder normativ abzulehnende Traditionen, gegen den Vietnam-Krieg, gegen die strukturellen Überreste des Faschismus und gegen undemokratische Strukturen. Die institutionelle Reformarbeit der hieran beteiligten Generation hat das gesellschaftliche Klima und die Freiheits- und Menschenrechte in vielen Ländern erheblich verbessert. Dies kann für diesen Zeitraum allerdings nur für die westlichen Staaten gelten; in den sowjetkommunistisch dominierten Staaten wurde ein kultureller Umbruch mit Panzern und Gewehren zur gleichen Zeit verhindert. Der Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in der ehemaligen Tschechoslowakei und die Zerstörung des ‚Prager Frühlings‘ im Sommer 1968 stehen exemplarisch hierfür.

Kulturelle Umbrüche in China

In China kam es nach dem 2. Weltkrieg zu zahlreichen kulturellen Veränderungen. Doch was zunächst als Befreiungsbewegung begonnen hatte, entpuppte sich bald als diktatorische Herrschaftsform mit Millionen von Toten durch Fehlwirtschaft und Unterdrückung. Hierbei bildeten die durch Mao Tse-Tung initiierten Kampagnen und Kulturrevolutionen einen traurigen und grausamen Höhepunkt gesellschaftlicher Fehlentwicklung und fehlender Rechtsstaatlichkeit. Besonders die von ihm im Zeitraum von 1957-1962 angestrebte Entwicklung des ‚Großen Sprungs nach vorn‘ führte zu dramatischen Versorgungsengpässen und Hungersnöten mit bis zu 45 Millionen Toten. Die meisten Menschen verhungerten aufgrund der durch Mao angestoßenen Fehlwirtschaft, ungefähr 2,5 Millionen Menschen wurden umgebracht. Vier Jahre später entfaltete dann die von Mao ausgerufene ‚Große proletarische Kulturrevolution‘ ihre Zerstörungsdynamik mit Hunderttausenden weiterer Opfer, Millionen zerstörter Existenzen sowie einem gravierenden gesellschaftlichen Rückschritt in der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung Chinas. (2)

Der Ausweg aus dieser Situation führte China auf einen langen Weg gesellschaftlicher Modernisierung, der eine eigene Prägung im Wechselspiel einer Ein-Parteien-Diktatur, Mechanismen sozialistischer Planwirtschaft, kapitalistischer Marktöffnung mit nur geringen sozialen Absicherungen, massiver Korruption sowie konfuzianistischer Unterwerfung unter diese Verhältnisse darstellte. Ein kollektives Aufbegehren gegen diese Verhältnisse – vor allem von Seiten der jüngeren Generation – wurde bisher mit gewalttätiger Unterdrückung im Keim erstickt. Das bekannteste Beispiel stellt die militärische Niederschlagung der friedlichen Demonstrationen für Bürgerrechte und Demokratie auf dem ‚Platz des himmlischen Friedens‘ dar. Die chinesische Bürgerrechtsbewegung wurde 1989 mit Massakern auf dem Tian’anmen-Platz in Beijing weitgehend beendet und konnte seitdem nicht mehr wieder in diesem Umfang aktiv werden. Allenfalls in dem mit einem Sonderstatus versehenen Hongkong gelang es hin und wieder noch, durch Massendemonstrationen obrigkeitsstaatliche Übergriffe zu vermeiden, z.B. hinsichtlich des 2019 vorgesehenen Auslieferungsgesetzes. Hier schafften es bislang Demonstrationen und Kundgebungen mit jeweils mehr als eine Millionen Menschen, die Hongkonger Regierungsspitze zum Einlenken zu bewegen. Das Ziel ist allerdings weniger ein kultureller Umbruch, sondern der Erhalt der bisherigen politischen und ökonomischen Möglichkeiten der Enklave Hongkong. Wie dieser Konflikt ausgehen wird, ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch offen, da aufgrund der Corona-Epidemie die Massenproteste unterbrochen sind.

Trotz dieser zahlreichen Krisen und auch der selbst verursachten Probleme gelang es China jedoch, über eine Mischung aus Kapitalismus, Ein-Parteien-Herrschaft und zentralstaatlicher Wirtschaftsplanung einen Weg zu finden, bei dem das chinesische Durchschnittseinkommen deutlich anstieg und die Hungerproblematik besiegt wurde. Auch außenpolitisch und hinsichtlich einer globalen Wirtschaftspolitik weist China erhebliche Erfolge auf. Das chinesische Seidenstraßen-Projekt ist Ausdruck einer global ausgerichteten wirtschaftlichen Expansion Chinas. Gleichzeitig gelingt es China jedoch noch nicht, entstandene soziale Ungleichheiten zu beseitigen, demokratische Strukturen zu ermöglichen und die Menschenrechtssituation weiterhin zu verbessern. (3)

Weitere historische Beispiele eines kulturellen Umbruchs

Der größte kulturelle Umbruch nach dem zweiten Weltkrieg fand Ende der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts statt: Der Zusammenbruch des sowjetkommunistischen Systems, das durch die Ressourcen verschlingende Hochrüstung, durch Militäreinsätze, z.B. in Afghanistan, durch die technokratische Rigidität seiner ökonomischen Strukturen, aufgrund der unbefriedigten Konsumwünsche seiner Bürger sowie der fehlenden Gewährung von menschenrechtlich verbürgten Freiheiten, verstärkt durch westliche Propaganda, zu Fall gebracht wurde. Bürgerlichen Freiheitsbewegungen gelang es mit friedlichen Mitteln, den Druck zu verstärken, der ohnehin auf dem sowjetkommunistischen System lag. Allerdings gelang es den gesellschaftlichen Bewegungen nicht – auch aufgrund externer Einflussnahmen – eine neue Ordnung zu finden, die qualitativ über einen rüden und oftmals auch korrupten Kapitalismus und über nur in Ansätzen verwirklichte Demokratiestrukturen (‚Fassadendemokratie‘) in den meisten postsowjetischen Staaten hinausging. Eine besondere Variante hierbei ist das Hervortreten rechtsextremistischer und äußerst nationalistisch eingestellter Gruppierungen gerade in vielen postkommunistischen Ländern.

Ein weiterer Versuch eines kulturellen Umbruchs spielte sich im arabischen Raum ab. Der ‚arabische Frühling‘ mit seinen Protestbewegungen und Transformationen führte jedoch nicht zu einer politischen Neuordnung in den arabischen Staaten, die durch ein mehr an Demokratie und stabiler Rechtsstaatlichkeit gekennzeichnet ist. Es entstanden entweder neue Autokratien oder in den globalen Peripherien eher instabile Staaten, die offen für organisierte islamistische Beeinflussung waren. Manche Staaten verkamen sogar zu ‚Failed States‘, die sich im offenen Bürgerkrieg befinden, in denen sich Reste staatlicher Instanzen und Militäreinheiten mit Warlords und Banden sowie Einfluss suchenden Regionalmächten, wie z.B. Saudi Arabien, Iran, die Vereinigten Emirate, oder auch in Verbindung mit den USA und Russland militärisch bekämpfen, ohne dass es daher gelingt, ein staatliches Gewaltmonopol im Kontext demokratischer und rechtsstaatlicher Strukturen zu erreichen.

Der Versuch eines kulturellen Umbruchs und einer gesellschaftlichen Neuordnung in Venezuela scheiterte zum einen am eigenen Unvermögen der Regierenden, deren massiver Korruption und Selbstbereicherung, an einer fehlenden, für die Mehrheit der Bevölkerung akzeptablen Utopie für eine sinnvolle demokratische und sozialökologische Neuordnung und zum anderen an den propagandistischen Interventionen, geheimdienstlichen Aktivitäten sowie den Wirtschaftssanktionen von außerhalb. Die Folge war hier eine riesige Protestbewegung im eigenen Land sowie die massenhafte Flucht in die Nachbarstaaten Venezuelas.

In Chile protestieren derzeit die Menschen gegen soziale Ungerechtigkeit, Korruption, steigende Lebenshaltungskosten, geringe Löhne und Renten, eine aus der Militärdiktatur stammende Verfassung sowie gegen Behördenwillkür. Dies findet in einem Land statt, das in den 70er Jahren unter dem demokratisch gewählten Präsidenten Salvadore Allende auf einem demokratischen Weg des sozialen Ausgleichs und der Abkehr von ausländischen Konzerninteressen gewesen war. Dieser Weg wurde im September 1973 vom putschenden Militär in Zusammenarbeit mit dem US-amerikanischen Geheimdienst mit Gewalt beendet. Die Folge war die Installierung eines neoliberalen Wirtschaftsregimes von Seiten des Militärs mit Unterstützung US-amerikanischer Politiker und Wirtschaftswissenschaftler, das ebenfalls nach der Pinochet-Herrschaft von den bürgerlichen Regierungen übernommen wurde. Die Folgen dieser neoliberalen Wirtschafts- und Sozialpolitik sind massive Ausschreitungen und Proteste, von denen man zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht weiß, zu welchen Lösungen sie zukünftig führen werden.

Insgesamt ist der südamerikanische Kontinent aufgrund seiner Abhängigkeit von Rohstoffexporten, des Phänomens des ungleichen Tauschs, der ökonomischen Interessen der industrialisierten Metropolen und der damit verbundenen sozialen Zerklüftung ausgesprochen krisenhaft und instabil. Neben Venezuela und Chile sind es weitere Staaten, wie z.B. Bolivien, Brasilien und Argentinien, in denen Phasen korrupter repräsentativer Demokratien, Militärjuntas und Rebellionen sich abwechseln und die Lebenssituation der Menschen destruktiv prägen. Verzweifelte Menschen rebellieren unter Lebensgefahr oder machen sich auf den Weg in Richtung auf die Vereinigten Staaten, wo ihre Migration wiederum nicht erwünscht ist bzw. vom US-Präsidenten als Gefährdung der Staatssicherheit angesehen wird. An der Stelle einer geregelten Immigration treffen sie auf eine militärisch gesicherte Mauer zur Sicherung der Einheimischenvorrechte in den USA.

Aktuelle Tendenzen eines kulturellen Umbruchs

Trotz der durch die Corona-Krise eingetretenen Pause der internationalen Massenproteste lässt sich feststellen: Die gegenwärtige kulturelle sozialökologische und friedenspolitische Protest- und Erneuerungsbewegung findet nun erstmals weltweit und in fast allen Ländern und Regionen statt. Gründe hierfür sind die planetare Bedrohung durch die eintretende Umweltkatastrophe, die Zuspitzung weltweiter sozialer Ungerechtigkeit sowie die drohende Kriegsgefahr in mehreren Teilen der Welt, die mit Aufrüstung und Kündigung von Abrüstungsverträgen verbunden ist. Insbesondere der neoliberalisierte Kapitalismus scheint an seine Grenzen gekommen zu sein. Er verschlingt mit seinem enormen Naturverbrauch auf der Produzenten- aber auch auf der Konsumentenseite seine eigenen existenziellen Voraussetzungen. Auch wächst die Unzufriedenheit weltweit gegen die gierige Selbstbereicherung der herrschenden Eliten bei gleichzeitigem Verweigern von existenziellen Ressourcen für größere Teile der Weltbevölkerung.

Ein Teil der Weltbevölkerung reagiert mit kultureller und politischer Regression in Form des Zunehmens religiösen Fanatismus, wie z.B. des Evangelikalismus und ultraorthodoxer muslimischer Religionsauslegungen, oder mit antidemokratischer politischer Radikalisierung und nationalchauvinistischer Regression, wie z.B. dem Rechtsextremismus.

Die Massenproteste der ‚Gelbwesten‘ in Frankreich hingegen sind politisch weitaus schwieriger einzuschätzen. Hier haben sich anlässlich einer von der Regierung geplanten Erhöhung der Benzinpreise und der steigenden Lebenshaltungskosten ab Ende 2018 Massenprotestaktionen entwickelt, in denen sich französische Globalisierungsverlierer, insbesondere die unteren Mittelschichten und die Menschen aus abgehängten ländlichen Peripherien zu Medien wirksamen Protesten und Blockaden zusammenschlossen. Dies führte dazu, dass die Regierung einige ‚Reformmaßnahmen‘ zurücknahm. Natürlich sind derartige Protestbewegungen aufgrund ihrer strukturellen Offenheit immer davon bedroht, von politisch extremen Gruppierungen vereinnahmt zu werden.

Parallel hierzu und in Opposition zum politischen Establishment entstand 2018/ 2019 eine immer größer werdende und sich zunehmend weltweit vernetzende zivilgesellschaftliche Bewegung, die den komplexen und bedrohlichen Anforderungen der Globalisierung auf eine anspruchsvollere Weise zu begegnen versucht. Exemplarischer Ausdruck hiervon sind die weltweiten Aktivitäten der Jugendlichen im Rahmen von ‚Fridays for Future‘, bei denen Millionen junge Menschen gegen die zunehmende Zerstörung des Planeten demonstrieren. Wenn es dieser internationalen Bewegung gelingt, den Kontakt zu den ähnlich gestimmten Mitgliedern und Gruppen der älteren Generation aufzunehmen und mit ihnen in eine intergenerative Aktionsgemeinschaft zu treten, dann könnte hier tatsächlich ein längerfristiger Impuls für eine sozialökologische Neuordnung eintreten. Wenn es dieser Bewegung außerdem gelingt, sich weiter zu politisieren, d.h. die Intentionen der Friedensbewegung, der Forderungen nach mehr Demokratie und die Proteste gegen die globale soziale Ungerechtigkeit aufzunehmen und in ihren Widerstand zu integrieren, dann könnte hier ein kultureller Umbruch eintreten, der sich weltweit vollzieht und zu Versuchen der Neuordnung in internationaler, aber auch regionaler und lokaler Hinsicht führen könnte, deren Tragweite über den kulturellen Umbruch durch die 1968er-Generation hinausgeht.

Voraussetzung hierfür ist, dass es zu entsprechenden Wahlergebnissen, Regierungswechseln und einer Verbindung aus öffentlichem zivilgesellschaftlichen Druck und einer Mitarbeit in den demokratisch eingestellten Parteien kommt.

Hierbei ist ein weiteres Augenmerk auch auf die sehr aktive Bewegung ‚Extinction Rebellion‘ (XR) zu legen. Diese internationale Gruppierung ebenfalls vorwiegend junger Menschen, oftmals Studenten_innen, die aber auch von Personen anderer Generationen verstärkt wird, weist ähnliche ökologische Ziele wie F4F auf. XR ist allerdings wesentlich organisierter und entschiedener in den Klima-Aktionen. Obwohl sie sich phantasievoll mit kreativen Methoden für gewaltfreien Widerstand gegen die Klimapolitik einsetzen, bleibt abzuwarten, inwieweit sie dies durchhalten können – zumal, wenn der Staat repressiver mit dem Blick auf Straßensperren, Platzbesetzungen, Die-In‘s und Eingangsblockaden reagiert.

In den USA, in Kanada, Nigeria, Brasilien oder Australien beginnen sich die indigenen Völker gegen die ökologische Zerstörung ihrer Lebenswelt auf jede erdenkliche Weise zu wehren. Der Zugriff der Fossilindustrie auf ihre natürliche Umwelt und auch damit auf ihre Lebensweise bedroht sie in ihrer Existenz. Die indigenen Völker bestehen zum Teil auf der Einhaltung von Verträgen, die ihnen eine Unversehrtheit des Gebiets und die Erhaltung ihrer Lebensweise garantieren. Internationale Konzerne versuchen in ihren Lebenswelten ölhaltigen Teersand zu fördern, Kohletagebau zu betreiben und Wüsten zu hinterlassen, mit Fracking das Grundwasser zu vergiften, große Gebiete durch Brandrodung zu entwalden oder gefährliche Öl-Pipelines durch das indigene Gebiet zu legen. Die Stämme, Dörfer und Gemeinschaften wehren sich u.a. mit Klagen, Blockaden, Öffentlichkeitsarbeit, Ritualen und Massenprotesten. Der Widerstand der indigenen Völker ist somit ein Teil des ökologischen Widerstands und sollte in der Klima- und Umweltschutz-Bewegung noch größere Beachtung finden, als dies bisher der Fall ist. (4)

Immer wieder kommt es auch zu internationalen Widerstandsbewegungen, die ihre Kritik auf die Ungerechtigkeit von Globalisierungsstrukturen richten, wie z.B. die ‚Battle of Seattle‘ oder die von den USA ausgehende Bewegung ‚Occupy Wall Street‘. Auch sich allmählich professionalisierende, aus der Friedensbewegung hervorgehende Nichtregierungsorganisationen (non-governmental Organizations, NGO’s) geben Anlass für eine optimistischere Einschätzung einer mehrperspektivischen Widerstandskultur im internationalen Kontext. Exemplarisch hierfür sind die NGO’s International Campaign to Abolish Nuclear Weapons (ICAN), Global Partnership for the Prevention of Armed Conflicts (GPPAC) und Peace Brigades (PB) zu nennen.

Des Weiteren sind ausgesprochen konstruktive Widerstandsformen eines anders organisierten und gelebten Lebens zu thematisieren. Tausende Ökodörfer und gemeinwohlorientierte Lebensgemeinschaften zeigen, wie eine solidarische Ökonomie, Engagement für den Frieden und eine ökologische Lebensweise möglich sind. Allein das ‚Global Ecovillage Network‘ (GEN) umfasst 10.000 Ökodörfer.

Der Widerstand wächst weltweit. Er richtet sich gegen die gewaltige Naturzerstörung, gegen die von ungebremster Gier getriebene ökonomische Ausbeutung der Menschen sowie gegen den irrationalen Rüstungswahnsinn. Er richtet sich gegen die Unfähigkeit bzw. Unwilligkeit der herrschenden ‚Eliten‘, zu gemeinsamen Friedensgesprächen, zum Teilen des gesellschaftlichen Wohlstands, zu einer nachhaltigen Klimapolitik, zu einem Verzicht auf Feindbilder sowie zu entsprechenden Abrüstungsvereinbarungen zu kommen.

Es ist die Frage, wann die ‚kritische gesellschaftliche Masse‘ erreicht ist, die dafür notwendig ist, dass es zu einem systemischen Umbruch und zu einer entsprechenden Zähmung bzw. Transformation des Weltkapitalismus hin zu einer sozialökologischen Neuordnung kommt.

Zukünftige Technologieentwicklungen als Zielpunkte künftigen Widerstands?

Bisherige Widerstandsbewegungen richteten sich insbesondere gegen Umweltzerstörung, gegen Kriegstreiberei und Aufrüstung oder gegen gesellschaftliche Ungerechtigkeiten, wie z.B. der Verlust von Arbeitsplätzen oder die ungerechte Vermögensverteilung. Der Protest gegen Arbeitsplatzverluste wird nun eine neue Dimension durch die sich beschleunigende Entwicklung von Zukunftstechnologien bekommen.

Der zu erwartende Sprung in der Technologieentwicklung ist bereits angesetzt und dürfte in einer Kombination von digitalen Technologien und Biotechnologien bestehen. Diese Technologieentwicklung ist u.a. durch Genmanipulation, Künstliche Intelligenz, Robotik, integrierte Netzwerke von Menschen und Algorithmen, Chip-Implementation, Blockchain und Kryptowährungen, digitale Beschleunigung von Informationsflüssen, digitale Automatisierung und maschinelles Lernen gekennzeichnet. Hierbei ergibt sich eine doppelte Problematik: Zum einen wird der Mensch in seinem Wesenskern durch Genmanipulation, invasive Chiptechniken oder die Integration in durch Algorithmen gesteuerte neuronale Netzwerke verändert. Andererseits entfällt ein Großteil der vorhandenen Arbeitsplätze, ohne dass die meisten hiervon betroffenen Menschen zunächst die Qualifikationen haben, in die neue Arbeitswelt zu wechseln.

Der Historiker Yuval Noah Harari, der in der Lage ist, weit in die Zukunft zu denken, sieht hierin eine gegenüber früheren Protestbewegungen gewandelte Problematik:

„Möglicherweise werden populistische Revolten im 21. Jahrhundert nicht gegen eine Wirtschaftselite aufbegehren, welche die Menschen ausbeutet, sondern gegen eine solche, welche die Menschen schlicht nicht mehr braucht. Kann gut sein, dass die Menschen diese Schlacht verlieren. Denn es ist viel schwerer, gegen Bedeutungslosigkeit zu kämpfen als gegen Ausbeutung.“ (6)

Der Widerstand müsste sich m.E. dagegen richten, die Technologieentwicklung unkontrolliert dem Weltkapitalismus zu überlassen. Es geht nicht um eine postmoderne Maschinenstürmerei, sondern um die ethisch geleitete und zivilgesellschaftlich verstärkte staatliche Kontrolle technologischer Entwicklungen. Es geht darum, nicht jede Entwicklung vorzunehmen, weil sie machbar, vermarktbar ist und Rendite abwirft. Es sollten nur technologische Entwicklungen gefördert und geduldet werden, die einerseits die Menschenwürde respektieren und andererseits tatsächlich eine Erleichterung für den Menschen und eine Verbesserung von Arbeitsbedingungen mit sich bringen. Insbesondere die Gewerkschaftsbewegung ist hier in der kontrollierenden Zusammenarbeit zwischen Staat und Arbeitnehmern_innen gefordert. Insbesondere ist die Phase technologischer Transformation zu entschleunigen, um den Arbeitnehmern_innen, dort wo die Technologieentwicklung sinnvoll ist, Zeit für den Erwerb neuer Fähigkeiten zu lassen. Und: Ein Arbeitsplatz, der den Menschen als sich entfaltenden und verwirklichenden Menschen wahrnimmt, darf nicht durch Künstliche Intelligenz und digitale Automatisierung ersetzt werden.

Die Notwendigkeit einer positiven Vision

Was bislang fehlt sind konzeptionelle Ausarbeitungen, die eine positive Vision gesellschaftlicher Entwicklung mit den notwendigen abgestuften Schritten zu einer weltweiten Erneuerungsbewegung verbinden. (5)

Die historische Entwicklung kultureller Umbrüche zeigt, dass eine solche gesellschaftliche Entwicklung nur für einen längeren Zeitraum erfolgreich sein kann, wenn das Ziel tatsächlich in einer gut durchdachten gesellschaftspolitischen Vision begründet liegt. Hier soll dafür plädiert werden, dass diese Vision ein gesellschaftspolitisches Modell beinhaltet, das demokratisch, internationalistisch, gemeinwohlorientiert und sozialökologisch ausgerichtet ist und die kulturellen Leistungen der Aufklärung zum Ausgangspunkt einer bisher in Ansätzen stecken gebliebenen Neuordnung werden lässt. Vielleicht hat die Aufklärung, meines Erachtens bisher die größte Kulturleistung der Menschheitsgeschichte, bislang nur eine Minderheit der Menschheit erreicht. Noch wird eine erweiterte Aufklärung massiv durch verschiedene Religionen, durch fehlendes Bewusstsein sowie einen neoliberal ausgeprägten Raubtierkapitalismus in ihrer Entfaltung blockiert. Auch konnte beispielsweise Immanuel Kant die Ökologie-Problematik, die digitale Entwicklung und die Anfälligkeit der Instrumentalisierung seiner Gedanken für den damals aufkommenden Kapitalismus noch nicht übersehen. Eine zweite Welle der Aufklärung, die von den blinden Stellen der ersten Aufklärung gelernt hat, und konsequente Maßnahmen zu einer globalen Neuordnung auf der Grundlage einer einschneidenden sozialökologischen Orientierung sind notwendig, wenn die Menschheit auf einem lebenswerten Niveau überleben möchte.

Hierbei ist auch immer wieder die Frage zu klären, wie ohne den Einsatz von Gewalt gegen Menschen und Sachen eine andere Qualität des Widerstands und des Einsatzes für eine gesellschaftliche Transformation im globalen Kontext geleistet werden kann. Die Form des Widerstands und auch die postkonflikthaften Prozesse einer kollektiven Verarbeitung müssen die Werte in sich berücksichtigen, die auch als strukturprägend für die zukünftige Gestaltung der globalen Gemeinschaft gewünscht werden.

Anmerkungen:

(1) Dies bedeutet nicht, dass die Arbeit der TCR von allen Südafrikanern unterstützt wurde. Natürlich war ihre Tätigkeit, die von der reinen Bestrafung der Täter abwich, in der südafrikanischen Gesellschaft umstritten. Dennoch hatte die Tätigkeit der TCR positive Auswirkungen auf die bis heute noch schwierige gesellschaftspolitische Situation in Südafrika, vgl. Gobodo-Madikizela (2006).

(2) Zank (2012).

(3) z.B. ausführlicher bei Crome (2019).

(4) zum Widerstand der indigenen Völker gegen die Fossilindustrie u.a. Klein (2019, 457ff.).

(5) Ein Versuch zur Entwicklung einer tragfähigen positiven Vision wurde - ausgehend von einer kritischen Analyse der globalen Situation - bei Moegling (2019) unternommen.

(6) Harari (2019, 30).

Literatur:

Gobodo-Madikizela, Pumla (2006): Trauma und Versöhnung. Lehren aus Südafrika. In: http://www.bpb.de/apuz/29479/trauma-und-versoehnung-lehren-aus-suedafrika, 9.10.2006, 3.11.2019.

Crome, Erhard (2019): China in einer multipolaren Welt. In: Henken, Lühr (Hrsg.) (2019): a.a.O., 54-69.

Harari, Yuval Noah (2019): 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert. München: C.H. Beck.

Henken, Lühr (Hrsg.) (2019): Verunsicherungen trotzen. Konfliktanalysen und Lösungsansätze aus der Friedensbewegung. Kassel: Verlag Winfried Jenior.

Klein, Naomi (2019): Die Entscheidung. Kapitalismus vs. Klima. Frankfurt/ M.: Fischer Taschenbuch.

Moegling, Klaus (2019): Neuordnung. Eine friedliche und nachhaltig entwickelte Welt ist (noch) möglich. Opladen, Berlin, Toronto: Verlag Barbara Budrich.

Zank, Wolfgang (2022): Maos blutige Ernte. In: https://www.zeit.de/2012/17/Riesenreich-China, 9.4.2012, 16.11.2019.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Klaus Moegling

apl. Prof. Dr. habil. i.R., Pol.wiss. u. Soziologe, Autor von 'Neuordnung', https://www.klaus-moegling.de/aktuelle-auflage-neuordnung/

Klaus Moegling

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